Michael Braun
Sehr geehrter Herr Zeller, hochverehrte Mitglieder, Förderer
und Freunde der Hermann-Hesse-Stiftung, lieber Joachim, meine
Damen und Herren,
erschrecken Sie nicht, wenn ich hier mit einem
alarmierenden medizinischen Befund beginne: Zeitschriften herausgeben,
so lautet die Diagnose, ist krankhaft, es ist eine nervenzerrüttende
Tätigkeit für Süchtige. Diese Erkenntnis stammt
von einem, der es wissen muss: von Walter Höllerer nämlich,
dem wohl literatursüchtigsten Zeitschriftenherausgeber, den
die literarische Welt je hervorgebracht hat. Der spiritus rector
so ruhmreicher Organe wie "Akzente"und "Sprache
im technischen Zeitalter" weiß aus leidvoller Erfahrung,
dass es für Herausgeber von periodisch erscheinenden Druckwerken
unmöglich ist, sich in einer hauptamtlichen, respektive nervenschonenden
und "schaukelstuhlhaften" Sucht gemütlich einzurichten.
Zu den Voraussetzungen erfolgreicher Zeitschriften-macher, so
lernen wir von Höllerer, gehört neben der obligaten
Bibliomanie und Leidenschaft für Literatur der Gegenwart
auch unendlich viel Geduld und Idealismus und nicht zuletzt eine
unbeirrbare Bereitschaft zur Selbstausbeutung und die Fähigkeit,
von pekuniären Spekulationen gänzlich abzusehen. Am
Anfang der Zeitschriftensucht jedoch steht die literarische Größenphantasie,
der drängende Wunsch, sich als Rächer der poetisch Unterdrückten
gegen das Establishment zu exponieren und endlich selbst Dauergast
im literarischen Olymp zu werden.
So formulierten schon vor exakt zweihundert Jahren zwei junge,
rebellisch gestimmte Dichter namens Friedrich und August Wilhelm
Schlegel den nicht ganz unbescheidenen Anspruch, mit der Gründung
einer romantischen Literaturzeitschrift nicht nur die poetischen
Verhältnisse gehörig zum Tanzen zu bringen, sondern
"nach 5 bis 10 Jahren kritische Dictatoren Deutschlands zu
sein". Dieser Hochmut der Gebrüder Schlegel, die anno
1798 mit ihrem legendären Athenäum eine "kritische
Dictatur" in der literarischen Welt errichten wollten, mag
nachgerade von den Literaturhistorikern nobilitiert worden sein.
Nüchtern betrachtet, scheiterten ihre hochfliegenden Visionen
damals rasch an Mitarbeiter- und Manuskript-Mangel. Den zunftimmanenten
Hochmut, die Größenphantasie und auch die kurze Laufzeit
ihres Projekts haben sie indes an viele literarische Nachgeborene
vererbt, die bis heute glauben, ästhetische Opposition gegen
die Altvorderen mit Hilfe des alten Mediums Literaturzeitschrift
betreiben zu müssen. Viele literarische Protestenergien toben
sich seit den siebziger Jahren auf dem weiten Feld der Literaturzeitschriften
aus, die meisten davon haben sich nach kurzer Zeit erschöpft.
In den meisten dieser kurzlebigen Organe triumphiert das, was
der Namensgeber dieses Preises, was Hermann Hesse in einem Brief
an den Zeitschriften-Herausgeber Thomas Mann einmal "momentane
Entladungsbedürfnisse" genannt hat.
An "momentanen Entladungsbedürfnissen" herrschte
auch in den frühen Jahren der Zeitschrift Am Erker kein Mangel.
Viel mehr als ein glühender Wille zur Sabotage des literarischen
Konsensus und zum Umsturz der poetischen Verhältnisse war
am Anfang nicht vorhanden. Als sich da im legendären Deutschen
Herbst des Jahres 1977 einige angehende Germanistikstudenten und
Sozialarbeiter namentlich: Joachim Feldmann, Michael Kofort, Rudolf
Gier und Friedhelm Wenning, als sich diese aufklärerisch
gesinnten Herren aus dem westfälischen Münster also
zusammentaten, um ihre libertären literarischen Botschaften
unters poetisch eher desinteressierte Studentenvolk zu bringen,
hatte man von den Schlegels allenfalls die Größenphantasie,
nicht aber den Genius geerbt. Es waren die Jahre, da sogenannte
"little magazins", kleine alternative Zeitschriften,
nach amerikanischem Vorbild wie Pilze aus dem Boden schossen,
"little mags", die sich durch viel guten Willen zur
subliterarischen Gegenöffentlichkeit, aber durch wenig technische,
finanziell und ästhetische Mittel auszeichneten. Es waren
die Jahre, da es genügte, schlampig getippte Typoskripte,
womöglich noch handschriftlich korrigiert, zu vervielfältigen
und im Offsetdruck-Verfahren einem äußerst schmalen
Leserkreis zum raschen Konsum vorzuwerfen. Diese Demokratisierung
der Literatur, beflügelt durch den Boom der unsäglichen
"Verständigungstexte", fand auch in den ersten
Heften der Zeitschrift Am Erker statt - in der leider üblichen
Form der Duzbrüderschaft mit den Lesern und einem unbeschwerten
Dilettantismus, der jede aufmüpfige Äußerung gleich
als poetische Radikalität missversteht.
