Am Erker 51

Marion Poschmann: Baden bei Gewitter (2002)

Marion Poschmann: Schwarzweißroman (2005)

Marion Poschmann: Grund zu Schafen

Marion Poschmann: Verschlossene Kammern

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Marion Poschmann
Frankfurter Verlagsanstalt
zu Klampen

 
Marion Poschmann

Im Gespräch mit Marcus Jensen

Am Erker 51, Münster, Mai 2006
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"Gerade das Unterbewusstsein hat großen Witz"

Marion Poschmann, geboren 1969 in Essen, studierte Germanistik, Philosophie und Slawistik in Bonn und Berlin. Lehrtätigkeit im grenzüberschreitenden deutsch-polnischen Schulprojekt ‚Spotkanie‘. 2002 erschien ihr erster Roman Baden bei Gewitter (FVA) sowie ihr erster Gedichtband Verschlossene Kammern (zu Klampen), 2004 der zweite Gedichtband Grund zu Schafen (FVA), der breite Beachtung fand ("eine der größten Hoffnungsträgerinnen der jungen Lyrik"), und 2005 der zweite Roman Schwarzweißroman (FVA), der als Vorabdruck in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschien und ebenfalls eine euphorische Aufnahme in der Kritik erfuhr ("Auf dem Weg zum absoluten Roman"). Marion Poschmann wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit einem Jahresaufenthalt in der Villa Massimo und dem Literaturpreis Ruhrgebiet. Sie lebt in Berlin.

 

Am Erker: Die junge Ich-Erzählerin in deinem Roman Baden bei Gewitter trifft einen etwa fünfzigjährigen schmächtigen Mann, der genauso heißt wie ihr Vater, den sie nie kennen gelernt hatte: Peter Fischer. Sie weiß fast nichts über ihn und muss sich auf alte Erzählungen ihrer Mutter verlassen, die nicht einmal ein Foto von ihm besaß. Sie fragt sich, ob er tatsächlich ihr Vater sein könnte, und dringt in sein Leben ein. Dieser gutmütige Exzentriker wirkt wie eine allbekannte Randfigur und wird doch von dir völlig neu entdeckt, es ist ein geradezu geruchs-intensives Close-up, wie man es selten zu lesen kriegt. Sie belauert ihn in einer Mischung aus Faszination und Grusel. Ging dir das bei deiner Figur selbst so, und was hat dich am meisten an Peter interessiert?

Marion Poschmann: Peter Fischer ist eine ungeheure Nervensäge, er redet ununterbrochen, Reden ist für ihn eine Form der Weltaneignung, er schafft sich mit dem Reden über die Alltagsdinge eine eigene Ordnung, darin nehmen die Kaffeemaschine, die Badeschlappen, die Nahrungsmittel entscheidende Plätze ein, und er versucht, alles, was in diesem Alltag schiefgeht, durch intensives Besprechen wieder zurechtzurücken. Das ist fast eine Form von Sprachmagie, das Verhältnis von Welt und Sprache, von Wirklichkeit und Illusion hat mich daran sehr interessiert. Dieser endlos quatschende Peter ist seinerseits schwerhörig, folglich beansprucht er alle Aufmerksamkeit für sich. Er versucht, sich durch Sprache zum Zentrum seiner Welt zu machen, womit sich aber nur schwer verdecken lässt, dass er eine Randfigur ist, ein gesellschaftlicher Außenseiter. Diese Abweichung von einem geregelten Leben, das Verschrobene und Eigenbrötlerische, die clowneske Tapferkeit, mit der Konventionen unterlaufen und scheinbar wiederhergestellt werden, zeigen, auf welch trügerischem Grund diese Konventionen fußen. Für Peter Fischer ist der Alltag eine Extremsituation. Er scheitert an der Bewältigung einfachster Abläufe, das macht den verdeckten Wahnsinn deutlich, der in unserer Normalität steckt.

Am Erker: Sind Elternverhältnisse für dich biologisch bzw. genetisch dominiert? Wie körperbestimmt ist dein Eltern-Bild?

Marion Poschmann: Natürlich kommt man um das Biologische nicht herum und aus dem eigenen Körper nicht heraus. Insofern empfinde ich die genetische und soziale Herkunft als etwas sehr Entscheidendes, als etwas, das in unserer Gesellschaft nach wie vor enorme Bedeutung hat. Das wird mir in der letzten Zeit immer deutlicher. Vorher habe ich Elternverhältnisse mehr von der psychologischen Seite gesehen. Im Tierreich gibt es ja Fälle, in denen die Prägephase nicht erwartungsgemäß verläuft und Gegenstände, die mit bestimmten Schlüsselreizen ausgestattet sind, als Elternfiguren betrachtet werden. Vergleichbar suchen Menschen sich Personen aus, die in bestimmter Hinsicht Elternfunktionen erfüllen. Darin liegt bei Menschen ein Anschein von Selbstbestimmtheit und Wahlfreiheit, während es gleichzeitig eine Maßnahme ist, einen Mangel auszugleichen, also eine Notmaßnahme. Das alles ist spannend und vielschichtig, letztlich sehe ich Elternverhältnisse aber gar nicht unter materialistischen Aspekten, ich denke, dass Liebe, auch Elternliebe, und alles, was damit einhergeht, etwas ist, das sich durch Biologie nicht erklären lässt.

