Am Erker 64

edit 59

SpritZ 202

poet Nr. 13

text + kritik 196

allmende 89

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Sprache im technischen Zeitalter
text + kritik

 
Zeitschriftenschau 64
Andreas Heckmann
 

Zu definieren, was ein Essay ist, wird der Verständige sich hüten und lieber zu Umschreibungen greifen. Der Begriff kommt aus dem Französischen, wo essai Probe, Versuch bedeutet. Was im Essay versucht wird, ist nicht festgelegt, darf aber nicht langweilen, sondern soll geistreich unterhalten. Gegenüber der mächtig vorwaltenden prosaischen Großform Roman, dem Tanker der literarischen Weltmeere mit seinen dramaturgischen Geboten, kann der Essay als fürwitziger Gestaltwandler Rettungsfloß derer sein, die die kleine Form und die Anspielung dem bis ins achte Glied Ausgedeutschten gegenüber bevorzugen, zugleich aber den mitunter manierierten Verknappungs- und Formexerzitien der Lyrik mit Misstrauen begegnen. Der Essay könnte also, da Kurzprosa es jedenfalls hierzulande stets schwerer zu haben scheint, die ideale Verlautbarungsform der literarischen 400- bis 1500-Meter-Strecke werden.
Wie das geht, zeigt Edit 59. Die Zeitschrift hat einen Essaypreis ausgeschrieben, und was die hochkarätige Jury ausgezeichnet hat, lässt aufhorchen: Simone Schröder schreibt in einem autobiografisch anmutenden Text von dem, was wir zurücklassen auf unserem Lebensweg, von den Möbeln der Großmutter, die die Nachkommen nach Thailand verscherbeln, von den Festplatten, auf denen wir unsere Texte zur finalen Ruhe betten, vom Müll, den wir allerorten hinterlassen, ohne darüber - es gibt ja das Entsorgungswesen - zu Messies zu werden, und von der Konfrontation mit alten Umzugskisten, in denen unsere Lebenszeit Raum geworden ist, Raum und zugleich Tand und damit ein erschreckendes Sinnbild unserer vertanen Zeit.
Diesen Betrachtungen lässt Francis Nenik ein Porträt zweier dichtender Zeitgenossen folgen, deren Dasein so synchron verläuft, dass es in doppelspaltigem Parallelismus mit oft identischen Formulierungen erzählt werden kann. Die Misere der Poeten Nicholas Moore und Ivan Blatný, deren Leben sich in den 1940ern nach erstaunlichem Aufschwung im Gleichschritt ins Elend kehrt, hat auf Wikipedia Misstrauen erregt: "Dieses angeblich preisgekrönte, monoton zu lesende Parallelessay", schreibt (Stand: 24.10.) ein Beiträger verschnupft zum Moore-Eintrag, sei "kein reputabler Beleg, da es ebenso reine Fiktion sein könnte." Wohl wahr! Noch schlimmer mag sein, dass es im Edit-Autorenverzeichnis über Nenik heißt, er lebe auf dem Land und fahre am liebsten Traktor. Sieht so die Zukunft der Lyrikerzunft aus? Dass ihre Mitglieder von Treckerfahrern gleich garbenweis erfunden und, dem Jokus preisgegeben, wie Abziehbilder ihrer selbst in einem Storage-Center namens Wikipedia endgelagert werden wie Tand in Kisten?
Auch Bruno Preisendörfers Essay "Zeitsprünge" bewegt sich auf mehreren Ebenen, handelt nämlich von zwei Sambesi-Bungeejumpern und von John Cages Halberstädter Orgelstück Organ 2/As Slowly as Possible, dessen Aufführung 2001 begonnen hat und 2640 zu Ende gehen soll. Wie das Seil der Springerin Erin Langworthy reißt und sie sich aus dem nicht minder reißenden Sambesi retten muss, lässt sich auf Youtube partiell verfolgen. Der zweite tollkühne Springer, Alexander Lerch, verknüpft die Wasserfälle mit dem Halberstädter Dom, denn er will sich in dieser evangelischen Kirche für tausend Euro die Stiftertafel für das (Luther-)Jahr 2017 gesichert haben, auf die dann ein von ihm festgelegter Text graviert werden wird. Wie leicht es heutzutage ist, alles mit allem zu verbinden, weil Youtube oder - weiter gefasst - das Internet die Bande ist, über die sich jeder Ball spielen lässt, zeigt dieser kunstvolle Essay, dessen Ingredienzien anscheinend nach dem Zufallsprinzip gewonnen, dann aber bemerkenswert stringent komponiert wurden.
Konventionellere, aber nicht minder lesenswerte Essays versammelt Heft 202 von Sprache im technischen Zeitalter unter dem Schwerpunkt "Tabuzonen - worüber man nicht schreiben darf". Maja Haderlap (*1961), Bachmann-Preisträgerin 2011, berichtet von dem Tabu, mit dem sie in den 60ern und 70ern in Südkärnten aufwuchs: dem unausgesprochenen Verbot der Verwendung ihrer slowenischen Muttersprache in der Öffentlichkeit als Folge der unbewältigten Geschichte Österreichs und vor allem Kärntens in der NS-Zeit. So generiert ein Tabu das nächste, und so wirkt der Bruch eines Tabus notwendig auf andere Tabus zurück. Köstlich auch, was der seit Anfang der 90er in Istrien lebende Serbe Mirko Kovač (*1938) über Tabus unter Tito berichtet - ein Plädoyer, Tabubrecher nicht per se für begabte Autoren zu halten und Bekennereifer, Skandallust und Paranoia nicht zu einer Märtyrerlegende zu verquicken: Am Ende wird man vielleicht doch nicht aufgrund mutiger Sätze inhaftiert, sondern wegen einer Eifersuchtsprügelei unter Literaten. Künstlerpech. Gut also, wenn das Werk sich nicht im Anrennen gegen Tabus erschöpft.
