Heute zieh ich die Zeitschriftenschau mal anders auf und beginne in meinem Viertel, im Münchner Westend. Geh ich auf die Straße und dann links, nach hundert Metern wieder links und nach dreihundert Metern rechts, steh ich vor der Ligsalzstr. 8. Dort wohnt Jonas, der vor einigen Jahren mit Freiburger Studienfreunden die Zeitschrift latens gemacht hat: Ein Blatt Papier im A3-Format, mit acht oktavheftgroßen Seiten beidseitig nach althergebrachter Anordnung bedruckt, dann gefalzt und mit Brieföffner an den richtigen Stellen aufgeschnitten - fertig war das 16-Seiten-Heftl, das die vier Freunde gratis in ihrem Viertel in Kneipen, Buchläden und andernorts auslegten. Es hatte sie ja praktisch nichts gekostet. Diese Idee will Jonas in München wiederaufleben lassen, und dieser Text soll ihn dazu ermuntern. Schafft zwei, drei, viele Latenzen, und irgendwann gibt's dann einen Kongress ...
... zu dem man auch die Fanzine-Macher vom Schrottland einladen könnte. Geh ich bei mir auf die Straße und nach rechts, nach fünfzig Metern nach links und nach hundert Metern wieder nach links, steh ich vor der Bergmannstr. 8. Dort haben Fabian, Paula, Colin und weitere Mitstreiter vom volxvergnuegen-kollektiv seit zwei Jahren Parterre zwei Räume gemietet und das iRRland etabliert, wo u.a. Ausstellungen und Filme gezeigt werden, im April zum Beispiel Arbeiten von Wenzel Storch. Den hatte das department of volxvergnuegen in die Glockenbachwerkstatt zu einem Vortrag über sein Gesamtwerk eingeladen, der alles berührte (Leben, Filme, Zeichnungen, konkret-Kolumnen, die Bücher bei Ventil) und das Publikum beglückte. Tags darauf Ausstellungseröffnung und Interview mit dem Meister, das auch im Schrottland erschien, einem Sammelsurium dessen, was zum Wegschmeißen zu schade ist und sich besser in ein analoges Paralleluniversum zur allgegenwärtigen digitalen Welt schießen lässt, zwei Reiseberichte etwa, die Holger Meuss von seinem Fernosttrip lieferte. Das Pikareske hat es dem Informatiker Meuss, der lange in Oberpfaffenhofen den südlichen Sternenhimmel beobachtete, angetan, und so überschreibt er seine Berichte auch mit "Wie einmal die Reise durch Südostasien sowohl zwei Monate vor mir wie auch hinter mir lag" oder mit "Wie ich einmal eine Münze aufheben wollte und dabei viel Geld verlor". Das zweite Schrottland wartet mit dem Mitschnitt dessen auf, was der Regisseur und Rosa-von-Praunheim-Schüler Axel Ranisch, dessen Dicke Mädchen (2012) man nicht verpassen sollte, über sein Leben in Berlin-Lichtenberg vor und nach der Wende und über seine Liebe zum Film und zu Männern zu sagen hat.
Und noch mal aus dem Haus, links ab und nach hundert Metern wieder links, dann aber einen knappen Kilometer geradeaus und am Anfang der Westendstr. nach rechts abgebogen, vorn an der Schwanthaler Str. wieder nach links, über die Martin-Greif-Str. weg bis zur Hermann-Lingg-Str. Dort wohnt - knapp außerhalb des Westends, zugegeben - Matthias Hofmann, der jüngst die 25. Ausgabe seiner als Egozine gestarteten Friktionen feierte, eines vierteljährlich erscheinenden Netzmagazins, das "Beiträge zu Politik und Gegenwartskultur" liefert und dabei auf philosophische und literarische Fragmente, Buch- und Plattenrezensionen setzt. Hier erschien neben luziden Analysen des Wirtschaftsingenieurs und promovierten Politologen Hofmann über Jahre hinweg sein "Tagebuch aus dem Pflegeheim für frustrierte Intellektuelle", von dem Erker-Leser in Ausgabe 60 eine Kostprobe bekamen. In letzter Zeit muss Matthias die Friktionen auch nicht mehr solo vollschreiben, denn mit Doris Weininger, Thomas Glatz, Michael Löhr und anderen Mitstreitern hat er hochwillkommene Verstärkung erhalten. Mein Tipp: kostenlos abonnieren und alle drei Monate am Bildschirm durchstöbern!
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Einmal mehr traut der Ventil Verlag sich was: Er hat das 1993 in Greifswald gegründete Fanzine Zonic - laut Untertitel ein "Almanach für kulturelle Randstandsblicke & Involvierungsmomente" - in Verlag genommen. Das inzwischen in Leipzig-Connewitz entstehende Heft mit aktuell 224 reich illustrierten und toll gestalteten Seiten widmet sich primär den subkulturellen Szenen Osteuropas, zum Beispiel dem polnischen Punk und der New Polski Wave, und zwar - nach Einschätzung polnischer Leser - auf kundigstem Niveau. Auch zum Jugo-Underground vor dem Bürgerkrieg, der wahre Schätze birgt, finden sich längere Texte, desgleichen zur russischen und ukrainischen Szene vor und nach der Wende. Frank Apunkt Schneider darf natürlich nicht fehlen und steuert mit "Es ist sehr finster im Fisch, aber es ist noch jemand drin ... - Die Unwahrscheinlichkeit der AG Geige" eine persönlich gehaltene, angenehm versponnen literarische Würdigung des seltsamen Karl-Marx-Städter Kunst-Musik-Projekts aus den letzten Jahren der DDR bei. Zonic ist ein bemerkenswert innovatives Magazin, dessen Lektüre in musikalisch-subkulturelle Welten führt, die allhier erst schwach oder noch gar nicht belichtet sind.