Am Erker: Peter Fischer, eine wunderbare Figur, geht einem schwer aus dem Kopf. Ob er nun ihr Vater ist oder nicht, ist das Spannungsmoment des Romans. Es gibt ja Dutzende Peter Fischers, die Wahrscheinlichkeit wäre völlig variabel, aber war dir von Anfang an klar, dass die Ich-Erzählerin am Ende die Frage gar nicht mehr entscheiden will und sich zurückzieht?

Marion Poschmann: Mir ging es von Anfang an vor allem darum, was zwischen diesen beiden Figuren, die so unterschiedlich sind und zunächst keine Gemeinsamkeiten zu haben scheinen, vorgeht, wie und ob sie sich näher kommen, ob sie sich gegenseitig beeinflussen, um Themen wie Anziehung und Abstoßung. Die Vaterfrage, die dabei im Hintergrund mitläuft, gibt für diese seltsame Konstellation eine Art Erklärung, ist aber ihrerseits eigentlich recht bizarr, denn wie du sagst, Peter Fischers gibt es viele, und wäre eine junge Frau gezielt auf Vatersuche, würde sie systematischer vorgehen. Für ihr eigenartiges Interesse an gerade diesem Peter Fischer hat sie dadurch aber eine Rechtfertigung, die später nicht mehr so wichtig wird, als sich das Verhältnis etwas gefestigt hat. Beziehungsweise, bei der Vermutung, er könnte ihr Vater sein, bleibt unklar, ob da eher der Wunsch oder nicht doch die Furcht dominiert, denn eine positive Vaterfigur ist er nun nicht gerade. Trotzdem versucht sich die Erzählerin Klarheit zu verschaffen und führt eine klassische Gnorisma-Prüfung durch: Sie bringt einen Gegenstand ins Spiel, der dem Verschollenen gehörte, ein Brillenetui, und testet Peters Reaktion.

Am Erker: Und seine Reaktion könnte alles Mögliche bedeuten. Peter scheint ein geradezu unzerstörbares Leben zu führen, auf bescheidenem Niveau. Er könnte Jahrzehnte so weitermachen. Er schließt seine Wohnung nicht ab, obwohl er ein Messie ist, ein Dinge-Fischer. Seine Tür steht immer offen. Sie, die junge Frau mit "Rauschgoldengel"-Haaren, wäscht ihm einmal die Füße. Umgibst du Peter bewusst mit einer Jesus-Assoziation?

Marion Poschmann: Die Assoziation im Hinblick auf Peter ist beabsichtigt, an einer anderen Stelle gibt es noch einmal eine Christkind-Überblendung, das hat ironische Momente, weil dieser Peter Fischer im alltäglichen Leben ausreichend unheilige Züge eines gierigen, fordernden, ziemlich unerträglichen Säuglings hat. Er kann sich aber auch verwandeln, irgendetwas geht von ihm aus, das die Erzählerin angenehm findet. Das hat mit dieser Offenheit zu tun, dass er sie ohne jeden Vorbehalt in sein Leben hineinlässt, dadurch entsteht eine ungewöhnliche Intimität. Auch der Opfergedanke hat für mich eine Rolle gespielt, Peter als Opfer der so genannten Umstände, als Opfer von Vorurteilen, auch des Lesers. Durch das Jesus-Motiv wollte ich den Fokus ein wenig verlagern, nicht nur die Eigenschaften einer Nervensäge in den Blick bringen, sondern auch etwas wie Wärme, Barmherzigkeit.

Am Erker: Wie ist dein Verhältnis zur religiösen Bilderwelt? In deinem ersten Gedichtband Verschlossene Kammern hast du dich z.B. mit Madonnenporträts beschäftigt.

Marion Poschmann: Ich finde die religiöse Bilderwelt ungeheuer wichtig für die Literatur, weil sich ja letztlich unsere gesamte Kultur darauf stützt. Jede Waschmittelwerbung arbeitet mit dem christlichen Reinheitsgedanken, es ist ein Bilderfundus, der im kollektiven Unbewussten verankert ist, auch wenn sich der Einzelne vom Religiösen distanziert. Bilder sind vielschichtig, man kann sie unterschiedlich auslegen, gleichzeitig wirken sie unmittelbar, man hat mehrere Jahrtausende Kulturgeschichte in einem einzigen Bild, wie endlose Übermalungen, die alle noch durchscheinen.

Am Erker: Du spricht selbst von deiner Faszination für die "unterschwellige Kraft der Sympathie". Sie und Peter tragen ein ähnliches Innenbild mit sich herum: Sie hat nie einen Vater gehabt, und er hat seine Mutter schon als Baby verloren. Anfangs stellt sie Situationen her, in denen er sich verraten könnte, später dominiert aber der Eindruck, sie arbeite sich an dieser Vorstellung ab. Wenn sie emotional angespannt ist, liefert sie eine Flut von Dingbeschreibungen wie zur Panzerung. Wie kamst du auf diese Technik des emotionalen Aushaltens?

