Am Erker 75

Sigi Götz Entertainment 30

Sachen mit Wœrtern 8

Seitenstechen 3

allmende 100

außer.dem 24

edit 74

 
Zeitschriftenschau 75
Andreas Heckmann
 

Ulrich Mannes ist unbeirrbar. Und die Unbeirrbaren sind ausdauernd genug, um Jubiläen feiern zu können. Zwar (zum Glück) noch keine 75, doch im Dezember erschien Sigi Götz Entertainment (SGE), Mannes' Fanzine zum primär westdeutschen Non-Arthaus-Film seit den 1950ern, zum immerhin schon 30. Mal. Das Heft enthält ein Gespräch mit Erker-Autor Roland van Oystern ("Richtig hart die Knute geben") und einen nicht minder unterhaltsamen Nachruf von Clemens Klopfenstein auf den Schweizer Dialektrocker Polo Hofer, dessen berndeutsches Lied "Alperose" Nordkoreas Kim Jong-un, der nahe Bern zur Schule ging, laut FAZ damals liebend gern gesungen und auf Bongos begleitet hat. Vor allem aber präsentiert das Heft den "neuen Kanon des deutschen Films", und der hat es in sich, weil er ungerührt an Metropolis, M, Opfergang, Unter den Brücken und Angst essen Seele auf vorbeigeht und 99 ganz andere Filme in Kurzporträts vorstellt, etwa Jugerts Der Meineidbauer (1956), Thieles Venusberg (1963), Olsens Käpt'n Rauhbein aus St. Pauli (1971) oder Nekes' Johnny Flash (1986). Die Kurzbeschreibungen von Könnern wie Rainer Knepperges, Hans Schifferle oder Mannes selbst haben es jedenfalls derart in sich, dass ich mir eine DVD-Box wünsche, die all die angepriesenen Herrlichkeiten versammelt. "Alles beginnt mit einem erschlagenen Hund und endet mit geplatzten Träumen auf eine bessere Zukunft", schreibt Oliver Nöding über Helmut Käutners letzten, einmal mehr grandiosen Film Schwarzer Kies, einen deutschen Noir. Und Ulrich Mannes beschreibt 23 - Nichts ist so wie es scheint so: "Hans-Christian Schmidt und sein Drehbuchautor Michael Gutmann tauchen ein in den Zeitgeist der 80er Jahre und entwickeln mit großem Ernst ein Drama über Realitätsverlust und emotionale Verarmung."
Nach einer Pause hat sich Sachen mit Wœrtern zurückgemeldet mit einer Ausgabe zum Thema Schnitt, die schön gestaltet ist und Illustrationen von Petrus Akkordeon und Mario Hamborg enthält. Instruktiv sind die "100 Wörter zum Thema Schnitt", bei denen erst ein Ingenieur für Schweiß- und Verfahrenstechnik, dann eine Hirnforscherin, eine Cutterin, eine Neuköllner Friseurin und zuletzt ein Friedrichshainer Piercer zu Wort kommt: "Wir bieten in unserem Studio neben Piercings auch Cuttings an. Dabei wird die Haut eingeschnitten, und Narbenmuster entstehen. Cuttings wirken martialischer als Tattoos, sind aber nicht schmerzhafter und eigentlich natürlicher. Für mich sind sie die schönste Art der Body Modification, weil kein Fremdkörper wie Tinte oder Metall benutzt wird; Cuttings werden organisch von deinem eigenen Körper gebildet." Also ab unters Messer! Gefallen haben mir auch die Beilagen des Hefts, eine Postkarte mit einem Gedicht und ein Mini-Leporello mit einer Erzählung - Ideen, die man den Macherinnen der Zeitschrift glatt abschauen könnte.
Vom Schnitt ist es nicht allzu weit zum Thema "Menschenfresser der Liebe", dem die Erlanger Zeitschrift Seitenstechen ihre dritte Ausgabe gewidmet hat. Den Herausgebern Joseph Felix Ernst und Philip Krömer geht es laut Intro darum, zu zeigen, "dass wir im Verzehr verankert sind, dass es ein schwingendes Pendel gibt zwischen Lust und Liebe, zwischen Fetisch und Metaphorik, zwischen Grausamkeit und Hingabe. Wir lieben im Schatten keines Lindenbaums, sondern im Schatten unserer räuberischen Instinkte und eines Hungers, der Befriedigung - Befriedigung auch unserer Existenz - bedeutet." Nach so markigem Gebrüll schaffen es einige Texte sogar, den forcierten Erwartungen standzuhalten, meist qua Verweigerung. Lena Rubeys Jagdfiebertraum etwa endet fast parodistisch mit den Worten: "Nun verzehre ich mich nicht mehr nach dir. Nun verzehre ich dich." Und Michael Spyras "Berichte des Voyeurs" erinnern in ihrem spöttisch-unsentimentalen Ton an neusachliche Klassiker des frühen Kästner: "Auf dem Balkon sieht man sie leise lachen / und lüstern flüstern, bis sie ausgekühlt / die Gläser leer und sich nach drinnen machen, / wo er sich auf dem Sofa in sie fühlt." Bemerkenswert cool auch, was der fast 80-jährige Eckard Sinzig, der sein Berufsleben bei Kikkoman (Sojasaucen) verbrachte, über seine Lehr- und Wanderjahre im Paris der frühen 1960er schreibt: "Bei unserer Küsserei im Bois de Boulogne zitterten mir derart die Knie, dass du stauntest und sagtest: 'Mais comme tu trembles, chérie! Est-ce que je te fais peur?' - 'Oh je!', dachte ich damals. 