Es ist ein ungeschriebenes Gesetz: Jeder Kolumnist darf einmal in seinem Leben darüber schreiben, dass ihm nichts einfällt, womit er seine Kolumne füllen könnte. Doch das stimmt hier gar nicht, denn es gibt durchaus einige Dinge, die ich meinen Leserinnen und Lesern unbedingt mitteilen möchte, mir fehlte nur der passende Einstieg. In einer solchen Notlage darf jeder Kolumnist einmal in seinem Leben ein ungeschriebenes Gesetz erfinden. Tatsächlich gibt es gar keine Vorschriften für Kolumnisten. Sie dürften schreiben, wie und was sie wollten, behauptete einst Ulrike Meinhof in einer ihrer Kolumnen für konkret, jedenfalls solange deren Eigenwilligkeit Leser an die Zeitschrift binde und damit als Profitfaktor für den Verleger tauge. Solche Überlegungen erübrigen sich an dieser Stelle, da Am Erker kein gewinnträchtiges Unternehmen ist und mein Honorar schon seit vielen Jahren aus abgelegten Rezensionsexemplaren besteht. Wahrscheinlich werde ich nur aus alter Gewohnheit weiter beschäftigt. Früher einmal, als meine Nase noch tief im Literaturbetrieb steckte, konnte ich die wesentlichen Trends des damals gern so genannten "Bücherherbstes" bereits im Januar vorhersagen. Das "Fräuleinwunder", von dem die deutsche Literatur des frischen Jahrtausends heimgesucht wurde, hatte mich ebenso wenig überrascht wie die scheinbar plötzlich wiedererwachte "Freude am Erzählen". Ein Sub-Genre wie der Hauptstadtroman wurde an dieser Stelle schon zum ausgereizten narrativen Vehikel erklärt, als die Feuilletons dessen Existenz noch gar nicht bemerkt hatten. Von Oer-Erkenschwick aus betrachtet wirkte Berlin schon immer provinziell.
Doch heute, da auch ich im weltweiten Netz hänge und mühelos in das ewig aufgeregte Summen und Brummen des Betriebs einstimmen könnte, langweilt mich die literarische Besserwisserei zutiefst. Vielleicht sollte ich mich wie manch geschätzter Starkolumnist den kleinen und kleinsten Dingen des Alltags zuwenden. Eckhard Fuhr beispielsweise wetterte neulich furios gegen die Grilltomate, und Axel Hacke beklagte die zunehmende Beliebtheit des Superlativs, während Harald Martenstein zu Protokoll gab, dass er im Gegensatz zu den bedauernswerten Politikern glücklicherweise keine Meinung zu den so genannten "großen Themen" haben müsse.
Beschäftigen wir uns also in den folgenden Zeilen mit ausgesprochenen Marginalien. Da wäre erstens der Roman Der Cembalospieler der von mir seit langem bewunderten Erzählerin zu nennen. Dieses bemerkenswerte Buch erschien bereits vor vier Jahren, doch erst jetzt kam ich zur Lektüre. Und fast hätte ich, was bedauerlich gewesen wäre, schon auf der zweiten Seite wieder aufgehört. Da sagt nämlich eine Mutter zu ihrem fünfjährigen Sohn – wir befinden uns in den späten Fünfziger- oder frühen Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts – folgenden Satz: "Hör auf zu nerven". Soweit ich weiß, konnte man damals höchstens jemandem auf die Nerven gehen. Dass aus dem Nomen ein gebräuchliches Verb wurde, sollte noch mindestens ein Jahrzehnt dauern. Solch ein Misston vermag mir in diesen Tagen schon die Lektüre zu verleiden. Dass ich dann doch weitergelesen habe, war eine gute Entscheidung, wäre mir doch ansonsten ein großartiges Selbstporträt des Künstlers als leidender wie triumphierender junger Mann entgangen.
Auch s aktueller Roman über den Zerfall eines Essener Frottee-Imperiums hat mir eigentlich sehr gefallen. Hier muss man immerhin über 200 Seiten lesen, bis eine Figur, die bis dahin "Gustav" geheißen hatte, sich als "Alex" aus der Handlung verabschiedet. Gustav/Alex ist übrigens Journalist und berichtet aus China über die Arbeitsbedingungen dort, wo Billigware für den Export nach Europa und in die USA hergestellt wird. Die Textilindustrie ist zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Absprung nach Bangladesh, denn da sind die Löhne noch niedriger. Aber Tietjen und Söhne, die Frotteefabrikanten aus dem Ruhrgebiet, sind nicht einmal mehr durch eine weitere Senkung der Produktionskosten zu retten. So geht es zu im globalen Kapitalismus, von dem ich mir immer gern erzählen lasse.
Mit Vergnügen lese ich auch Geschichten aus der österreichischen Provinz. lässt in ihrem Beinahe-Kriminalroman Die Unzertrennlichen eine Wiener Rechtsmedizinerin in ihre steirische Heimat reisen, dorthin, wo nach starkem Schnapsgenuss gerne Nazi-Sprüche geklopft werden und jeder Fremde Argwohn erregt. Sissi, so heißt die Heldin, kommt zur Beerdigung ihres Vaters, landet aufgrund eines Blitzschlags erst in dessen Grab und später im Bett des Mannes ihrer vormals besten, zwei Jahre zuvor unter mysteriösen Umständen verschwundenen Freundin. Dass es da allerhand aufzuklären gibt, versteht sich, hat uns aber an dieser Stelle nicht zu interessieren. Wichtig ist mir vielmehr ein Satz, der sich auf Seite 150 des Romans befindet: "Ein Roman von Patricia Highsmith, einer Schriftstellerin, von der Regina fasziniert gewesen war." Warum unterläuft einer ordentlichen Stilistin wie Faschinger so ein hässlicher Satz, dessen Konstruktion die Wiederholung des Wörtchens "von" erzwingt. Das klingt fast so schlimm wie die um sich greifende Verwendung der Fragefürwörter "welche" und "welcher" als Relativpronomen. Wenn das so weitergeht, beginne ich vielleicht noch damit, Leserbriefe an die Frankfurter Allgemeine zu verfassen. Und das ist wirklich eine gruselige Aussicht. Da bleibe ich lieber weiterhin ein kleinkarierter Kolumnist. |