Ihren Namen hatte sich die Zeitschrift, darin ganz Spontanitäts-Avantgarde,
aus einer anagrammatischen Umformung des Romantitels Amerika von
Frank Kafka geborgt. Literatur in Am Erker, das war einige Jahre
lang nur die Fortsetzung der Wohngemeinschaftsfete mit höchstens
semipoetischen Mitteln. Es blühten die großspurigen
Tabula-Rasa-Gesten, die Verächtlichmachung von bürgerlicher
Ästhetik und eine stolz zur Schau gestellte Schmuddeligkeit
im Layout, die aber die Begeisterung der Herausgeber nur weiter
befeuerte. Kurz gesagt: In den ersten Jahren nach seiner Gründung
hat sich Am Erker mit allen nur denkbaren Kinderkrankheiten einer
sogenannten alternativen Literaturzeitschrift infiziert. Was heute
im Rückblick besonders rührend anmutet, das unentwegte
Anduzen des Lesers und das demonstrative Bekenntnis zur kommunitären
Geselligkeit, korrespondierte mit den besonderen Distributionsweisen
der Zeitschrift, einem nächtlichen "Außendienst",
wie er für die späten siebziger Jahre typisch ist. Zu
nachtschlafender Zeit zog das "Am Erker-Kollektiv",
wie es sich in Zeiten unverbrüchlicher linker Bruderschaft
noch nannte, tapfer durch Münsteraner Bierkneipen, um dort
(ich zitiere den Erker 28) "geduldigen studentischen Trinkrunden
die Zeitschrift aufzuschwatzen".
Noch bis in die frühen achtziger Jahre hinein währte
das fröhliche Treiben in der regionalen Nische des Literaturbetriebs,
hemmungslos auf Du und Du mit dem Leser, vorangetrieben durch
den Wunsch nach intimer literarischer Selbstverständigung.
Literatur war oft nur Nebensache, bis, ja, bis vielleicht zur
Nummer 12 des Erker aus dem Jahr 1983, die erstmals mit einer
vermutlich vorsintflutlichen Form eines Satzcomputers erstellt
wurde. In dieser Zeit muss sich eine Art ästhetische Offenbarung
vollzogen haben, das Erwachen einer literarischen Ambition jenseits
der Gesinnungsästhetik. In dem schon professionell gestalteten
Heft 14 findet sich eine Grundsatzerklärung eines linken
Literaturwissenschaftlers, der alle Parteilichkeits-Forderungen
an die Literatur abweist und den "Drang nach politischer
Deutlichkeit und aktueller Wirkungsmöglichkeit" von
Texten als geradezu "kleinbürgerliche" Lektürehaltung
kritisiert. Auch den Erker-Redakteuren dämmerte nun die Erkenntnis,
dass das politisch Korrekte ästhetisch entsetzlich dürftig
sein kann, und dass die phantastischen Erfindungen der Literatur
den Gewissheiten der Ideologie in jedem Fall vorzuziehen sind.
Wenn kurz darauf in Heft 16 der Erker-Redakteur Rudolf Gier den
Schriftsteller Ralf Thenior zu seinem Werk befragte, dann ist
das auch schon als Grundriss jener Poetik zu lesen, die von der
Zeitschrift selbst favorisiert wird: Die auf der Grenze zwischen
kruder Alltäglichkeit und grotesker Phantastik balancierenden
Texte des Kurzgeschichtenerzählers Thenior können als
ästhetisches Modell gelten für den literarischen Kurs
der Zeitschrift. Es ist die ausgeprägte Vorliebe für
kurze, lakonische, skurril akzentuierte, den Alltag mikroskopierende
Prosa, die Am Erker seit zwanzig Jahren kultiviert und von der
Feldmann, Gier, Kofort & Co. wohl auch in Zukunft nicht lassen
werden.