'Selbst in der Stunde der Not und äußersten Peinlichkeit diese schulmeisterlich gezirkelte Umschreibung mit Est-ce que! Warum sagt sie nicht einfach: Tu trembles, idiot. Pourquoi?'"
Der 100. Ausgabe der Karlsruher allmende hat Michael Buselmeier in seiner nach vierzig Jahren vermutlich letzten "Zeitschriftenlese" für den Saarländischen Rundfunk, die dankenswerterweise - wie alle monatlich im Wechsel mit Michael Braun entstandenen Beiträge seit 2006 - auf poetenladen.de nachlesbar ist, eine einlässliche Würdigung gewidmet, auf die hier verwiesen sei. Besonders berührt hat mich neben einem Foto, das den Herausgeber Hansgeorg Schmidt-Bergmann wie einen Zwillingsbruder Wilhelm Genazinos erscheinen lässt, vor allem die Abbildung auf S. 64, die Lena Gorelik bei einer Lesung im Lesecafé der Buchhandlung Kunst- und Textwerk im Mai 2011 zeigt, denn diesen Buchladen, in dem ich fast zehn Jahre lang alle sechs Monate die neueste Ausgabe von Am Erker vorgestellt habe, gibt es seit Herbst 2017 nicht mehr - ein schwerer Verlust nicht nur für das Münchner Westend, das damit einen seiner wichtigsten kulturellen Treffpunkte verloren hat, sondern auch für viele Münchner Erker-Autor*innen, die dem Buchladen und seinem engagierten Geschäftsführer Marcus Geiß, der uns großartige Lesungen ermöglicht hat, viele Jahre lang verbunden waren.
Die Zeitschrift außer.dem hält ebenfalls auf ein Jubiläum zu und wird im Oktober zum 25. Mal erscheinen. Ausgabe 24 vom letzten Herbst enthält schöne Texte von Jörg Neugebauer, Rupprecht Mayer und Thomas Glatz, der einen geplagten Zeitgenossen träumen lässt: "Einfach Dichter im Stadtpark sein / Nur einen Wimpernschlag lang / Alle seine Gedichte schon geschrieben / Alle Gedichte unters Volk gebracht / Kaum noch gelesen werden / Das aber nicht schlimm finden / Einfach nur auf einem Sockel stehen / Als Standbild oder Büste / Im kühlen Schatten des Kastanienbaums / Den Brunnen plätschern hören / Ein kühles Lüftchen spüren / Nichts mehr schreiben müssen / Nicht über Offlinesozialität / Nicht über Aufmerksamkeitsökonomie / Schon gar nicht über Postfaktizität // [...] // Einfach nur Dichter im Stadtpark sein / Sich duldsam von den Tauben auf / die Glatze / kacken lassen // Das muss schön sein".
Auch die Leipziger Edit erscheint dieses Jahr zum 75. Mal. Heft 74 enthält den Essay "Orphische Landschaft", in dem Esther Kinsky am Beispiel des slowenischen Karsts oberhalb von Triest, der noch immer sichtbaren Narben der Isonzo-Front und der Landschaft und Dichtung des Friaul einmal mehr ihre beeindruckende Fähigkeit unter Beweis stellt, Landschaften strukturalistisch und zugleich poetisch als geografisch-geologisch-historisch-literarisches Gelände zu lesen. Auf ihren intellektuellen Fußwanderungen vertieft sich das Gefühl für die Landschaft, indem sich, wer ihre Texte liest, in Morphologie und Geschichte verstrickt und sich gleichzeitig eigenartig über ihnen schwebend empfinden darf - eine Art nature/culture writing aus olympischer wie graswurzelhafter Perspektive zugleich, aber von den Wanderschilderungen eines Hans Jürgen von der Wense insofern unterschieden, als dessen Blick ein enthusiastisch konstruierender ist und ohne Emphase kaum auskommt, während Kinsky ihre diskrete Spurenlese sehr viel leiser und gelassener unternimmt.

 

allmende 100: 'Literatur als Gemeingut'. € 12,00.

außer.dem 24. € 7,00.

Edit 74. € 7,00.

Sachen mit Wœrtern 8: Schnitt. € 5,00.

Seitenstechen 3: Menschenfresser der Liebe. € 10,00.

Sigi Götz Entertainment 30. € 3,50.