Am Erker 75

Erker-WG

 
Essays
Lange Nächte am Dahlweg 64.
Erinnerungen aus den frühen Jahren des Erkers

Rudolf Gier
 

Wir schreiben das Jahr 2018. Joachim Feldmann, Michael Kofort und ich, die Anfang der achtziger Jahre als Studenten und WG-Genossen die Zeitschrift Am Erker herausgaben, sind inzwischen sechzig geworden. Und das Literaturmagazin erscheint mit der 75. Ausgabe im 41. Jahrgang. Wäre ich der Undergrounddichter Charles Bukowski, würden meine Erinnerungen vermutlich so beginnen: Mann, ihr alten Säcke, wo sind sie hin, all die verfickten Jahre.
Ich bin aber nicht Charles Bukowski und fange lieber anders an, zum Beispiel so: Gern erinnere ich mich an die Zeiten, als wir noch junge Männer waren, voller Tatendrang, und am Dahlweg 64 in Münster wohnten. Den größeren Teil des Lebens hatten wir da noch vor uns.
Über meinem Schreibtisch hängt ein Foto aus dieser Zeit. Es zeigt drei lebenshungrige und WG-erprobte Kerle, voll im Saft: Herr Feldmann, Herr Kofort und Herr Gier. Es mag für Außenstehende befremdlich klingen, aber wir redeten uns gern mit Nachnamen und "Herr" an, obwohl wir alles andere als feine Pinkel waren. Ich vermute, es war eine Marotte, mit der wir das Establishment verhöhnen wollten.
Das Wort "fein" ging uns übrigens oft und gern über die Lippen. Einer von uns hatte etwas "Feines" gekocht, wir trugen "feine" Jacken - das waren alte schwarze Jacketts vom Flohmarkt oder woher auch immer -, man trank in seiner "feinen" Jacke in der "feinen" WG-Küche sitzend ein "feines" Felskrone-Bier und hatte sich eine "feine" neue Platte gekauft.
Stundenlang hockten wir zusammen und hörten alte und neue LPs, für die wir unser letztes Geld ausgegeben hatten. Tom Waits, Bob Dylan, Thelonious Monk, Art Blakey, Joe Jackson, John Coltrane, Bill Evans, Keith Jarrett, Jan Garbarek, Talking Heads, Van Morrison und so weiter und so fort. Wie oft haben wir die dicke Prestige-Box mit den zwölf Alben von Miles Davis wohl rauf und runter genudelt? Bestimmt haben wir sie an manchen Abenden komplett durchgehört, ungefähr acht Stunden lang. Nebenbei führten wir Gespräche, auch heftige Diskussionen, die uns um den wohlverdienten Schlaf bringen konnten.
An eine dieser Kontroversen kann ich mich besonders gut erinnern. Es war spät geworden, und wir drei saßen noch zusammen. Es ging ungefähr um folgende Frage: Ist jemand, der einen Mode-Laden betritt, ein schickes Jackett kauft, am nächsten Morgen früh um sechs aufsteht, sich das neue Designerstück überzieht und frohlockend aufs Fahrrad schwingt, um zu einer bürgerlichen Firma zu rauschen und dort seinen Semesterferienjob im Büro des Vater anzutreten, ist jemand, der so etwas tut und vor allem in so einem Aufzug, nicht gerade auf dem besten Wege, ein kleinkarierter spießbürgerlicher Scheißer zu werden? Darüber konnten wir ernsthaft stundenlang philosophieren. Im Nachhinein frage ich mich, ob manche unserer ausschweifenden Diskussionen ohne die eine oder andere Flasche Felskrone nicht ganz anders verlaufen und vor allem viel früher zu Ende gewesen wären.
Neben Literatur und Musik drehte sich unser gemeinsames Leben auch um existenzielle Fragen. Wer spült wann das Geschirr oder putzt das Bad? An solchen Problemen zerbrechen viele WGs, und manchmal waren auch wir nah dran zu scheitern. Dokumentiert sind solche Szenen in meiner Geschichte "As Time Goes By", erzählt aus der Sicht eines Haushaltsroboters, den wir in meiner Fantasie glücklicherweise irgendwann angeschafft hatten. Sam, so nannten wir ihn, schildert detailversessen, wie er unseren Lieblingssong aus dem Kultfilm Casablanca spielt und singt und nebenbei den Haushalt erledigt:
"Mehrmals am Tag räumte ich ohne jeden Missmut die Spülmaschine aus, stellte schwungvoll die Teller, Tassen und Töpfe in die Schränke und wischte, den Schrubber wie einen Kontrabass in den Armen wiegend, beinahe tanzend die Küche. Obwohl ich nur ein Haushaltsroboter war, Modell Plox 235 Onkel Tom, behandelten mich die Studenten wie einen guten alten Freund. (…) Einer von den dreien hatte eines Tages rigorose Küchenregeln eingeführt, offensichtlich zu dem Zweck, sich selbst möglichst wenig am Haushalt beteiligen zu müssen. Er aß am häufigsten und benutzte folglich permanent Geschirr, kochte bis zu fünf Mal am Tag Kakao und nahm für jeden Durchgang einen neuen Topf. Die Folge: Der klassische Geschirrspülberg türmte sich ins Unermessliche, wobei die in den Töpfen festgebrannten Kakaoreste für die anderen zu einem Spültrauma wurden. Wer zufällig Küchendienst hatte, war für die Reinigung zuständig. Durch die zu seinen Gunsten durchgesetzte Lösung war es dem Kakaoneurotiker gelungen, die Mitbewohner zu übervorteilen, was ihr einvernehmliches Zusammenleben nicht eben förderte. Gerade in dem Augenblick, als sich erste Auflösungserscheinungen in der WG abzeichneten, zog ich bei ihnen ein. Mein unermüdlicher Schaffensdrang trug nicht nur zu einer neuen, unkomplizierten Haushaltsführung bei, sondern leitete darüber hinaus einen emotionalen Aufschwung ihrer zwischenmenschlichen Beziehungen ein, und schon bald waren alle Dissonanzen wie weggeblasen."
