Dass ich kein wohlhabender Mann bin, habe ich
an dieser Stelle bereits ausführlich kundgetan. Eine mir
wesentlich peinlichere Tatsache, mein Verhalten in Gesellschaft
betreffend, wurde den Lesern dieser Kolumne bislang vorenthalten.
Doch damit ist es nun vorbei. Die Wahrheit muss an das brutale
Licht der Öffentlichkeit.
Es mangelt mir an Takt. Mein Benehmen lässt zu wünschen
übrig. Ich bin ein Rüpel. Ja, eben dieses böse
Wort warf mir der gewöhnlich sehr zurückhaltende Herr
Krause von der Trinkhalle erst vor ein paar Tagen an den Kopf.
Wahrscheinlich, so fuhr er sinngemäß fort, übte
ich nur deswegen den obskuren Beruf des Gesellschaftskritikers
aus, um der Kritik der Gesellschaft an mir zuvorzukommen. Ich
war Krause für diese klaren Worte dankbar. Schon zu lange
war mein Verhalten aus einem falschen Toleranzideal heraus geduldet
worden. Während meiner Schulzeit an einem kleinstädtischen
Gymnasium rümpfte niemand die Nase, wenn ich übel riechende
Leberwurstbrote auspackte, und ebenso wenig wurde ich zurechtgewiesen,
wenn ich diese geräuschvoll bei offenem Munde verschlang.
Später an der Universität saß ich gewöhnlich
in mottenzerfressene Pullover und schmutzstarrende Nietenhosen
gekleidet in literaturwissenschaftlichen und soziologischen Seminaren
herum, warf meinen Kommilitoninnen lüsterne Blicke zu, kratzte
ungeniert meine ungewaschene Haut und brüllte in regelmäßigen
Abständen Klassenkampfparolen in den Raum. Denn, auch das muss
hier schonungslos gesagt werden, ich dachte gar nicht daran, der
Gesellschaft ihr Entgegenkommen zu danken, im Gegenteil. Aufgestachelt
durch die halbverstandene Lektüre aufrührerischer Schriften
begehrte ich gegen diese "repressive Toleranz" auf und
erkor das Attribut "bürgerlich" zu meinem Lieblingsschimpfwort.
Meine jetzige, manchmal durchaus trostlos zu nennende Situation,
ist, wie mir durch Krauses Klartext schlagartig deutlich wurde,
weitgehend selbst-verschuldet, denn mit nur ein klein wenig mehr
Anpassungsbereitschaft könnte ich die Annehmlichkeiten einer gehobenen
Position an Schule oder Universität genießen. Nach
unkultivierten Rabauken wie mir haben die Einstellungsbehörden
damals regelrecht gefahndet. Doch ich verirrter Geist lehnte die
bürgerliche Gesellschaft so stark ab, dass ich ihr nicht
einmal den Wunsch nach Selbstzerstörung erfüllen wollte,
und zog mich auf die wenig lukrative, aber ideologisch beruhigende
Position des Kritikers zurück. Und war zufrieden, bis Kioskbesitzer
Krause jene inkriminierenden Worte sprach, nur weil ich nicht
auf meine "Welt" warten wollte, bis der alte Konopka
sein gesammeltes Leergut der letzten vier Monate auf dem Tresen
der Trinkhalle aufgestellt hatte. Denn ich war wirklich in Eile.
Immer näher rückte der Redaktionsschluss, und noch keine
Zeile war geschrieben. Gelesen hatte ich eigentlich genug, doch
mir wollte partout nichts einfallen. Vollkommen sprachlos war
ich angesichts der wunderbaren erotischen Welt der Sophie
Andresky, die so gar nichts mit meinem Dasein zwischen
Modellbau, Fernsehen und Bücherregal zu tun hat. Was es nicht
alles gibt in den Köpfen junger Frauen! Da staunt selbst
einer wie ich, der sich noch schwach an die Zeiten der sogenannten
sexuellen Revolution erinnern kann. Und beim Vergleich mit den
verklemmten Sex-Storys in den muffigen Konkret-Heften aus
den späten Sechzigern, die ich neulich vom Dachboden geholt
habe, schneiden Andreskys pointenstarke und ironische Geschichten
von lüsternen Damen und standfesten Herren hervorragend ab. Die
Frau kann nämlich schreiben und handhabt das derbe Vokabular
des Unterleibsdiskurses mit verblüffender Eleganz.