Marion Poschmann: Ich würde das nicht unbedingt "Panzerung" nennen, eher im Gegenteil, für mich haben diese Dingbeschreibungen mit "sich aussetzen" zu tun. Es ist eine Art Verräumlichung von Gefühlen, die Ich-Figur verliert ihre Umrisse und geht in der Wahrnehmung auf. Dinge können ja sehr viel über einen Menschen erzählen, die Dingbeschreibungen in Peters Wohnung liefern eine Parallelgeschichte zu dem, was er über sich selbst berichtet, sie sind für mich etwas wie Manifestationen seiner Person, greifbare Charaktermerkmale. Nicht umsonst gibt es eine Flut von Einrichtungsratgebern, die Leute benutzen, wenn sie nicht wissen, wer sie sind, wenn sie "an sich arbeiten". Für mich steht hinter diesen Dingbeschreibungen die Suche nach Identität, die Frage danach, was Identität überhaupt ist. Deshalb kann die Ich-Figur auch nicht einfach Gefühle äußern. Zu sagen: "Ich fühle mich ängstlich" oder "Ich fühle mich glücklich" setzt eigentlich voraus, dass man über eine ausgefeilte Geschichte von sich selbst verfügt, die von der jeweiligen Gefühlssituation dann entsprechend ergänzt wird. Gefühle sind nicht einfach da, man lernt, sie zu haben, und wenn das richtig funktioniert, vereinfachen sie Situationen, weil sie sie zusammenfassen und auf einen ganz bestimmten Eindruck reduzieren. In meinem Roman geht es darum, dass diese Zusammenfassungen weder bei der Erzählerin noch bei Peter Fischer praktiziert werden.

Am Erker: In Baden bei Gewitter fasziniert mich das Thema Berührung. Es gibt auf dreihundert Seiten nur fünf Berührungen zwischen den beiden. Du vermeidest mit einigem Aufwand, dass sie sich die Hand geben. Aber sie legt Peter zwei Groschen Wechselgeld in den Handteller, so, als würde eine Mutter ihrem Sohn Taschengeld austeilen. Einmal weckt sie ihn so, wie man Kinder weckt. Dann dieses biblische Fußwaschen. Es gibt ein Streicheln über den Rücken, bei dem er sich regressiv gegen sie drückt, und zuletzt schenkt er ihr "einen nassen Kinderkuß auf die Wange." Du sparst alle Berührungen aus, in denen sie nicht die Dominierende ist. In dem Buch geht es doch eher um seine Muttersehnsucht als um ihre Vatersuche?

Marion Poschmann: Mein geheimes Motto für diesen Roman ist eine Stelle aus Freuds Aufsatz Das Tabu und die Ambivalenz der Gefühlsregungen: "Personen oder Dinge, die tabu sind, können mit elektrisch geladenen Gegenständen verglichen werden; sie sind der Sitz einer furchtbaren Kraft, welche sich durch Berührung mitteilt und mit unheilvollen Wirkungen entbunden wird, wenn der Organismus, der die Entladung hervorruft, zu schwach ist, ihr zu widerstehen."
Es gibt eine starke Berührungssehnsucht und eben auch ein Berührungstabu, nicht zuletzt deswegen, weil diese beiden Figuren Schwierigkeiten mit ihrer eigenen Kontur haben. Die intensive Beschäftigung mit Dingen hat entsprechend auch Ersatzfunktion. So, wie bei Freud die Dinge, die der König berührt, etwas von der königlichen Aura bekommen, sind hier die Dinge auch erotisch aufgeladen. Peter Fischer ist ja fast unerreichbar störrisch und gleichzeitig hypersensibel, das erzeugt ein bestimmtes Kraftfeld, in das die Ich-Figur hineingezogen wird. Nähe und Distanz stehen bei einer solchen Konstellation natürlich im Zentrum der Aufmerksamkeit, und es entsteht dieses eigenartig spiegelbildliche Verhalten, beide suchen nach Nähe, aber das erweist sich als unglaublich umständlich, weil es sehr vieles gibt, was außerdem berücksichtigt werden muss, zum Beispiel die Kaffeemaschine.

Am Erker: Die Stadt in Baden bei Gewitter ist erkennbar Berlin bzw. Ost-Berlin, es wird jedoch im Text nie genannt, und das Haus und die Bewohner könnten auch im Ruhrpott stehen. Peter wächst eindeutig in West-Berlin auf. Du bist in Essen geboren: Hast du Essener Verhältnisse mit Berlin gemischt? Und wolltest du verhindern, dass man in dem Buch einen Berliner Mietshausroman sieht?

