Die Schicksalsreise beginnt mit einer
Radiomeldung. Alfred Döblin hört sie und erstarrt. Der
Autor von Berlin Alexanderplatz lebt seit der Machtergreifung
der Nationalsozialisten mit seiner Familie in Frankreich, hat
als deutscher Jude die französische Staatsbürgerschaft
erworben und ist neben Thomas Mann der berühmteste literarische
Emigrant. Die bevorstehende Niederlage der Franzosen bedeutet
für ihn in den kommenden Monaten einen Kampf auf Leben und
Tod.
Das Herzstück dieser autobiographischen Schrift ist die Flucht
aus Paris durch Frankreich bis zur Überfahrt von Lissabon
aus ins rettende US-Exil. Döblin schildert seine Flucht nicht
nur "wegen ihres historischen Charakters, sondern um das
Auffällige, Eigentümliche, Unheimliche festzuhalten."
Vor allem aber um der inneren Veränderungen willen, durch
die er eine neue, lebensverändernde Einsicht erlangen wird.
Noch in Paris muss er sich von Frau und Kind trennen, die er in
eine abseitige Provinzstadt schickt, während er selbst an
der Evakuierung seiner Behörde, des Informationsministeriums,
teilnimmt. Anfangs verläuft alles noch geordnet. Mit dem
auf einen Koffer geschrumpften Besitz schleppt er sich zu einem
Güterbahnhof, wo das Ministerium in kläglichen Personenwagen
nach Tours gebracht wird. Das Gesetz des Handelns geht währenddessen
allmählich verloren, er wird zum Getriebenen: "Es war
uns aber zugedacht, bald den Zuschauerplatz zu verlassen und selber
in die Arena herabzusteigen." Auf Personenzug und noch halbwegs
organisierte Übernachtungen in Hotels und Schulgebäuden
folgt das Chaos in Viehwaggons, ohne Kenntnis des Reiseziels,
ohne regelmäßige Verpflegung, und das Vegetieren in
überfüllten Flüchtlingslagern. Diese Perspektive
von unten behält er bei: "Jetzt waren wir Masse. Es
war der erste Schritt in der Verwandlung." Bald verlässt
er seinen dienstlichen Trupp, riskiert alles, um sich auf einer
Irrfahrt durch das kollabierende Frankreich und durch Kontrollen
übereifriger Polizisten, die den gebürtigen Preußen
für einen Spion halten, zu seiner Familie durchzuschlagen.
Doch diese hat kurz zuvor ihren Zufluchtsort verlassen. Dabei
- Ironie des Schicksals - hatten sich ihre Wege unwissend gekreuzt.
Döblin gräbt sich auf diese Nachricht hin für Wochen
in einem Flüchtlingslager ein, wo er sich in das "Innere
Frankreichs" wie ein Robinson verschlagen sieht. Dort empfindet
er den "imaginären Charakter" der Reise, sie "verlief
zugleich an mir, mit mir und über mir." Auch wenn er
sich nachts mit Schlaftabletten betäubt - "Jede Stunde,
um die ich die Zeit betrüge, ist gewonnen" -, auch wenn
er sich als Mediziner Unterernährung und krankhafte Abschnürung
bescheinigt, kann er andererseits dieser Extrem-Existenz für
sein wahres Menschsein etwas abgewinnen, denn: "Bequemlichkeit
und Alltagsroutine ersticken in uns, was lebendig ist und leben
will." Zufälle deutet er als Winke, unterschiebt den
Ereignissen einen tieferen Sinn, sieht sie als eine Reise zu sich
selbst. Sein Leben lässt er Revue passieren, und auf einer
Bank in einer Kathedrale sitzend, beim Blick auf das große
Kruzifix, erkennt er sich: "Ich reiste mit leichtem Gepäck.
Ich wusste früher nicht, wie leicht es war... Der ganze Umbau
um einen Menschen, der ihn sonst über sich hinwegtäuscht,
ist nun weggeblasen. Nackt wie Robinson liege ich am Strand."
Oder er bemüht das Bild des christlichen Asketen in der Wüste,
wo das im Alltag verschüttete innere Leben freigesetzt werden
kann. Der Aufenthalt im Barackenlager hat in Döblin etwas
aufgeschlossen, aber es ist erst der Beginn, was in den USA mit
der katholischen Taufe der ganzen Familie den inneren Abschluss
seiner Schicksalsreise "zwischen Himmel und Erde" finden
wird. Am 10. Juli kommt er mit Frau und Kind in Toulouse wieder
zusammen.