Direkt zur Sache kommt auch Henrik Hieronimus,
ein blutjunger Bukowski-Adept aus dem westlichen Münsterland,
dessen Erlebnisse beim Straßenbau wohl die Grundlage für seinen
schmalen Erzählungsband Morgens an irgendeinem Tag
lieferten. "Kalle aß ein ganzes Hähnchen zum Frühstück",
beginnt die Titelgeschichte, die wie viele der Texte eine drastische
Illustration des göttlichen Urteilsspruchs nach der Vertreibung
aus dem Paradies darstellt, nämlich dass der Mensch sein
Brot künftig im Schweiße seines Angesichts verzehren
müsse. Hendrik Hieronimus schreibt Literatur der Arbeitswelt
ohne moralischen Zeigefinger oder aufdringliche Sozialkritik.
Das liest einer wie ich gerne, schien es doch bisweilen, nahm
man die vielen Erzählungen aus den einst hell erleuchteten
schicken Büros der sogenannten New Economy zum Maßstab,
als ob die harte körperliche Arbeit ausgestorben wäre.
Nicht dass es mir unrecht wäre, könnte ich mein Geld
so leicht verdienen wie jener Journalist, der in Georg
Kleins Kurzgeschichte "Nico, komm!" von einer
seltsamen Begegnung im Nachtzug von Köln nach Berlin erzählt.
Während ich mir jede Zeile mühsam abringen muss, formuliert
Niklas Jähner die 120 Zeilen seiner erfolgreichen Kolumne
"Ich sage alles meiner Mutter" locker während der
nächtlichen Fahrt. In dieser geht es um den Mitarbeiter eines
Kölner Fernsehsenders, der seine Sonntage regelmäßig
in Berlin verbringt, um mit seiner Mutter Kaffee zu trinken. Und
da die alte Dame unter der Woche vor allem ferngesehen hat, drehen
sich die Unterhaltungen zwischen Mutter und Sohn um eben dieses
Medium. Eine merkwürdige Idylle, die mit dem bindungslosen
Leben Jähners nichts zu tun hat, ihm aber einen großen
Erfolg bei seinen Lesern beschert. Während also der Journalist
die ersten Zeilen schreibt, gesellt sich ein Kind zu ihm, lässt
ihn an einem Computerspiel teilhaben, stellt unangenehme Fragen
und verschwindet, als es gerufen wird. Das Kind Nico, ob Junge
oder Mädchen, bekommt Jähner nicht heraus, ist vielleicht
so real wie die Figuren der Kolumne. Auf wenigen Seiten verfertigt
Georg Klein ein komplexes Arrangement, dessen Verweischarakter
so trügerisch ist wie die Merkmale, anhand derer der Kolumnist
das Geschlecht seines Gesprächs- und Spielpartners zu bestimmen
versucht. So fühlt sich der Leser ein wenig wie der Protagonist,
der mit der maximalen Punktzahl das Spiel gewinnt, obwohl seine
Spielfigur ihr computergeneriertes Leben lassen muss.
Ist Ihnen das zu kompliziert? Dann bitte ich vielmals um Entschuldigung
und empfehle Ihnen, Kleins Erzählband Von den Deutschen,
in dem der Text abgedruckt ist, selbst zu lesen. Es lohnt sich.
Und wenn Sie schon mal in der Buchhandlung sind, lassen Sie sich
unbedingt noch das neue Buch von Ror Wolf dazupacken.
Niemand beherrscht das Genre der sich selbst vernichtenden Geschichte
so gut wie der nach etlichen Umzügen in Mainz ansässige
Erzähler, Enzyklopädist und Collagist. Die siebenundvierzig
Ausschweifungen des schmalen Bändchens, das unter dem
unspektakulären Titel Zwei oder drei Jahre später
daherkommt, belegen, dass der Rang einer Geschichte nicht von
der Beschaffenheit des Ereignisses, das sie zu schildern vorgibt,
abhängt. Ob in Worms ein Glas Bier in einem Zug getrunken
wird oder ob ein Konditor in Köln beobachtet, wie ein Kellner
an dem Versuch scheitert, seinen Schlüssel aus einem Gully
zu fischen: Städte, Namen und Geschehnisse verbinden sich
zu verführerischen Sätzen, die den Reiz dieser einzigartigen
Prosa ausmachen. "Vielleicht sollte ich über Berlin
reden, über diese langsam verdunstende Stadt am Rande Mitteleuropas,
über die Lust und den Schmerz von Berlin." Ein schöner
Satz, um eine Geschichte zu beginnen, vor allem, weil ihm fünf
Sätze folgen, die ihn Stück für Stück negieren.
Sie wollen selbst sehen, wie das funktioniert? Dann müssen
Sie lesen. Allerdings wurde mir zugetragen, dass der Name Ror
Wolf jungen Buchhändlern kaum noch geläufig sei. Richten
Sie sich also darauf ein, ihn buchstabieren zu müssen.
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