Am Erker 73

'1984' (Verfilmung von 1956)

Caspar David Friedrich: Der Wanderer über dem Nebelmeer (1818)

C. A. Barry: Dickens auf der Bühne im Bostoner Tremont Temple, 1867

Mémoires récréatifs, scientifiques et anecdotiques du physicien-aéronaute E.G. Robertson (1831)

 
Essays
Jenseits des Lesbaren. Augmentierte Realität und Literatur
Miguel Peromingo
 

"Luther should have had a full view of the Room in which he was sitting, of his writing Table and all the Implements of Study, as they really existed, and at the same time a brain image of the Devil, vivid enough to have acquired apparent Outness (...)"
Samuel Taylor Coleridge: The Friend


Erweiterte oder Augmentierte Realität (AR) ist in ihrer digitalen Form kein Senkrechtstarter. Auch wenn Beratungsfirmen wie McKinsey uns wie eine tibetanische Gebetsmühle predigen, dass alles, was virtuell, artifiziell oder augmentiert, insbesondere wenn es auch noch intelligent ist, zigmal schneller, effizienter und einflussreicher ist als jede Frucht der industriellen Revolution selbst, so haben wir außer spätpubertierenden Pokémon-Go-Jägern im Stadtpark und Google Glass tragenden Soziopathen bisher nicht viel zu sehen bekommen. Der geschäftsmäßige Versuch, die Holodecks aus Star Trek oder Minority Report in unsere Welt zu überführen, um darauf unterhaltsame oder informative Inhalte zu zeigen, scheitert bisher an Angst vor zu viel Transparenz oder schlicht daran, dass die augmentierenden Gerätschaften bescheuert aussehen.
Auf dem Büchermarkt haben Bemühungen, das Lesevergnügen virtuell zu erweitern, schwerfällige mediale Gimmicks hervorgebracht, die sich auf Didaktikmessen gut präsentieren lassen oder das Kleinkind kurz an die Couch fesseln, aber fernab von Durchbrüchen wie der Gutenberg-Presse oder dem E-Book sind.
Gleichwohl ist die Realitätswahrnehmung, die der Augmented Reality zugrundeliegt, nämlich die Erweiterung von Sinnesmodalitäten und dadurch implizierte Überlagerung und Verschiebung von Erlebbarem, ein faszinierendes Konzept und eines, das die Literatur und die Kunst, ja die Geisteswissenschaften schon seit langem begleitet.
Platons Höhlengleichnis ist ein frühes Spiel mit den Grenzen dessen, was wir wahrnehmen und dem, was vom Unwandelbaren projiziert wird. Es setzt voraus, dass die Welt, die wir erleben, nur ein Ausschnitt des big picture ist und von daher eine Augmentierung, etwa durch Bildung erfordert, um letztendlich aus ihr befreit werden zu können und den Prototypen der Wirklichkeit zu sehen.
Ignatius von Loyola, der grimmige Gründer der Jesuiten, spricht in seiner Exercitia Spiritualia gar von der Möglichkeit, sich durch disziplinierte Vorstellungskraft aus der Gefangenschaft des Körpers zu lösen und diesseitig unerreichbare Szenarien wie die Hölle durch suggestive Sinneswahrnehmung zu erkunden. Das liest sich wie ein Handbuch früher Augmentierung, und auch wenn Loyola sozusagen der Antichrist der Modernisten ist, so hat er doch den Gedanken gesät, dass Imagination selbst im irdischen Jammertal Realität erweitern kann.
Dieser Samen der Hoffnung erblüht in der Moderne und Postmoderne zu einer duftenden Wiese bunter Blumen.
In der Renaissance etwa wird die Augmentierung der Realität ein probates Mittel, um Utopien alternativer (moderner) Lebensformen zu beschreiben. Die Neuinterpretation des altgriechischen Schäferidylls Arcadia erfährt in den Händen Sir Philip Sidneys oder Lope de Vegas realitätsverzerrende Elemente. Das Erweitern der erlebten Welt lässt in diesen Werken keinen Stein auf dem anderen und verstört die Protagonisten. Geschlechter werden durch Crossdressing aufgeweicht, Altern wird relativ, und die Farbe des Grases und der Bäume scheint bizarr und dadurch umso schöner.
Der bewusstseinserweiternde Effekt von alternativer Realitätsbetrachtung jenseits der Grenzen des Mittelalters schafft nicht nur in der Literatur Werke eines goldenen Zeitalters. Die Renaissance ist auch die Zeit, in der bauliche Augmentierungen der Realität ihren Weg in den Mainstream finden. Parks werden integrale Bestandteile der Urbanität. Artifizielle Welten wie der Zoo oder der Zirkus befinden sich auf dem Vormarsch.
Pedro Calderón de la Barca schafft mit seinem Gran Teatro del Mundo wiederum eine Mischung aus Kunst, Theater und hybrider Darbietung. Der Mensch wird in ein Theaterstück geboren. Alles was er tut, entspricht einer Rolle, die ihm zugedacht worden ist, um am Ende doch nackt von der Bühne zu gehen. Calderón erweitert den Begriff menschlichen Seins, indem er ihn auf eine Bühne limitiert.