Marion Poschmann: Auf dem Klappentext steht "Berlin", aber für mich ist nicht entscheidend, um welche Stadt es sich handelt. Ich finde auch, der Roman könnte ebenso gut im Ruhrgebiet spielen, im Übrigen haben Berlin und das Ruhrgebiet große Ähnlichkeit für mich, da muss man gar nicht groß absichtlich mischen.
Mir ging es vor allem um die Frage nach "Normalität", und zwar bezogen auf ganz alltägliche Gegebenheiten wie das Wohnumfeld. Wie lebt jemand, wie wohnt jemand, und wodurch schert er aus? Interessanterweise ist ja in Deutschland alles normiert, es gibt für alles Vorgaben, wie man seine Küche einrichtet, wo im Bad das Handtuch hängt, alles steht unter dem Vorzeichen der Funktionalität, und man findet sich in einer fremden Wohnung auch sofort zurecht, weil es schwer ist, von diesem Standard überhaupt abzuweichen. Ob also Berlin oder anderswo, ich fand das Thema "Mietshaus an sich" eigentlich unerschöpflich, auch gesellschaftspolitisch, aber noch mehr phänomenologisch. Letztens hatte ich einen Bildband in der Hand mit Fotografien eines bestimmten Typs von 2-Raum-Plattenbauwohnung, aus der Zeit nach der Wende, immer derselbe Grundriss, immer anders eingerichtet. Der Clou war daran, dass die Wohnungen für eine bestimmte Form modernen Wohnens konzipiert waren, vorgesehen waren Möbel der 1950er Jahre im Bauhaus-Stil, leicht, schmal, ohne ornamentales Beiwerk, platzsparend in den kleinen Zimmern. Bis auf einen Künstler, der auf dem Sperrmüll oder wo auch immer genau diese Art von Möbeln aufgetrieben hatte, waren sämtliche fotografierten Wohnungen mit schweren Sitzgruppen und überladenen Schrankwänden zugestellt, überall Quasten, Rüschen, Nippes, Kronleuchter. Man kann dann sagen, daran zeigen sich die feinen Unterschiede im Sinne von Bourdieu, aber ich finde, daran zeigt sich der Eigensinn der Leute, die sich manchmal mit einer erstaunlichen Widerständigkeit durchs Leben bewegen und sich an einige Vorgaben sklavisch, an andere aber partout gar nicht halten.

Am Erker: In einer Kritik von Michael Braun steht, dass du eine Doktorarbeit über einen Vergleich zwischen Friederike Mayröcker und Francis Bacon geplant hattest, zum Thema "Erkundung gemeinsamer Bildimpulse von Dichtung und Malerei". Warum Friederike Mayröcker? Spürst du da eine innere Verwandtschaft?

Marion Poschmann: Ich habe mich sehr intensiv mit Friederike Mayröckers Werk beschäftigt, besonders Die Abschiede habe ich immer wieder gelesen. Mayröckers Bücher waren für mich eine Offenbarung, etwas völlig Neues, ich habe daran gesehen, was Literatur auch sein kann, wenn man sich vom Linearen, Logischen, Konventionellen entfernt. Ich verdanke ihnen sehr viel, und ich bewundere Mayröckers geistigen Furor, die Unerschrockenheit, die Radikalität.

Am Erker: In jedem deiner Bücher fällt der Wesensbezug zur bildenden Kunst auf. Erwähnt werden Cy Twombly in deinem Gedichtband Grund zu Schafen und El Lissitzky im Schwarzweißroman. Der erste Körperkontakt der Ich-Erzählerin ist der mit dem "lachenden Schwarz", das Schwarz umarmt sie schon im ersten Absatz. Allerdings kann ich dieses Ideal einer gegenstandslosen Kunst, den "Suprematismus" von Malewitsch, angesichts der Sinnlichkeit im Buch nur für einen Nebenaspekt halten. Aber wie siehst du die malerischen Impulse für dein Werk?

Marion Poschmann: Für mich ist die bildende Kunst sehr wichtig. Ich bin eher ein Augenmensch, manche Schriftsteller strukturieren ihre Romane ja akustisch, nach musikalischen Prinzipien, das ist mir völlig fremd, ich arbeite mit Farbvorstellungen, Unschärfen, Überblendungen, also mit Techniken, die aus dem bildnerischen Bereich stammen und die sich auf literarische Verfahren übertragen lassen. Am Suprematismus fand ich das Bestreben interessant, die Schwerkraft aufzuheben und die Welt in einen Schwebezustand zu versetzen. Im Schwarzweißroman spiegelt sich das beispielsweise in der Flugsymbolik, in der Mischung aus Entgrenzungssehnsucht und Hybris, die letztlich auch die gegenstandslose Kunst in der Sowjetunion charakterisiert hat. Einige Künstler dieser Bewegung sind später staatstragende Architekten geworden, die versucht haben, die Ideale der Abstraktheit und des Neuen Menschen von der Kunst in die Staatsrealität zu transportieren, dem Leben künstlerische Vorgaben zu machen. Diese Fragen von Macht und Machbarkeit stellen sich in meinem Roman auch, hier nicht in der Welt der Kunst, sondern der der Technik, aber unter vergleichbaren Vorzeichen.

