Am Erker 76

Gerhard Henschel: Erfolgsroman

Volker Kaminski: Auf Probe

 
Fritz Müller-Zech 76
Die Kolumne
 

Zunächst wurde ich verkannt, und dann hat man mich vergessen. Und zwar zu Lebzeiten. Ich kam der Welt abhanden, bevor ich überhaupt bemerkt werden konnte. Weder meine kritischen Interventionen die neueste Literatur betreffend noch meine radikalen Gesellschaftsentwürfe haben irgendjemanden interessiert, geschweige denn, dass eines meiner Flugmodelle einen Preis gewonnen hätte. Hoffnung ist kein Prinzip, sondern Teil des allgemeinen Verblendungszusammenhangs, das musste ich als lebenslang Scheiternder schmerzhaft lernen.
Dass ich schon in den ersten beiden Sätzen dieser Kolumne dreimal in der ersten Person Singular von mir rede, ist ein deutliches Zeichen der Anmaßung. Vielleicht muss ich mich zu jenen Menschen rechnen, denen der weise Theodor W. Adorno bescheinigte, es sei bereits eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen. Aber wäre es nicht viel schlimmer, gäbe ich mein Urteil durch Vermeidung des Personalpronomens als allgemeingültig aus? Und würde zum Beispiel behaupten, dass Gerhard Henschels inzwischen, zählt man den Briefroman Die Liebenden (2002) mit, neun Bände umfassendes autobiografisches Prosawerk eine der wichtigsten literarischen Unternehmungen der letzten zwei Jahrzehnte sei, obwohl nichts mir ferner liegt, als meinen sehr persönlichen Vorlieben kulturgeschichtliche Relevanz beizumessen. Ist es etwa von Bedeutung, dass ich es bedaure, in den frühen neunziger Jahren die Zeitschrift "Kowalski" und damit so manchen Beitrag Henschels ignoriert zu haben? Im Erfolgsroman, der neuesten Lieferung des hochproduktiven Autors, darf sein Alter Ego Martin Schlosser endlich vor allem das tun, was er am besten kann, nämlich schreiben. Leider zeichnen sich seine Auftraggeber durch eine notorisch schlechte Zahlungsmoral aus, und der junge Publizist muss immer wieder ausstehende Honorare anmahnen. Nicht selten sind Konto und Kühlschrank leer, doch zum Glück gibt es die Künstlersozialkasse, Dosenravioli und liebe Verwandte, die gelegentlich einen Zuschuss zur Haushaltskasse leisten. Lieber als Lebensmittel allerdings kauft Martin Schlosser, wenn er mal bei Kasse ist,  Bücher, gerne auch Werkausgaben. Zum Beispiel fünf Bände Klopstock, deren Lektüre dem ehemaligen Germanistikstudenten dann aber gar nicht behagt. All das und noch viel mehr dürfen wir im Erfolgsroman miterleben, und wer mich kennt, weiß nun auch, warum ich dem nächsten Teil dieser Lebensbeschreibung, an der Henschel bereits fleißig arbeitet, mit verhaltener Freude - mehr ist bei mir nicht zu holen - entgegensehe.
Reicht das als Empfehlung? Ich bin mir nicht sicher, zweifle ich doch überhaupt an dem, was ich hier tue. Ungewürdigt, unbeachtet und vor allem: unbezahlt. Abhängig beschäftigt müsste man sein, denke ich gelegentlich, ohne es ganz ernst zu meinen. Schließlich habe ich mein Los selbst gewählt. "Wer Erfüllung darin findet, nach Vorgaben anderer zu leben, soll alt und glücklich damit werden", erklärt Philipp Gaudi, die Hauptfigur in Volker Kaminskis romantisch inspiriertem Künstlerroman Auf Probe. Seinen gut dotierten Job in einer Softwarefirma ist er los, und nun überlegt er, ob er nicht Rockgitarrist werden soll. Seine Vorbilder sind die Saitenkünstler der Woodstock-Generation - Jimi Hendrix und Alvin Lee. Ein wenig aus der Zeit gefallen, möchte man meinen, doch Gaudi strebt keine Laufbahn in einer Oldie-Band an. Er glaubt an die künstlerische Wiederauferstehung, die er in den alten Stücken, deren Geist er wiederbeleben möchte, zu erkennen meint. Dass der Konflikt zwischen bürgerlicher Existenz und Künstlerdasein in seiner Familie Tradition hat, ist ihm zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Und als er es erfährt, ist er keineswegs spontan begeistert. Jeder Ausbruch aus der so genannten Normalität erhebt den Anspruch auf Einmaligkeit.
Kaminski lässt seinen Roman in einem außergewöhnlich heißen Sommer spielen. Kurz vor dem Ende entlädt sich die Hitze in einem Orkan. Extremes Wetter spiegelt die inneren Konflikte der Figuren. Philipp Gaudi spielt ein 45-minütiges Gitarrensolo. Dann stellt er das Instrument zur Seite und schaut herüber zu seiner Geliebten. Und alles ist ruhig. Was Gaudi mit seinem neuen Wissen anfangen wird, bleibt offen. Im letzten Satz lässt der Erzähler die Mittagssonne gnädig von einem leicht bedeckten Himmel scheinen. Das klingt zwar nicht vielversprechend, deutet aber auch nicht auf eine unmittelbare Katastrophe hin.
Die dürfte vorerst auch hier in Oer-Erkenschwick ausbleiben. Der Blick aus dem Fenster fällt auf eine Männergruppe vor Kevins Trinkhalle. Die stehen immer da. Ich könnte mich auf ein Flaschenbier zu ihnen gesellen. Hier würde ich nicht verkannt.

 

Gerhard Henschel: Erfolgsroman. 602 Seiten. Hoffmann und Campe. Hamburg 2018. € 26,00.

Volker Kaminski: Auf Probe. Roman. 312 Seiten. Wortreich. Wien 2018. € 19,90.