Augmentierungen und Verschiebungen der Realität finden in der Literaturgeschichte über Percy B. Shelleys "Mechanized Automaton" oder Antonin Artauds avantgardistische Mischung aus Essay und surrealem Film bis heute ihren Weg in die vermeintliche Mainstream-Literatur. In der jüngsten Erzählung Daniel Kehlmanns findet der Held zu spät heraus, dass die schiefen Winkel in seiner Urlaubshütte in den österreichischen Bergen darauf hindeuten, dass er die wirkliche Welt längst verlassen hat.
Augmentierte Realität in und durch Literatur überschreitet Grenzen des Wahrnehmbaren. Diese hyperreale Vermischung führt dazu, dass Merkmale erlebt werden, die außerhalb der alltäglichen Einordnung des Erklärbaren liegen. Je nach Gemüt des Lesers bzw. des Konsumenten kann dieser Wiedererkennungseffekt des Nicht-Erkennbaren von einem Gefühl von Schönheit oder von Furcht dominiert werden.
Widmen wir uns zunächst der Furcht, dem Unheimlichen.
Zwei häufig literarisch verarbeitete oder verwendete Konzepte augmentierter Realität werden mit Furcht verbunden: das Panoptikum und die Phantasmagorie.
Das Panoptikum war ursprünglich ein Gebäude, in dem, von einem zentralen Punkt aus, alle sternförmig verlaufenden Korridore einzusehen sind. Diese Idee der totalen Überwachung ist seit dem viktorianischen Zeitalter oft für Fabriken und Gefängnisse verwendet worden, zum Beispiel für die Holloway Prison in London oder die Justizvollzugsanstalt Moabit. Im Panoptikum wird die Augmentierung der Realität bewusst durch Angst gefördert. Der Gefängnisinsasse oder Fabrikarbeiter weiß nicht, wann er genau überwacht wird, nur dass diese Gelegenheit immer besteht. George Orwell hat in 1984 diese Augmentierung mit dem Televisor auf die Spitze getrieben.

Die Phantasmagorie ist eine Kunstform in europäischen Metropolen des ausgehenden 18. Jahrhunderts, bei der Trugbilder mit Hilfe einer Laterna Magica projiziert wurden. Dem Publikum wird suggeriert, dass sie Geister oder andere augmentierte Elemente sehen. Die gruselige Beschwörungs-Séance, die sich dieser Technik bediente, wurde mit dem Lesen von Poesie oder Essays bereichert. So entstand eine multimediale, bewusste Interaktion mit der Ungläubigkeit des Publikums. Edgar Allan Poe beschrieb Besucher von Phantasmagorien als Betrachter, die bei vollem Bewusstsein in einen Alptraum geraten.
Charles Dickens nutzte bei seinen Lesungen phantasmagorische Effekte, um seine Zuschauer zu schockieren. Seine Performances gehören zu den erfolgreichsten der Literaturgeschichte, nicht zuletzt deshalb, weil viele Besucher bei der Konfrontation mit dem Unheimlichen in Ohnmacht fielen.

Dieses Gefühl des Unheimlichen entsteht auch in der digitalen Virtualisierung unserer Welt. Androiden, also diejenigen Roboter, die nicht fiepen und nach Blechdose aussehen, sondern menschliches Aussehen und Verhalten abbilden, verursachen beim Betrachter durch ihren gleichzeitig vertrauten und doch verzerrten Habitus das Uncanny Valley, das Tal des Unheimlichen. Eine Formulierung, die an H.P. Lovecraft erinnert, dessen geplagter Held Dyer die Mountains of Madness durchquert und dabei eine Realität erblickt, die so unmittelbar scheint, dass sie unaussprechlich wird.

