Am Erker 77

Heinrich Steinfest: Der schlaflose Cheng

James Sallis: Willnot

Don Winslow: Jahre des Jägers

Sara Gran: Das Ende der Lügen

Elisabeth Herrmann: Schatten der Toten

Frank Göhre, Alf Mayer: King of Cool. Die Elmore Leonard Story

 
Mord & Totschlag 77
Die Krimi-Kolumne von Joachim Feldmann
 

Ausgeklügelte Rachegeschichten gehören seit langem zum Inventar des zeitgenössischen Thrillers. Je perfider der Plan, desto besser. In einem vor einigen Jahren erschienenen, sehr erfolgreichen dänischen Reißer beispielsweise kommt eine überdimensionierte Druckkammer zum Einsatz, die dem darin eingesperrten Opfer einen grausamen Tod bescheren soll. Obwohl dessen vermeintliche Schuld schon Jahrzehnte zurückliegt, muss Vergeltung geübt werden.
Wenn also Heinrich Steinfest, der große Manierist unter den deutschsprachigen Spannungsautoren, eine kühn konstruierte und selbstverständlich etwas windschiefe Sühnestory im Handlungszentrum seines neuen Romans um den einarmigen Detektiv Cheng platziert, gelingt ihm mehr als die bloße Parodie einer auch ohne sein Zutun immer lächerlicher werdenden Genrekonvention. Hier wird ein ganzes Arsenal populärliterarischer Motive aufpoliert und neu arrangiert. Cheng, so heißt es an einer Stelle, war "die Welt mitunter eine schräge Planke". Da ist es nur folgerichtig, wenn in diesem Roman so allerhand ins Rutschen kommt. Und das zu unserem großen Vergnügen.
Weniger verspielt und radikaler im Ansatz behandelt Sara Gran lieb gewonnene Krimigewissheiten. Ihre Romane um die genialisch-somnambule Ermittlerin Claire DeWitt sind Dekonstruktion und Hommage zugleich. Vieles wird behauptet, wenig erklärt. Doch die Zeichen sind da, werden entschlüsselt und führen zu einem Ergebnis, so dass die "beste Detektivin der Welt" für einen kurzen Moment etwas wie Glück verspürt. Das müssen wir ihr glauben, auch wenn wir es nicht verstehen können. Auf eine pseudologische Beweisführung, seit Poes Doppelmord in der Rue Morgue fester Bestandteil des klassischen Detektivromans, wird verzichtet. Sara Grans Beitrag zum Genre ist reine Literatur und damit auf ironische Weise vielleicht näher an der Wirklichkeit als manch zeitgenössischer, dem "populären Realismus" (Moritz Baßler) verpflichteter Kriminalroman.
Dass James Sallis' Willnot sich dieser Zuschreibung entzieht, dürfte nach Lektüre der ersten dreißig Seiten klar sein, obwohl der Roman klassisch mit einem Leichenfund beginnt. Denn schon bald hält der Alltag Einzug: Lamar Hale, Hauptfigur und Ich-Erzähler der Provinzstudie, ist der Arzt am Ort und darf sich um die körperlichen Leiden der Lebenden kümmern, vom Darmverschluss bis zum Karpaltunnelsyndrom. Dass Hale selbst eine außergewöhnliche Krankengeschichte hinter sich hat, die sein Verhältnis zur Realität ebenso bestimmt wie der Umstand, dass sein Vater ein bekannter Science-Fiction-Schriftsteller war, sorgt auf diskrete Weise für den philosophischen Mehrwert des Romans. Kriminalliterarische Elemente sind präsent, verbleiben aber weitgehend im Hintergrund, bis es gegen Ende zu einem dann überraschenden Ausbruch von Gewalt kommt. Wer Klärung erhofft, wird auch hier enttäuscht werden, doch lässt man sich auf Willnot ein, wird man auf andere Weise entschädigt. James Sallis' vielschichtiges Erzählexperiment zeugt von der Liebe zur Literatur. Und, aller Finsternis zum Trotz, von einer großen Menschenfreundlichkeit.
