Je älter er werde, bemerkte Kroll, als wir neulich nach der Jahreshauptversammlung des Modellflugvereins am Tresen des "Scharfen Ecks" zusammenstanden, desto klarer sei ihm, dass er keine Zeit mehr mit den Hervorbringungen mittelmäßig begabter Künstler und Schriftsteller verschwenden dürfe. Das Leben sei zu kurz für Mediokres, ab jetzt werde er sich nur noch mit kulturellen Spitzenleistungen abgeben. Erst gestern habe er als Zeichen seiner Entschlossenheit in der örtlichen Buchhandlung eine Auswahl der, wie er sich ausdrückte, wichtigsten Romane des 20. Jahrhunderts bestellt, darunter Werke von Joyce, Beckett, Musil und Proust. Die nächsten zehn Jahre würde er nun damit zubringen, die europäische literarische Moderne zu studieren. Wenn er das überlebe, seien dicke Romane jüngerer Amerikaner dran: David Foster Wallace, William T. Vollmann und Dan Brown. Ich verkniff mir die Frage, nach welchen Kriterien er seine Auswahl getroffen habe, und schwieg von meinen eigenen Versuchen, die Weltliteratur im Handstreich zu erobern. Gescheitert waren sie allesamt. Statt den Ulysses zu Ende zu lesen, hatte ich aus hier nicht zu erörterndem Anlass ein Buch mit dem Titel Der Tod des Märchenprinzen studiert, die Lektüre von Becketts Der Namenlose fiel dem kurzlebigen, aber heftigen Interesse an den Erzählungen eines wettsüchtigen Trunkenboldes aus Amerika zum Opfer, und als RTL und SAT1 damit begannen, nachmittags Wiederholungen alter Fernsehserien auszustrahlen, war es endgültig um meine guten Vorsätze geschehen. Während die für teures Geld erworbenen Klassikerausgaben langsam von einer Staubschicht überzogen wurden, saß ich in unserer Wohngemeinschaftsküche und guckte Bonanza, Mit Schirm, Charme und Melone oder Männerwirtschaft. Gelegentlich warf ich einen Blick in eines der vielen Rezensionsexemplare, die mir die Redaktion dieser Zeitschrift in Erwartung eines sachkundigen, wohlformulierten Urteils zuschickte, las hier einen Abschnitt und dort ein paar Verse und griff dann doch wieder zur Fernsehzeitschrift, um die wichtigsten audiovisuellen Ereignisse der kommenden Tage zu markieren. Heute schiebe ich diese schnöde Missachtung zeitgenössischer Hochkultur gerne auf deren bemitleidenswerten Zustand, doch eigentlich müsste ich für meine Ignoranz mit der Lektüre aller Romane des vor fünfzehn Jahren verstorbenen Schriftstellers Hermann Lenz büßen, gilt dieser doch vielen Literaturkundigen als einer der wirklich großen Autoren der Nachkriegszeit - ein Ausdruck, bei dessen Niederschrift mich immer ein wenig schaudert. Wenn ich mich also heute in meinem Rezensionsregal umschaue, geschieht dies in einem Zustand höchster Demut. Und wie es der Zufall will, stoße ich auf ein wunderschön gestaltetes Büchlein mit 44 Texten des vielseitigen Dichters André Schinkel, der in starken Worten das irdische Walten unserer Gattung beklagt. "Wir masturbieren welk vor dem Lichtgeflacker der, wie wir meinen, bezwungenen Elektronen", heißt es da. Allerdings dürfte, wer dem freudlosen Tun befriedigungshungriger Individuen solch poetische Formulierungen abringt, seinen Glauben an die Kunst noch nicht ganz aufgegeben haben, obwohl kurz darauf konstatiert wird, von der "Schönheit der Dinge" hätten wir nichts begriffen. Wer das für einen Widerspruch hält, sollte bedenken, dass es seit jeher ein Privileg der Dichtung war, ihre eigene Unzulänglichkeit in Worte zu fassen. Zumal uns Schinkel selbst mit Gedichten wie seinem anrührenden "Mondgartenlied", in dessen letzter Strophe wacker "Schwarz" auf "Rabatz" gereimt wird, in eine ausgesprochen heitere Stimmung versetzt. Dann allerdings erschrecken wir beinahe, wenn uns Alban Nikolai Herbst in einem Aufsatz für das literarische Journal Palmbaum daran erinnert, dass Literatur widerspenstig zu sein habe, dass sie "Anmaßung, Überhebung, Leidenschaftlichkeit" brauche. Recht hat der Mann. Aber was nutzen solche Appelle, machte doch die Kunst schon immer, was sie will. Und die Zeiten, da sich, wie die Legenden der Avantgarde erzählen, ein saturiertes Bürgertum von entschlossenen Aktionisten schockieren ließ, sind längst dahin. Was tun, frage ich mich also an diesem trüben Freitagmorgen im April, dem laut T. S. Eliot grausamsten aller Monate. Und bestrafe mich für diese, dem Hochmut des selbstgefälligen Kulturkritikers geschuldete Anmerkung mit der Lektüre eines Berichtes über das niederländische Königshaus in der Neuen Post, um dann in den Kürzestgeschichten des Münsteraner Autors Alfons Huckebrink von der Begegnung mit einem professionellen Weltverbesserer zu lesen, der wie die Inkarnation seiner eigenen Phrasen daherkommt. Huckebrinks anonymer Erzähler hingegen betreibt seine Desillusionierung, sei es vor dem Fernseher oder beim Lebensmittelkauf, mit Elan. Missmutig wird er dabei nicht, eher ließe sich seine Stimmung als gelöst-melancholisch bezeichnen. Und wenn er mit der Dame an der Supermarktkasse zur Freude der in der Schlange Wartenden ein Duett anstimmt, kann es sogar recht fröhlich zugehen. Vorbildlich, denke ich, und murmle einen Vers des Barockdichters Martin Opitz vor mich hin: "Ich weiß nicht was ich will,/ ich will nicht, was ich weiß./ Im Sommer ist mir kalt,/ im Winter ist mir heiß." |