Trotz mancher Widrigkeiten und nicht zuletzt mit Hilfe solcher Geschichten "aus dem fiktiven Alltag", für die wir eine Schwäche hatten, überstand die WG alle Höhen und Tiefen und sicherte damit auch das Projekt Am Erker. Die Zeitschrift entwickelte sich zum wichtigsten Lebensinhalt des Herausgebertrios und Wohnkollektivs, kurz: Am Erker wurde zum Nabel der Welt.
Tage- und nächtelang wurden Geschichten gelesen, ausgesucht und gesetzt, damals noch mit Schreibmaschine und Tipp-Ex. Die Texte wurden in Handarbeit mit Schere, Illustrationen aus der Peking Rundschau und anderem skurrilen Bildmaterial und mit Fixkleber in ein experimentelles Layout gebracht. Hierbei war ein Leuchttisch hilfreich, den Koforts Vater für uns gebaut hatte. Man musste das Gerät mit den Neonröhren, die in dem Holzkasten und unter den Glasscheiben nach wenigen Minuten sehr heiß wurden, häufig ausschalten und eine Layoutpause einlegen, um zu verhindern, dass der Kleber schmolz oder die aufliegenden Papierbögen in Flammen aufgingen.
Wenn die Ausgabe gedruckt bzw. fotokopiert vorlag, fing die eigentliche Arbeit erst an, und die drei Zeitschriftenbarone mussten durch die Kneipen Münsters ziehen und Am Erker im Handverkauf unter die Leute bringen. Eine der schwierigsten Aufgaben bestand darin, unter den zahlreichen Kneipenbesuchern die wenigen echten Literaturliebhaber herauszupicken, was nicht immer gelang. "Stehen da denn auch die Fußballergebnisse drin?", bekam man nicht selten zu hören. Oder: "Habt ihr wenigstens nackte Weiber in eurem Magazin?"
Die Verkaufstouren liefen in der Regel so schlecht, dass man froh sein konnte, drei oder vier Exemplare pro Abend losgeworden zu sein. Nicht genug, dass die Zeitschriftenverkäufer über die geringe Resonanz verzweifelten, manchmal waren sie regelrecht schockiert über so viel kulturelle Ignoranz in der Welt.
Zum Teil fanden solche traumatischen Erlebnisse ihren Niederschlag in literarischen Textproduktionen. So schrieb Feldmann eine Geschichte mit dem Titel "Kübelkötter". Im Mittelpunkt steht ein Hausierer, der mit einem unwilligen Kunden vor dessen Haustür um ein Zeitschriftenabonnement ringt, nicht im sprichwörtlichen, sondern im wahrsten Kampfsinne des Wortes. Die Fernsehzeitschrift Hör zu, um deren Abonnement es in der Story geht, steht natürlich für Am Erker, eine Idee, die auf die vielen negativen Handverkäufererlebnisse zurückzuführen ist.
Diese schöne Geschichte ist übrigens später von Kofort kongenial verfilmt worden. In den achtziger Jahren war es möglich geworden, mit relativ preiswertem Equipment Videofilme zu produzieren, eine Entwicklung, die auch im Dahlweg 64 Einzug hielt und kreativ genutzt wurde.
Verschiedene Umstände führten dazu, dass Feldmann Ende der achtziger Jahre als Erster die legendäre WG verließ. Zuletzt räumte Kofort 2016 das Feld. Das ehemalige Mietshaus ist inzwischen abgerissen worden. Auf dem Grundstück entsteht gegenwärtig ein neues Gebäude, dessen Wohneinheiten im Gegensatz zu früher weitaus kommerzieller und gewinnträchtiger vermarktet werden.
Friedhelm Wenning, Helmut Monkenbusch, Uli Nebel, Gottfried Höfker, Jörg Kallmeyer, Uschi Müller, Gisela Krull, Iris Wittenbecher, Thomas Delfmann, Oliver Sill, Martin Ebbertz und Andreas Verstappen stießen für einige Ausgaben zur Redaktion und verließen sie wieder. Manche sind allerdings bis heute aktiv der Zeitschrift verbunden. Neben Am Erker-Mitbegründer Joachim Feldmann, inzwischen in Recklinghausen ansässig, gehören gegenwärtig Georg Deggerich (Krefeld), Andreas Heckmann (München), Marcus Jensen (Berlin), Gerald Funk (Marburg) und Frank Lingnau (Münster) zur Redaktion. Die neuen Mitarbeiter trugen zur Professionalisierung der Zeitschrift bei. Michael Kofort als Geschäftsführer und ich als Layouter unterstützen die Herausgeber. Und Andreas Verstappen versorgt das Magazin regelmäßig mit skurrilen Cartoons. Seit 2006 erscheint Am Erker nicht mehr im Eigendruck, sondern im Münsterschen Daedalus Verlag von Jo Herbst.
Die Zeit der Ur-Erker-Redaktion liegt zwar schon vierzig Jahre zurück, ist aber nach wie vor ein wichtiger Eckpfeiler für unsere Freundschaft. Wenn man sechzig geworden ist und sich fragt, was man zustande gebracht hat in seinem Leben, liegt die Antwort in unserem Fall auf der Hand: neben vielen anderen Dingen vor allem die Literaturzeitschrift Am Erker.