Aber jetzt häufen sich die dramatischen Szenen, jeden Moment
kann ihre Flucht noch scheitern. Die Pässe müssen verlängert
werden, dann brauchen sie zusätzlich eine militärische
Genehmigung zur Ausreise: In der Kommandantur erfahren sie, dass
laut Bestimmung des Waffenstillstands Frankreich die Exilierten
auszuliefern hat, wenn der Sieger es verlangt. Das wäre das
Ende gewesen. Döblin resigniert, doch seine Frau attackiert
die sich auf ihre Befehle berufenden Offiziere, konfrontiert sie
mit ihrer Situation und beschämt so deren Ehrenkodex. "So
besiegt war man nicht, dass man sich verriet"; und sie händigen
ihnen - ein Akt des Widerstands - die Genehmigungen aus. Von ähnlicher
Dramatik ist das Ringen um die amerikanischen Visa, die Schiffskarten
und das Auftreiben des Reisegelds von einem Fremden. Dass sie
all diese scheinbar unüberwindlichen Hindernisse als Mittellose
schafften, kann sich Döblin nur als göttliche Fügung
erklären. Damit endet das erste, gewichtigste Buch der Schicksalsreise,
von Döblin gleich nach der Ankunft in Hollywood verfasst.
Es ist hinreißend erzählt: die körperlichen Strapazen,
die naturalistische Schilderung des Transports im Viehwagen, die
Eintönigkeit im Flüchtlingslager, die kafkaesken Situationen
durch eine überforderte Bürokratie, die inneren Kämpfe
zwischen Depression und religiöser Erweckung. Das alles ist
kunstvoll verknüpft mit einer multiperspektivischen Erzählweise:
des Ich-Erzählers über die Wirrungen der Reise, des
psychisch verstörten Flüchtlings, der distanzierten,
ironischen Analyse des Mediziners Döblin und der Sicht des
religiösen Mystikers.
Das wesentlich kürzere zweite Buch beschreibt den Aufenthalt
in den USA, das dritte seine ersten Jahre im Nachkriegsdeutschland.
An Amerika schätzt er, dass "Atheismus ... nicht obligatorisch
für Gebildete und für Politiker wie in Europa"
ist, doch fasst er dort vor allem wirtschaftlich nicht Fuß,
lebt in einem "luftleeren Raum". Daher lockt ihn 1945
sofort der Ruf eines Freundes, in die französische Zone als
Kulturberater zu kommen und an der Umerziehung der Deutschen mitzuwirken.
Dabei überschätzt er seine Wirkungsmöglichkeiten.
"Die deutsche Mentalität, jetzt nicht mehr nazistisch
verkleidet, erwies sich als tief heidnisch verseucht." Döblin
findet die Deutschen nach der Naziära unfähig, sich
mit der Katastrophe auseinanderzusetzen, und attestiert ihnen
einen Zustand geistiger Nivellierung. Seine literarischen Werke
stoßen auf Ablehnung. In den Deutschlandkapiteln der Schicksalsreise
zitiert er Verrisse, die ihm vorhalten, dass er "als Denker
vor der Mystik kapitulierte", ein Vorwurf, der sich gegenüber
diesem Buch wiederholen wird. Doch Döblin hat, gerade weil
er sich den neuen Gesellschaftstheorien und literarischen Moden
verweigert, einen unversperrten Blick auf die Nachkriegsrealität.
In diesem Spiegel wollen sich die Deutschen damals aber nicht
erkennen. Sie ignorieren dieses Buch nicht nur 1949 bei seinem
Erscheinen - es verkauft sich schlecht, nur 1500 Exemplare in
den ersten Jahren -, sondern sogar bis in die Nachschlagewerke
und die Literaturgeschichten hinein, teilweise bis heute.
Hans Dieter Schäfer, der Döblins Scheitern in Deutschland
nach 1945 essayistisch aufgearbeitet hat und die Schicksalsreise
als das bedeutendste Werk der vierziger Jahre bezeichnet, verweist
auf den psychologischen Hintergrund: "Döblin erkannte,
dass die Deutschen durch Rituale und eine wohlfeile rhetorische
Schuldübernahme ihre Lebensläufe abstrahierten und sich
das Trauern um die ganz private Schuld vom Leib rückten.
Wohnte im Land vorher das größte Herrenvolk, hatte
es jetzt mit Auschwitz das schrecklichste Verbrechen aller Zeiten
begangen - immer noch schwadronierte man in Superlativen. Das
Lesepublikum nahm Döblin übel, dass er klagte und persönliche
Tatsachen ernster als allgemeine Worte und abstrakte Formen nahm."
Daher die Ressentiments gegen seine Person. Sie verstärken
sich noch dadurch, dass er als Kulturoffizier in der Uniform der
französischen Besatzer auftritt, dass zwei seiner Söhne
im Krieg in der französischen Armee gekämpft haben.
1933 vertrieben als Berliner Jude, muss er nun bei seiner Rückkehr
als katholischer Franzose von neuem in Deutschland seine "trostlose
Isolierung" erfahren.
Mit diesem letzten Schicksalsschlag kommt Döblin nicht zurecht,
er erkrankt und emigriert am 29. April 1953 zum zweiten Mal nach
Frankreich.
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