Im Falle Don Winslows scheint Zorn ein vorherrschendes Schreibmotiv zu sein. Zorn über die verheerende Drogenpolitik der USA, die in Lateinamerika zu kriegerischen Auseinandersetzungen mit unzähligen Toten geführt hat, ohne dass das Suchtproblem im Norden geringer geworden wäre. Selbst auf die Legalisierung von Cannabis in manchen Staaten wussten die mexikanischen Kartelle mit einer Produktdiversifikation zu reagieren und überschwemmten den Markt mit billigem Heroin. Nachlesen kann man das im letzten Band von Winslows Trilogie um den Drogenfahnder Art Keller, der den Kampf gegen den organisierten Handel mit illegalen Rauschmitteln zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat und zunehmend Zweifel an der offiziellen Linie entwickelte. Als in den USA ein neuer Präsident gewählt wird - Parallelen zu realen politischen Ereignissen sind wohl beabsichtigt -, dessen Geschäftsbeziehungen bis zu dubiosen mexikanischen Banken mit Verbindung zur Drogenmafia reichen, bekommt Keller, inzwischen zum Leiter der Drogenbehörde DEA aufgestiegen, zunehmend Schwierigkeiten. Doch das ist nur einer der Erzählstränge in Winslows ziegelsteinstarkem Epos Jahre des Jägers. Von den Kartellbossen und ihren blutigen Auseinandersetzungen um Marktanteile bis hin zum Schicksal der Süchtigen auf den Großstadtstraßen der USA erstreckt sich die Handlung dieses Romans, der auch vor einer gehörigen Portion Sensationalismus nicht zurückschreckt. Don Winslow weiß, wie er sein Lesepublikum bei der Stange hält. Das ist Aufklärungsliteratur par excellence, als ästhetisches Modell offenbar noch lange nicht überholt.
Von politischer Brisanz sind auch die Themen, mit denen sich Judith Kepler auseinandersetzen muss. Das ergibt sich schon aus ihrer Biografie, die eng mit der deutsch-deutschen Geschichte verwoben ist. In Schatten der Toten verstrickt Elisabeth Herrmann ihre Heldin zum dritten Mal in ein gefährliches Netz aus Geheimdienstintrigen und schlichten kriminellen Machenschaften. Rasant entwickelt sich die Handlung bis zum Finale in Odessa, wo Judith Kepler noch einmal mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird. Dass sie dabei ihr Leben riskiert, gehört zum Konzept dieses routiniert spannend erzählten Thrillers. Und ebenso, dass sie mit einem Happy End belohnt wird. Interessanter war die Figur allerdings, als man noch nicht so viel von ihr wusste.
Überhaupt sollte man sich als Autor bei der detaillierten Beschreibung seines Personals zurückhalten. Das meinte zumindest Elmore Leonard, dessen vierundvierzig Romane und mehr als fünfzig Kurzgeschichten zu den Klassikern gleich mehrerer Genres gehören. Leonard schrieb Western, Gangsterromane und manch anderes, das sich keiner Kategorie zuordnen lässt. Unverwechselbar allerdings ist sein Erzählstil - lakonisch, dialogorientiert und pointiert. Seine Plots sind nicht übermäßig kompliziert, aber clever, und seine Themen universell: Geldgier, Eitelkeit und Dummheit. Aber auch das Bedürfnis, in einer schwierigen Situation das Richtige zu tun. Deshalb ist Elmore Leonard, ähnlich wie Georges Simenon, ein Autor für alle Gelegenheiten. Man sollte immer einen Vorrat seiner Romane im Hause haben. Und natürlich, als eine Art Wegweiser durch das Werk, die just erschienene Liebeserklärung von Frank Göhre und Alf Mayer. King of Cool ist weder Bio- noch Monografie, sondern eine literarische Annäherung an ein Lebenswerk. Es wird viel zitiert und viel erzählt, und ohne das Quellenverzeichnis am Ende würde man gar nicht merken, wo das eine aufhört und das andere beginnt. Und immer wieder möchte man die Lektüre unterbrechen, um einen der Romane zu lesen oder einen der Filme zu sehen, für die Leonard das Drehbuch geschrieben oder die Vorlage geliefert hat. So soll es sein.

 

Heinrich Steinfest: Der schlaflose Cheng. Sein neuer Fall. 283 Seiten. Piper. München 2019. € 16,00.

Sara Gran: Das Ende der Lügen. Kriminalroman. Aus dem Amerikanischen von Eva Bonné. 352 Seiten. Heyne Hardcore. München 2019. € 16,00.

James Sallis: Willnot. Roman. Aus dem Englischen von Jürgen Bürger und Kathrin Bielefeld. 223 Seiten. Liebeskind. München 2019. € 20,00.

Don Winslow: Jahre des Jägers. Roman. Aus dem amerikanischen Englisch von Conny Lösch. 992 Seiten. Droemer. München 2019. € 26,00.

Elisabeth Herrmann: Schatten der Toten. Thriller. 672 Seiten. Goldmann. München 2019. € 15,00.

Frank Göhre, Alf Mayer: King of Cool. Die Elmore-Leonard Story. 240 Seiten. Culturbooks. Hamburg 2019. € 15,00.