Am Erker: Deine Beziehung zu Francis Bacon und seinen verzerrten Körperdarstellungen leuchtet mir im Schwarzweißroman sofort ein. In Magnitogorsk findet ja nicht bloß eine Auflösung statt, sondern auch eine Neu-Zusammensetzung der Menschen. Es ist nicht so, dass alles zerfällt, sondern Menschen können auch im Gegenteil monströs sinnlich beschrieben werden, sie leeren sich und sie füllen sich. Hast du ähnlich wie Bacon ein bestimmtes Menschenbild?

Marion Poschmann: Für mich ist bei Bacons Bildern ein Gefühl von Bodenlosigkeit entscheidend, das man als Betrachter zurückbehält. Die Deformationen der Körper verweisen auf innere Deformationen, auf eine grundsätzliche existenzielle Unsicherheit, auch auf etwas Leeres, Unfestgelegtes, das sich der Kontrolle des Individuums entzieht. Man könnte sagen, die Subjektivität ist deswegen eine Herausforderung und manchmal eine Zumutung für die Menschen. Gleichzeitig macht jeder auf seine Weise eine Bewegung auf die Welt, das Sinnliche zu und versucht sich darin einzurichten. Das Erstaunliche ist, dass das meistens ganz gut funktioniert, dass die Vitalität, die jeder zur Verfügung hat, eine ungeheure Kraft ist, eine Fähigkeit, Sterblichkeit und alle damit zusammenhängenden Ängste immer wieder vollkommen zu überdecken.

Am Erker: Im Schwarzweißroman ist das Berührungsthema geradezu umgekehrt. Die Beziehung zu ihrem Vater Anton wirkt spannungsfrei und brüderlich gütig. Ihr Sex mit seinem Vorgesetzten Grave ist allerdings aggressiv und fällt zu grotesken Bildern auseinander. Die Anziehungskraft, die Gravitation zu diesem Kraftmenschen Grave ist offensichtlich. Von den deutschen Ingenieuren hat sich ihr Chef, im grauen Mantel, am weitesten diesem Russland angepasst. Das Ich spricht von den "russischen Sitten" und nennt sie "einen anderen Maßstab des Körperkontaktes". Du warst selbst einige Wochen in Magnitogorsk. Hattest du dort den Eindruck einer anderen Kultur der Körperlichkeit?

Marion Poschmann: Es gibt eine bestimmte angenehme Individualdistanz, die in unterschiedlichen Ländern größer oder geringer ist. In Europa herrscht ein Nord-/Südgefälle, Skandinavier halten größeren Abstand als Menschen, die am Mittelmeer leben. Es gibt darüber Untersuchungen mit genauen Zentimeterangaben, grob hilft man sich mit Einteilungen wie: Abstand einer Armeslänge, bis zum ausgestreckten Ellbogen usw. Beim Training von Geschäftsleuten sind diese Informationen wichtig, weil sich sonst bei Auslandsverhandlungen oft unangenehme Situationen ergeben und die Gruppe mit dem kleineren Abstand den Verhandlungspartner zu bedrängen scheint. In Russland ist ein geringerer Körperabstand als in Deutschland üblich, Berührungen, auch unter Fremden, sind selbstverständlicher.

Am Erker: Genau wie das Ich in Baden bei Gewitter hat das Ich im Schwarzweißroman nichts zu tun, hat "keine Aufgabe", weiß nicht, wohin mit sich. Sie steckt in einem "Biografieloch" nach dem Studium. Ist die Beschäftigungslosigkeit und das Zurückgeworfenwerden auf die Beobachtungsgabe für dich ein Ideal oder eher eine Gefahr?

Marion Poschmann: Was die Ich-Figur in Baden bei Gewitter macht, ob sie einer regelmäßigen Tätigkeit nachgeht oder nicht, bleibt ausgespart. Ich habe mir das lange überlegt, fand es aber schließlich interessanter, eine Erzählfigur zu haben, die nicht durch ihre Berufstätigkeit oder Arbeitslosigkeit oder was auch immer definiert ist, und im Schwarzweißroman bin ich bei dieser Konstellation geblieben, weil es mir auf die Offenheit und Verletzlichkeit, die mit solch einem "Biographieloch" einhergehen, ankam. Von Ideal würde ich daher nicht sprechen, es ist ja auch etwas, das einem schmerzlich fehlt, wenn man ohne diesen Schutzschild der "Persona" lebt, aber literarisch finde ich das nach wie vor eine gute Ausgangslage.