Furcht und Schönheit liegen in der erweiterten Welt nah beieinander. Einer anderen sichtbaren und undefinierten Landschaft stellt sich der Betrachter von Caspar David Friedrichs Panorama Der Wanderer über dem Nebelmeer. Auch hier ließe sich ein Gefühl des Uncanny Valley heraufbeschwören. Wer ist dieser Wanderer? Warum sehen wir sein Gesicht nicht? Ist er im Bild oder davor? Ist die Landschaft virtuell, oder steigt er gleich hinab? Was verbirgt sich dort unten? Und doch wendet sich dieses Werk von Friedrich, ebenso wie die Schriftsteller der Frühromantik, dem Unkontrollierbaren der Realitätserweiterung als etwas Schönem zu, in den Worten Wordsworths: the sublime.

Im Sublimen besteht die Realität aus einer Reihe von individuellen, nicht objektivierbaren Interaktionen. Diese virtuellen Welten entziehen sich einem konsequenten Zeit-Raum-Verhältnis, und jeder Versuch der Generalisierung errichtet ein irdisches Gefängnis, das den Blick für das Sublime versperrt. Nur wer das Bewusstsein des Fassbaren aufgibt, seine Realität also um das vermeintlich Unfassbare augmentiert, hat die Möglichkeit, die wirkliche Schönheit ohne Furcht zu erblicken.
Nun enthält diese intellektuelle Durchdringung des Sublimen gleichzeitig auch den Impuls zur Kontrolle der neuen erweiterten Komponenten. Das Augmentieren wird dann Bestandteil einer Realität, die zunehmend von Menschenhand konstruiert wird und verändert sich somit von der reinen Diffusion alternativer, unfassbarer Realität in eine funktionalistische Komponente des als augmentiert akzeptierten Alltags. Unter dieser Prämisse lassen sich auch scheinbar bedrohliche post-moderne Weiterentwicklungen wie die künstliche Intelligenz und das Internet der Dinge als programmierte Technologien subsumieren, denen jegliche Selbstmotivation abgeht.
Das Unheimliche oder Sublime zwischen Welten kann durch Planung überbrückt und kontrollierbar werden. Dazu bedarf es der Kooperation zwischen den Nutzern und Augmentierern der verschiedenen Realitäten. Bereits Platos Höhlengleichnis bedarf des kollektiven Bemühens, um es multipel abbilden und letztendlich überwinden zu können.
Der Kern von Literatur basiert darauf, dass Leser die angebotenen fiktiven Welten, und sei es nur in Teilen, in die ihre überführen und im Netzwerk mit anderen Lesern am Leben erhalten und weiterentwickeln, etwa durch Kritik oder Lesungen. Literatur und Kunst im Allgemeinen sind Formen der vernetzten Realitätserweiterung. Der Apparatus der Welt, fiktiv oder real, konstituiert sich durch die Summe der vernetzten Realitäten und besteht über das Medium seiner Schaffung und die Anzahl seiner Nutzer hinaus. Fiktive Szenarien leben auch, nachdem das Buch fertiggelesen ist, in der Leserfantasie weiter ebenso wie virtuelle global vernetzte Spielwelten weiterexistieren, nachdem sich der ein oder andere Spieler ausgeloggt hat.
Durch den Gedanken der Vernetzung als immanenter Bestandteil von Augmentierung kehrt nun wiederum die Bedrohung des Unkontrollierbaren zurück. Untrennbar miteinander verbunden spiegelt Augmentierung die Sehnsucht nach Veränderung und die Angst vor dem Irrationalen. Sie spielt mit den Erwartungen von durchrationalisierten Konsumenten, die wissen, dass in ihrem urbanisierten, vernetzten und durchgeplanten Alltag alternative und obskure Realitäten wie Kanalisationen, verlassene Stadtteile oder das Darknet lauern.
Augmented Reality ist keine Modeerscheinung des 21. Jahrhunderts, sie ist eine Form der Realität. Sie bildet das konstante Spannungsverhältnis zwischen dem wahrnehmbaren unbeweglichen Ist-Zustand und dem veränderlichen Versprechen einer Grenzwirklichkeit. John Milton hat diese Spannung in seinem "Pandemonium" beschrieben, in dem Gott für Stabilität steht und der Satan für die reizvolle und gefährliche Veränderung. Literatur versteht es seit langem meisterhaft, das Erweiterungspotenzial unserer Realität zu beschrieben, zu generieren und zum kollektiven Entdecken einzuladen.

 
Dr. Marie-Laure Ryan: Narrative as Virtual Reality 2. Johns Hopkins University Press. Baltimore 2015

Frank Rose: The Art of Immersion. W.W. Norton and Company. New York 2011

Peter Otto: Multiplying Worlds. Oxford University Press. Oxford 2011.

Ulrich Gehmann, Martin Reiche (Eds.): Real Virtuality. Transcript. Bielefeld 2014.