Auch Richtungsding erfreut das Kritikerherz, Richtungsding, nicht "Dichtungsring". Zwei umtriebige Ruhrgebietler, Harald Gerhäußer aus Bochum und Jan-Paul Laarmann aus Mülheim, haben es inzwischen auf immerhin vier Hefte gebracht und sich, wie sie schreiben, "in Sachen Ausdauer gegen die düsteren Prognosen für Printprodukte positioniert". Selbstlob ist erkennbar ihre Stärke nicht, aber die zwei haben Geschmack, und das is die Hauptsach: minimalistisches Design, viel guter Text pro Seite, fitte AutorInnen (darunter der Salzburger Johannes Witek, ein alter Erker-Bekannter, mit Lyrik und Prosa), nichts Prätentiöses, ein sehr fairer Heftpreis und Aktivitäten im "Ringlokschuppen in Mülheim als großem Lesungswohnzimmer" und dem "Bochumer Blondies als Konferenzraum" überzeugen. Weiter so, Jungs!
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Nun endlich zu den etablierten Magazinen, die schon mit den Hufen scharren. Ostragehege, in der letzten Zeitschriftenschau etwas ungnädig besprochen, hat sich für seine 71. Ausgabe ein dickes Lob verdient: Das ausführliche, ja, epische Gespräch, das Redakteur Axel Helbig mit Jan Wagner geführt hat, zeigt Interviewer und Schriftsteller auf der Höhe ihrer Kunst und ist allein schon die Anschaffung des Heftes wert. Damit nicht genug: Auch Thomas Böhme, Kurt Drawert und Franz Hodjak bekommen viel Raum, den sie aufs Schönste bespielen.
Edit, in dieser Rubrik schon bis zur völligen Erschöpfung gelobt, wartet auch in Ausgabe 62 mit Schönheiten auf: Kristina Schilke - Teilnehmerin der LCB-Autorenwerkstatt 2009 und danach vom literarischen Radar verschwunden, obwohl ihr Beitrag "Das Wundervolle an uns" in spritz 193 so sehr viel mehr verhieß, als Olga Grjasnowa mit ihrem von der Kritik gehypten Roman "Der Russe ist einer der Birken liebt" je gehalten hat - beschreibt bildstark, lakonisch und im besten Sinne cool eine Nacht im Leben einer Alleinerziehenden. "Ich bin die Frau eines Soldaten, er ist eigentlich nie da. Immerzu kämpft er, aber er schießt nie auf Frauen und Kinder": beneidenswert, wer so stark einsetzt und dann bei Stimme bleibt. Auch Christian Schulteisz gefällt mit einem Auszug aus "Wense", der sich als lyrisch-essayistisch-poetologische Anverwandlung durch Annäherung an den großen Wandersmann, Briefschreiber und Ekstatiker Hans Jürgen von der Wense charakterisieren lässt. "Diese Nacht hier ist sternenlos, der Himmel hält sich bedeckt, doch die Galaxien dahinter sind nur umso deutlicher zu spüren. Keine drei Wochen her, da er durch Dieters Fernrohr den Saturn mit seinen Ringen gesehen hat und den Mond, die aus schwarzen Schatten herausragenden riesigen Mondgipfel, an denen das wachsende Sonnenlicht allmählich niederglitt" - man darf gespannt sein, wohin diese Landnahme (oder sollte man von literarischem Imperialismus sprechen? Wird hier die eigene Fahne frech in einen fremden Kontinent gerammt?) den fast noch blutjungen Autor Schulteisz führen wird. Und auch Andreas Martin Widmann ist in Edit 62 vertreten, mit einem feinen Essay darüber, wie man sich auf Google Street View beim virtuellen Flanieren verirren kann.
BELLA triste 36 bringt Texte von Roman Ehrlich und Florian Wacker, vor allem aber ein unterhaltsames und cleveres Interview mit der wunderbaren Felicitas Hoppe, die – man merkt es jeder Antwort an – noch immer jederzeit für einen Geniestreich gut ist. Auf 320 Seiten endlich haben sich die horen in ihrer 250. Ausgabe den "LiteraturZeitSchriften" gewidmet. Schön, was Nadja Küchenmeister über "Literaturen", Norbert Hummelt über "Castrum Peregrini" und Helmut Böttiger über das Freiburger "Nachtcafé" in melancholisch angehauchten Nachrufen schreiben, was Jörg Schieke über "Edit" und Adolf Endler zu berichten weiß, was Andreas Platthaus über seine Lieblinge mitteilt und Kurt Drawert über die heikle Lage der Literaturzeitschriften heute. Dass dieser Aufgalopp letztlich dazu dient, den kundig-abgeklärten, der Geschichte der "horen" geltenden Essay "Unter leicht bewölktem Himmel eine ruhende Herde ..." des altgedienten horen-Herausgebers Johann P. Tammen zu flankieren, wer will es den auf ihre jahrzehntelange Arbeit zu Recht stolzen Redakteuren verübeln? |