Am Erker: Du hast dich im Studium mit Ästhetiktheorien beschäftigt. In Baden bei Gewitter herrscht für mich eine Strategie des Ausweichens vor, und auch eine Betonung von Materialität, die an Adornos ästhetische Ideale erinnern. Aber Identifizierungen gibt es doch: Die junge Frau mit der roten Kapuze im Schwarzweißroman verfällt dem angreifenden Wolfgang. Und in Baden bei Gewitter liegt die Ich-Erzählerin wegen einer "Gehirnerschütterung" im Krankenhaus und lernt so Peter kennen, von dessen Existenz sie sich durchschütteln lässt. Seitenlang schreibst du über Tiefseefische, ein klassisches Unterbewusstseins-Thema. Im Schwarzweißroman spricht eine Hure den Vater an, der weist sie ab, und kurz darauf isst die Tochter, die das beobachtet hat, einen Granatapfel, ein altes Symbol für Erotik. Arbeitest du ikonographisch, und aus welchem Fundus bedienst du dich?

Marion Poschmann: Über den religiösen Fundus haben wir ja schon gesprochen, und natürlich ist auch das Unterbewusstsein unerschöpflich, gerade das Unterbewusstsein hat großen Witz. Die Tiefseefische: monströse Gebilde, die unter extremen Lebensbedingungen entstehen. Diese Fische sind nicht schön, sie haben nichts mit unseren Hochglanzbildern zu tun, aber sie können sich an die Erfordernisse der Umgebung anpassen, es ist eine trotzige Kraft, etwas Grandioses. Bilder entwickeln ihre eigene Dynamik. Das ist etwas Ähnliches wie in der Traumarbeit, Verdichtungen und Verschiebungen finden statt, es gibt Motivketten, die der linearen Struktur des Textes etwas hinzufügen, das dem zeitlichen Verlauf entgegensteht.

Am Erker: Im Schwarzweißroman und auch in Baden bei Gewitter entzünden sich oft Dingbeschreibungen an Gefühlslagen und nicht umgekehrt. Die Nähe zu strukturalistischen Verfahren bietet sich an, und mit geläufigen Allegorie-Bezügen kommt man bei dir kaum weiter. Das profiliert dich gegen heutige Schreibschulen. Wie ist dein Verhältnis zur Gegenwartsliteratur: Welchen Bezug hast du zu ihr, nimmst du daran aktiv teil?

Marion Poschmann: Ich versuche durchaus, möglichst viel von dem mitzubekommen, was literarisch vor sich geht, ich lese Neuerscheinungen, ich verfolge die Debatten, ich interessiere mich für theoretische Positionen, allerdings versuche ich das alles, wenn ich selber schreibe, zu vergessen. Ich finde, Literatur ist etwas hoch Individuelles, ein Buch entsteht aus der Tradition, der Zeitströmung, aber auch zu einem Teil aus sich heraus, deswegen brauche ich beim Schreiben einen Freiraum. Früher hätte ich gerne einer Schule oder Richtung angehört. Als ich nach Berlin kam, habe ich alle literarischen Zirkel abgeklappert, die es damals gab, später habe ich auch einen Studienplatz an der HdK im Szenischen Schreiben bekommen, das war alles sehr spannend, aber ich musste feststellen, dass mir das für das eigene Schreiben wenig bringt.

Am Erker: Obwohl du sehr unterschiedliche Bücher schreibst, hat man doch viel stärker als bei anderen Autoren das Gefühl, alles stamme aus einer großen Werkstatt. Deine Bücher scheinen eng miteinander verwandt zu sein. Intern gibt es auch Anspielungen, z. B. läuft die Tochter im Schwarzweißroman in ihrem knallroten Mantel als Cursor durch das Buch, und in Baden bei Gewitter trägt das Ich einen knallroten Rollkragenpulli. Gibt es schon eine Art Marion-Poschmann-Universum?

Marion Poschmann: Meine Bücher haben sicherlich einen Zusammenhang, zum Beispiel haben die Sibirischen Elegien aus meinem ersten Gedichtband viel mit dem Schwarzweißroman zu tun, sie sind so etwas wie eine Keimzelle für den Roman gewesen. Der Eindruck einer Verwandtschaft mag auch dadurch entstehen, dass für mich die Frage nach dem Verhältnis von Welt und literarischem Subjekt immer wichtig war, so dass die Bücher womöglich als unterschiedliche Ansätze zur Beantwortung dieser Frage gelesen werden können.

Am Erker: Immer wieder gibt es bei dir Versatzstücke aus Märchen. Das Ende des Schwarzweißromans findet in einem Schneetreiben statt, innerhalb eines atomaren Sperrbezirks nahe Tscheljabinsk. Vater und Tochter überschreiten dabei die Grenze nach Asien. Sie verschwinden in einer märchenhaften Schneegestöberkugel, und dort irren sie wohl noch heute herum. Warum diese harmonische Schmerzlosigkeit im Endbild?

Marion Poschmann: Für mich ist das keine Schmerzlosigkeit, allerdings ist die teilweise groteske Handlung des Romans am Ende zur Ruhe gekommen. Ein Kritiker hat dieses Weiß des Schnees zu der Strahlung des GAU in Beziehung gesetzt. Weiß ist bergend, schön und auslöschend zugleich. Die Suchbewegung, die Vater und Tochter auf unterschiedliche Weise durch das Buch treibt, führt zu keinem greifbaren Ergebnis, die Geschichte des Vaters hat sich auch nicht in Wohlgefallen aufgelöst, aber der Realitätsgrad dieser Geschichte oszilliert am Ende zwischen Wirklichkeit und Einbildung, ihre Bedeutung für die Gegenwart der beiden Hauptfiguren wird immer unklarer, und der Schnee legt gnädig seine Decke darüber.