"Die alltäglichen Dinge sind schön und reich genug,
um aus ihnen dichterische Funken schlagen zu können":
Dieser Robert Walser-Satz, eingeschmuggelt in Heft 30 von Am Erker,
hat stilbildend gewirkt. Mit dem Ende der literarischen Pubertät
ist die Neigung zu skurrilen Kurzgeschichten und zu kleinformatigem
Alltagsrealismus zur Passion geworden. Seit dem Ralf Thenior-Interview,
dem ersten Interview im Erker überhaupt, werden immer wieder
Autoren und Texte publiziert oder aber in Gesprächen und
Rezensionen vorgestellt, die der heiß geliebten Ästhetik
der Skurrilität aufs Schönste entsprechen: der große
Ror Wolf etwa, der in seinen burlesken Geschichten immer wieder
die Haken ins Phantastische schlägt - oder auch, in Heft
25, der Schriftsteller Paul Auster, in dessen abgründig-verstörender
Prosa die Musik des Zufalls vibriert und eine unerhörte Begebenheit
die nächste jagt. Daneben gelang Am Erker auch so manche
Entdeckung unter jüngeren, unbekannten Autoren: Burkhard
Spinnen etwa, der virtuose Chronist unserer Angestelltenwelt und
Erfinder tragikkomischer Alltagsverstrickungen hat seine ersten
literarischen Texte im Erker publiziert, und mit dem jungen Marcus
Jensen, so darf ich en passant prognostizieren, wird ein weiterer
Erker-Autor demnächst von sich reden machen.
Zwanzig Jahre nach ihrem literarischen Coming-Out sind jedenfalls
die Sudelblätter der radikalen Jungstudenten nicht mehr wiederzuerkennen:
Am Erker, so resümiert in Heft 28 ein Rezensent fast wehmütig,
Am Erker ist bürgerlich geworden. Tatsächlich kommt
das Blatt seit einiger Zeit, exakt seit der Nummer 20, als weltläufiges
Literaturmagazin daher, gewandet in ein seriöses Schwarz,
das an die frühen Quartheft-Produktionen des Klaus Wagenbach
Verlags und, im mittlerweile größeren Format, auch
ein wenig an das an dieser Stelle schon gerühmte Schreibheft
erinnert. Die phantastische Kurzgeschichte ist zum dominierenden
Texttyp geworden, aber zum Markenzeichen der Zeitschrift hat sich
der umfangreiche Rezensionsteil entwickelt, in dem unser feierlicher
Feuilleton-Ernst auf äußerst intelligente und witzige
Weise konterkariert wird. Bedeckt mit allerlei Tarnkappen, melden
sich hier die Erker-Redakteure zu Wort, um in lustigen Kolumnen
den literarischen Betriebsfrieden zu stören. Als besonders
fleißiges Rezensenten-Faktotum agiert hier ein gewisser
Fritz Müller-Zech, der, ausweislich der biographischen Notiz,
"als Fernseher, Modellflieger und Gesellschaftskritiker in
Oer-Erkenschwick" lebt und trotz seiner vorgeschützten,
kleinbürgerlichen Unschuld einen erstaunlichen Lesehunger
entwickelt. Als Stichwortgeber und Anekdotenzulieferer assistieren
ihm kritische Subjekte mit so kulinarischen Namen wie Peter Pfirschinger
und Johannes Vierfrucht, die nicht nur ein Faible für vitaminreiche
Nahrung, sondern auch für die ironische Sabotage literarischer
Dignität haben. Zum literarischen Eigensinn unserer Zeitschriftenmacher
gehört eben auch, dass sie kräftig an der Entzauberung
so mancher pathetischen Neutöner mitwirken. Eins der wirkungsvollsten
Medikamente gegen falsches Pathos in der Literatur ist zweifellos
die Erker-Lektüre.
So bleibt mir am Ende nur, Ihnen, werte Mitglieder der Jury, für
Ihre mutige und originelle Entscheidung zu danken, den Preis an
einige untherapierbare Zeitschriftensüchtige aus Münster
zu vergeben, die dort im Dahlweg 64 unentwegt an der Poetik der
Skurrilität arbeiten. Fritz Müller-Zech, soviel sei
noch verraten, durfte soeben seinen 40. Geburtstag feiern, und
er wird, das hat er dem Laudator versprochen, sich auch in Zukunft
weniger mit seinen perfekten Modellflugzeugen als mit dem unvermeidlich
fehlerhaften, nicht perfekten, dafür aber erkenntnisfördernden
Medium Literatur beschäftigen.
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