Am Erker 86

Anja Liedtke: Der Himmel ist altes Silber

Thomas Empl: Inneres Zittern

Fabian Lenthe: Streichhölzer

 
Fritz Müller-Zech 86
Die Kolumne
 

Schon als Kind blieb ich lieber drinnen. Wenn man mich ließ. Denn die Landschaften im fiktiven Nordamerika Karl Mays fand ich allemal spannender als die Büsche und Felder hinter unserem Haus im nördlichen Ruhrgebiet. Ein Stubenhocker bin ich immer noch. Nur die Lektüre hat sich geändert. Dass Naturbeschreibungen dazugehören, mag verwundern. Doch wie ich mich früher für ein Jugendbuch über einen aufstrebenden Leichtathleten begeistern konnte, ohne selbst den Ehrgeiz zu verspüren, auf dem Sportplatz zu brillieren, so genieße ich heute die ebenso sachkundige wie poetische Outdoor-Prosa der Bochumer Autorin Anja Liedtke. Und da ich, wie sich denken lässt, ungern verreise, freut es mich, dass sie uns von der Ruhr bis an die Algarve und nach Lappland führt, im Handgepäck neben einem Notizbuch wahrscheinlich auch Fachliteratur, die ihr hilft, das Gesehene einzuordnen. Präzision und Poesie bedingen einander. Ich, zum Beispiel, würde weder eine Heckenbraunelle noch eine Brandgans fehlerfrei identifizieren können, obwohl sich in meinem Regal gleich zwei Vogelbestimmungsbücher befinden. Anja Liedtke hingegen, die "Momente höchsten Glücks mit dem Gehen in der Natur" verbindet, sieht etwas, das wir nicht sehen, und sie verfügt über die sprachlichen Mittel, es plastisch zu beschreiben. Da läuft ein gelber Marienkäfer "auf Totholz hin und her und im Kreis um sich selbst herum, wie ein Hund, der seinen Platz sucht". Und ein "Grünlingmann hat sich in Schale geschmissen, als wollte er einen Pirol oder einen Kanarienvogel darstellen". Ohne eine Portion Anthropomorphismus ist der Natur eben verbal nicht beizukommen.
Apropos gelber Marienkäfer. Der ist eigentlich in Asien zu Hause, wurde aber hierzulande angesiedelt, weil er massenhaft Blattläuse vertilgt. Doch solche Aktionen bleiben nicht ungestraft. Gerne übernachtet der bitter mundende Käfer in Weinbergen. Und das ausgerechnet zur Lesezeit. Wird er zusammen mit den Trauben verarbeitet, kann der Wein ziemlich fies schmecken. Aber das sei nur nebenbei erwähnt, um den Gebrauchswert dieser Kolumne zu erhöhen. Und um eine Überleitung zu einem Buch zu finden, das die Natur vor allem als geschunden darstellt.
In Thomas Empls Kurzgeschichten liegen leere Coladosen, Chipstüten und Plastikteller herum. Schwarze Rauchwolken schweben über Industriebrachen. Und auf Köln-Klettenberg regnet es Mikroplastik. Dass den Protagonisten jeder Ausweg versperrt scheint, versteht sich. Wir befinden uns schließlich in einer Atmosphäre von angemessener Hoffnungslosigkeit. Aber nicht immer. "Der Mond blieb stehen, und es wurde nicht Tag", heißt es am Ende einer Story mit romantischem Potenzial. Dunkel bleibt es auch in der den Band abschließenden Kinogeschichte über eine der zahlreichen Bruce-Lee-Kopien, mit denen in den siebziger Jahren vom Erfolg der Kung-Fu-Legende profitiert wurde. Dass der Filmvorführer schlicht vergessen hat, die Saalbeleuchtung einzuschalten, lässt die Passage nicht minder symbolisch erscheinen. Thomas Empls dystopisch inspirierte Erzählprosa zeugt von finsterer Virtuosität und einem grimmigen Sinn für Humor. Man sollte sie in kleinen Dosen zu sich nehmen.
Das gilt auch für die in dem Bändchen Streichhölzer versammelten Gedichte des Nürnberger Lyrikers Fabian Lenthe. Etwas ist zu Ende gegangen, und nur Leere ist geblieben. Beziehungsweise sparsam gewählte Worte, um diesen Zustand zu verbildlichen. Natur gewinnt Bedeutung durch ihre Abwesenheit. "Die Möwen / In meinem Kopf / Sind alle tot. // Ich höre nicht einmal / Das Meer", lautet das letzte Gedicht des Bändchens, dessen Momentaufnahmen trostlos und ergreifend zugleich sind. Denn der Trennungsschmerz ist in all diesen Alltagsszenen präsent. Doch das lyrische Ich gönnt sich kein offenes Selbstmitleid. Stattdessen artikuliert sich bisweilen eine bittere Ironie: "Mein Vater hieß Cliff Huxtable / Und meine Mutter Kate Tanner // Und wenn ich nach Hause kam / Gab es immer etwas zu lachen".
Diese Verse, programmatisch auf der Rückseite des Buches abgedruckt, erschlossen sich mir erst nach ein wenig popkulturellem Nachhilfeunterricht. Anderes hingegen scheint mir sehr vertraut. Dass Lakonie seit jeher die coolere Schwester der Sentimentalität ist, galt schon für die Alltagslyrik meiner Jugend. Und ist wohl auch der Grund dafür, dass mir Fabian Lenthes Gedichte, in denen Existenzielles und Banales auf engem Raum zusammenfinden, so gut gefallen, dass ich nicht umhinkomme, ein weiteres in vollem Umfang zu zitieren: "Ungefähr zur Mittagszeit / Dachte ich an den Tod / Während der Wind / Eine Plastiktüte / Durch die Luft wirbelte / Kleine Wellen strandeten / Am Ufer eines Sees / Und die Luft / War klar / Und kühl".
Nun sollte ich zumindest ein Fenster öffnen.

 

Anja Liedtke: Der Himmel ist altes Silber. Nature Writing. 187 Seiten. Dittrich. Weilerswist-Metternich 2023. € 22,00.

Thomas Empl: Inneres Zittern. Erzählungen. 110 Seiten. Parasitenpresse. Köln 2023. € 14,00.

Fabian Lenthe: Streichhölzer. Gedichte. 92 Seiten. XS-Verlag. Berlin 2024. € 18,00.