Am Erker: Das Wir in Grund zu Schafen schweift in der Natur umher, das Ich in Baden bei Gewitter erwähnt nur kurz die eigene Wohnung, diesen sauberen weißen Raufaser-Kubus, sie stürzt sich viel lieber auf Peters chaotische Bude, und das Hotelzimmer der Erzählerin im Schwarzweißroman bekommt längst nicht dieses Profil wie etwa die Suite des Kollegen Theo oder die Wohnung des kranken Pianisten Konstantin. Es scheint generell der Job deiner Helden zu sein, zum Beobachten woandershin zu gehen. Findest du selbst Inspiration am Schreibtisch oder suchst auch du den Ortswechsel?

Marion Poschmann: Mir fällt eigentlich nur am Schreibtisch etwas ein, oder nachts im Bett, anderswo leide ich schnell unter Reizüberflutung. Umherschweifen in der Natur oder Ähnliches ist schön, lenkt mich vom Schreiben aber im Grunde ab. Die besten Ideen habe ich, wenn ich tagelang reglos in meinem Zimmer hocke und mich niemand stört.

Am Erker: In allen deinen Büchern gibt es viel Humor. Im Schwarzweißroman wird er manchmal ätzend satirisch. Erika, die Frau eines der deutschen Techniker, der sie längst mit einer Russin betrügt, reist nach Magnitogorsk als eindeutig komische Person und platzt wie das blanke Leben in die verzerrte Welt. Dann fliegt sie nach Oberhausen zurück und kommt ein zweites Mal wieder, jetzt sogar mit seinem Enkelkind im Arm, mit einem Säugling – eine absurdistische Szenerie. Ist Komik für dich Spielfreude oder brechende Ironie gegenüber deinem gewaltigen Stoff?

Marion Poschmann: Komik ist wichtig. Komik entsteht durch Unverhältnismäßigkeit. Unverhältnismäßigkeit ist ja ein maßgebliches Moment im Schwarzweißroman, die Menschen sind einer Umgebung ausgesetzt, die zu groß für sie ist, die Proportionen stimmen nicht mehr, die Protagonisten sind nicht mehr so, wie sie es gewohnt waren, Herr ihrer selbst, daraus müssen sich eigentlich fast zwangsläufig auch groteske Situationen ergeben. Ich hatte aber auch viel Spaß an dieser Erika, die erst etwas verschüchtert und ignorant scheint, nach und nach aber richtig Schwung entwickelt und sich schließlich als unverwüstlich erweist, gerade dadurch, dass sie ihre eigenen Maßstäbe beibehält und die Ausgesetztheit, die Bedrohung, auch ihrer Ehe, die Fremdheit in der Auslandssituation einfach nicht zur Kenntnis nimmt.

Am Erker: Trennst du strikt zwischen künstlerischer und konventioneller Literatur?

Marion Poschmann: Künstlerische Literatur reflektiert ihre Mittel, sie versucht, zu etwas Neuem vorzustoßen, Lebensstrategien in Frage zu stellen und Erkenntnisse zu gewinnen. Vom Leser wird ein bestimmtes Verhalten gefordert, wenn er "ernste" Literatur liest, er muss bereit sein, sich verunsichern zu lassen. Unterhaltungsliteratur provoziert nicht, sie bestätigt Leseerwartungen und verfestigt Klischees. Das kann auch seinen Reiz haben und zu kathartischen Effekten führen, manchmal erfährt man aus einem Krimi oder einem Comic auch mehr über die Beschaffenheit des Menschen als aus einem künstlerisch ambitionierten Werk, deshalb finde ich es gar nicht so einfach, strikte Trennungen vorzunehmen. Die Grenzen verwischen ja auch mehr und mehr, in der Postmoderne hat die Unterhaltungsliteratur eine enorme Aufwertung erfahren, aber manchmal wünschte ich mir, zumindest in der Rezeption würde zwischen E und U wieder stärker unterschieden, einfach um deutlich zu machen im Zeitalter der Fernsehserien: Ernste Literatur verlangt vom Leser mehr Arbeit, mehr Konzentration und mehr Offenheit als bei einem Buch, das sich leicht konsumieren lässt. Lesen ist nicht gleich Lesen, und für den Stellenwert der sogenannten "schwierigen" Literatur ist es fatal, wenn so getan wird, als gäbe es da keine Unterschiede.

Am Erker: Du bist im Westen Deutschlands aufgewachsen und lässt im Schwarzweißroman das tiefste Russland wie von einer Fremdenführerin beschreiben. Du bringst dem Leser Magnitogorsk nahe, obwohl das erzählende Ich, das gut Russisch spricht, diese Welt bereits kennen müsste. Diese Perspektive ist eigentlich unrealistisch. Wie siehst du das?

