Mir geht es nicht gut. Es geht mir sogar sehr, sehr schlecht. Seit mir bewusst wurde, dass in meinem Alltag die Gegenwart nur ein lästiger Gast ist, zweifle ich an meiner Existenz. Einzig die in meinem Apothekenkalender notierten dienstäglichen Treffen des Modellflugvereins erinnern mich daran, dass um mich herum eine Gesellschaft existiert. Aber ich habe es nicht anders gewollt. In Opposition gegen die bürgerliche Welt durchlitt ich Pubertät, Adoleszenz und alles, was darauf folgte, aber keinen eigenen Namen besitzt. Eine Krise in der Mitte des Lebens blieb aus, schließlich empfand ich meine gesamte Daseinsform krisenhaft. Ein richtiges Leben, ganz entspannt im Hier und Jetzt, war mir unmöglich. Es gelang mir auch nicht, meine Disposition gewinnbringend zu nutzen. Seit ich diese Kolumne fülle, firmiere ich im Autorenverzeichnis als "Gesellschaftskritiker". Nun, das bin ich zweifellos, doch auf finanzielle Zuwendungen warte ich vergebens. Woher sollten die auch kommen? Kostenlose Rezensionsexemplare hingegen finden noch immer ihren Weg in meinen Briefkasten. Man hat offenbar vergessen, mich aus den Adressdateien zu löschen. Dabei kann ich, als jemand, der die Gegenwart nur widerwillig erträgt, mit Gegenwartsliteratur gewöhnlich nichts anfangen. Dass ich Christian Y. Schmidts Roman Der letzte Huelsenbeck dennoch las, ist dem Hinweis auf dem Schutzumschlag, hier werde von einer "Jugend in den angeblich so wilden Siebzigern" erzählt, geschuldet. Vielleicht hätte die Konfrontation mit jenem Jahrzehnt, dessen zweite Hälfte so prägend für meine fatale Entwicklung war, therapeutische Wirkung. Zumindest könnte ich für kurze Zeit mit dieser Jammerei aufhören, die wahrscheinlich selbst meinen treuesten Leserinnen und Lesern inzwischen auf die Nerven geht.
Tatsächlich passt der Roman gut zu meiner momentanen Lebens- und Gefühlslage, geht es doch um unser mitunter trickreiches Erinnerungsvermögen. Der "letzte Huelsenbeck" des Titels ist ein älterer Herr namens Daniel, der 1978, angeregt vom künstlerischen Radikalismus der dadaistischen-Bewegung, gemeinsam mit einigen Gesinnungsgenossen vom Kohlenkeller seines Elternhauses aus die ästhetische Revolte wagt. Das ist mehr, als vielen anderen damals eingefallen ist, aber auch nicht außergewöhnlich. Und deshalb für mich, der etwa zur gleichen Zeit in einem Bochumer Studentenwohnheim saß und angestrengt Free Jazz hörte, ein schönes Identifikationsangebot. Fast vier Jahrzehnte später versucht Daniel herauszufinden, was damals eigentlich alles passiert ist, und muss leider immer wieder feststellen, wie trügerisch sein Gedächtnis ist. Diesem Zustand können weder drei Nervenärzte - in der Reihenfolge des Auftretens: Dr. Gautzsch, Dr. Gulistan und Dr. Hans - noch jede Menge unterschiedlicher psychoaktiver Substanzen abhelfen. Auch die Besuche bei Zeitzeugen, die den Sinnsucher wider Willen bis in die biodynamische Scheinidylle eines Anwesens im Wendland führen, tragen nur zur weiteren Verwirrung bei. Für unsereins bietet der Roman allerdings jede Menge Orientierungsmarken, von Carlos Castanedas Schamanenerzählungen bis zu Bandnamen und Songtiteln. Wer einst Nick Hornbys High Fidelity mit Anteilnahme gelesen hat, aber dennoch findet, dass die psychotisch-autobiografische Prosa eines Wolfgang Welt die bessere literarische Antwort auf die so genannte Popkultur darstellt, wird mit Der letzte Huelsenbeck zwar nicht glücklich, aber unbedingt schlauer. Für Daniel selbst gilt das nur bedingt. Einmal, von Selbstmitleid heimgesucht, fragt er sich, was "wohl passiert wäre, wenn" er nur "zehn Jahre früher geboren worden wäre", und malt sich eine gesicherte Zukunft mit Frau, Kindern und gut bezahltem Job aus. Dabei diagnostizierte der Philosoph Herbert Marcuse bereits 1964 "die Zerstörung der Privatsphäre in Appartementhäusern und Vorstadtheimen", sodass die Schranken, "die das Individuum früher vom öffentlichen Dasein trennten", aufgehoben und die "attraktiven Qualitäten anderer Ehemänner und Ehefrauen leichter zur Schau" gestellt würden. Dieser von Marcuse argwöhnisch als "repressive Entsublimierung" bezeichnete Prozess beschleunigte sich im kulturrevolutionären Annus mirabilis 1968, dessen momentan vielfältig erinnerte Verwerfungen Daniel einen Strich durch die spießbürgerlich-sentimentale Rechnung hätten machen können.
Das zu wissen, ist mir auch kein Trost. Aber es verhilft mir zu mehr Gleichmut. Die befreite Gesellschaft, das ist mir klar, lässt weiterhin auf sich warten. Aber der revolutionäre Impetus ist noch immer da - zum Beispiel in den "bizarren Kurzgeschichten" der Anthologie Was für Spinner. "Den Supermarkt zu stürmen und dann besetzt zu halten", wünscht sich die Autorin Henrietta Hartl, 1960 als "Tochter braver Eltern" in Erlangen geboren, während der Protagonist in Peter Lünenschloß' Story "Waldemar" ganz einfach aus der Stadt herausläuft und dann immer weiter. Und in Christian Morgensterns überraschender Prosa "Das Haus" geht es den Gesetzen der Physik an den Kragen. Wunderbar. Ich lege eine Live-Aufnahme Albert Aylers aus dem Jahr 1967 auf, lausche seinem wilden Saxophon und freue mich über den letzten Satz einer Geschichte des jungen Autors Kevin Sommer: "Und sprach er nicht beredter, dieser Ton, als jedes Wort, jede Sprache, jedes Sprechen - von Revolution?" |