Marion Poschmann: Die Ich-Perspektive ist eigentlich immer unrealistisch, zumal wenn das Ich von sich selbst spricht. Warum erzählt diese Person, wann und wem erzählt sie, ist es ein Selbstgespräch, und wozu dann das? Man hat bei der Ich-Perspektive ja immer die Seltsamkeit, dass etwas verbalisiert wird, was im "wirklichen Leben" stumm stattfindet. Gleichzeitig wird Innen- und Außenwelt beobachtet, immer weiß das Ich ja über die Dinge Bescheid, die es mitteilt, gleichzeitig steht es in einer Situation, die neuartig ist, während es erlebt, muss es die Dinge zueinander und zu sich ins Verhältnis setzen. Für mich ist es die künstlichste und interessanteste Perspektive, sie macht immer wieder den Kern des Erzählproblems überhaupt deutlich. Ich habe versucht, meiner Ich-Figur eine irgendwie schwebende Aufmerksamkeit zu verleihen, so dass etwas Traumartiges entsteht, mit dem das Unrealistische dieser Perspektive aufgefangen wird und gleichzeitig spürbar bleibt.

Am Erker: Woher kommt diese Fülle von echt wirkenden Snapshots und Einblicken: Hast du bei deinem kurzen Aufenthalt exzessiv Notizen gemacht, hast du später gezielt recherchiert, arbeitest du mit Fotos?

Marion Poschmann: Als ich in Magnitogorsk war, habe ich mir keine Notizen gemacht, ich hatte damals nicht die Absicht, in dieser Stadt eine Romanhandlung anzusiedeln. Später habe ich einiges darüber gelesen, auch Fotos angesehen, aber eigentlich arbeite ich mit einer Art konstruierter Erinnerung. Das heißt, ich erinnere mich konkret an wenig, es gibt aber eine bestimmte Atmosphäre, um die es mir geht, und die versuche ich mit sinnlichen Details und Situationen anzureichern. Es ist so ziemlich das Gegenteil eines mimetischen Verfahrens, deshalb hatte ich fast ein schlechtes Gewissen, ausgerechnet an die Darstellung eines Landes wie Russland und die damit verbundenen Konflikte so heranzugehen, aber eigenartigerweise löst das Buch eher Wiedererkennungseffekte aus. Viele Leute, die zu Osteuropa einen engeren Bezug haben, die dort eine Weile gelebt haben, finden ihre Erfahrungen in dem Buch wieder und lesen es wie einen Reisebericht, wie die Schilderung einer Reise, die sie selbst auch gemacht haben.

Am Erker: In Grund zu Schafen gibt es dieses lyrische Wir, mal ist es eingesetzt wie ein lyrisches Ich, dann wie ein kollektives Wir-Alle, es gibt auch ein Du, das wie ein Mensch neben der beobachtenden, Bilder sammelnden Stimme herläuft. Fast immer ist die Paarung ein Nebeneinander. Ein Paar, berührungslos durch Landschaften gehend. Einmal spricht die Stimme von "Gier nach Berührung", dann spricht sie von der "Unversehrtheit verschlossener Körper" – empfindest du Natur als isolierend? Im Schwarzweißroman zieht sich das Ich sogar zum Survivaltraining in die Natur zurück.

Marion Poschmann: Überhaupt nicht, ich empfinde Natur als verbindend, Natur ist doch der kleinste gemeinsame Nenner. In einer Landschaft muss sich ein Paar nicht unbedingt berühren, es gibt ja auch andere, subtilere Formen von Nähe, zum Beispiel die gemeinsame Betrachtung. Auch das Survivaltraining im Schwarzweißroman hat einen starken Verbundenheitsaspekt, die Ich-Figur spürt dabei, bewusst oder unbewusst, dem Kriegstrauma des Vaters nach, sie versetzt sich an seine Stelle. Natur ist hier der Rahmen, der diese Art von Identifikation ermöglicht.

Am Erker: Bei der Fülle von ambitionierten Kritiken und nach dem, was du bisher selbst über dein Werk gesagt hast, scheint es mir so, als ob sich beide Versionen der Draufsicht mindestens teilweise decken. Fühlst du dich durch die bisherigen Äußerungen zu deinem Werk gut erfasst? Und falls nicht - freut dich das oder enttäuscht es dich?

Marion Poschmann: Ich bin ganz klar positiv überrascht über das Echo der Kritik. Wenn man so ein Buch schreibt, denkt man sich ja alles Mögliche, aber wie viel davon hinterher wirklich drinsteht, kann man selber nur schwer einschätzen. Es besteht sicher auch eine Kluft zwischen der Behutsamkeit und Vieldeutigkeit, die der Schreibprozess verlangt, und einem gewissen Eindeutigkeitsbedürfnis der Medien bzw. der Öffentlichkeit. Aber ich denke, man kann durchaus etwas Substanzielles und Differenziertes zu einem Buch sagen, und im Großen und Ganzen spiegelt sich viel von dem, was mir wichtig ist, auch in den Äußerungen anderer.