Während manche Zeitschrift sich verschlankt, treibt es den poet auch im 13. Anlauf auf die hohe See der Seitenzahlen. Und erneut gelingt dank starker Beiträger ein starkes Heft, das bspw. eine neue Folge der Braun-Buselmeierschen Deutungen zeitgenössischer Gedichte enthält, darunter Norbert Hummelts "dunst", Rainer Malkowskis "Bist du das noch?", Wilhelm Lehmanns "Auf sommerlichem Friedhof (1944)" und Jörg Burkhards "in gauguins alten basketballschuhen", Gedichte und Interpretationen, die als zeitschrifteninterne Eichstelle gelten dürfen, da sich an ihnen die übrigen Beiträge zu messen haben. Hoch zu loben sind auch zwei Autorengespräche zum Thema Literatur und Alltag: Jan Kuhlbrodt spricht mit Jayne-Ann Igel, und Carola Gruber unterhält sich mit Sabine Peters so geistesgegenwärtig, konzentriert, klug und empathisch, dass ich die beiden sofort auf einer Doppellesung mit Gespräch erleben möchte und es unbegreiflich finde, dass mir Feuerfreund bisher entgangen ist. Gruber, frisch promovierte Germanistin, Stadtschreiberin von Ranis und nach drei Monaten als Journalistin in Namibia nun wieder im Lande, beschenkt ihre Gesprächspartnerin abschließend mit einem Joker: "Vielleicht gibt es eine Frage, auf die Sie gern noch geantwortet hätten?" Und Sabine Peters erwidert: "Wahrscheinlich ist das, was mir jetzt noch einfällt, zu groß: Warum schreiben Sie überhaupt, Frau Peters? / Aus Langsamkeit; weil es mir oft schwer fällt, spontan auf 'Welt' zu reagieren. Aus Ohnmacht und Empörung. Aus Ratlosigkeit und Unverständnis und im Wunsch, die Dinge besser zu verstehen. Aus Lust an Sprache, Form und Spiel. Um die Welt schöner zu machen; wobei man das auch mit einem anständigen Risotto kann. Um glücklich zu sein. Um lebenden und toten Leuten 'danke' zu sagen."
Wer ohne Bungeejumping einen tiefen Fall erleben will, gehe von den Autorengesprächen im poet direkt zur Ausgabe "Literatur und Hörbuch" der oft so verdienstvollen Text + Kritik über und erleide am eigenen Hirn, wie staubtrockenes und redundantes Dozieren über Banalitäten den Brägen rösten kann. Immerhin der einleitende Text "Literatur lesen, Literatur hören - Versuch einer Unterscheidung" von Johannes F. Lehmann liest sich mit Gewinn, jedenfalls für literarische Übersetzer, die oft genug vor dem Problem stehen, dass ihre Texte sich eindeutiger lesen als das Original. Wer aber Uneindeutigkeiten in Übersetzungen erhalten will (und damit meine ich nicht die großen, kunstvoll angelegten Ambivalenzen, bei denen das Ehrensache ist, sondern die punktuellen Unschärfen, die mitunter auch unbewusst in den Text gelangen und ihm den Charme einer gewissen Schnoddrigkeit geben), steht häufig vor dem Dilemma, dass solche Unschärfen im übersetzten Text ungekonnt oder undurchdacht wirken oder nach Flüchtigkeit klingen, tendenziell also dem Übersetzer als Fehler angelastet werden, was der tunlichst vermeidet, indem er diese Stellen unter der Hand und in Kenntnis des Gesamttextes zurechtrückt, also suggestiv und interpretativ übersetzt - eine Analogie zum Phänomen des inneren Sprechens oder der "Subvokalisation", das Lehmann (mit Klaus Weimar) auch beim stillen Lesen als für die Lektüre unentbehrlich ausmacht und das "im Kopf des Lesers auf stumme Weise laut wird".
Wenn aber Stimmgebung Sinngebung ist, wie Lehmann an der Judenbuche der Droste zeigt (einmal liest Gert Westphal die Stelle "Du sollst kein Zeugnis ablegen gegen deinen Nächsten" beschwörerisch, das andere Mal Martina Gedeck sehr zurückgenommen), dann gilt: "Im Hören liefert sich der Hörer einer stimmlich artikulierten Sprechhandlung aus und verwickelt sich so - nicht wie der Leser in einen Prozess von eigenen Entscheidungen im Verlaufe der eigenen Informationsverarbeitung und Sinngebung - sondern in den (affektiven) Nachvollzug von Sprechhandlungen und Sprechsituationen, mit denen die Stimme, die er hört, ihn konfrontiert." Das macht den Hörer zum Objekt: "Alle Kritik am Ohr und an der Passivität des Hörens, der 'Hörigkeit' und des Ge-horchens etc., wie sie besonders stark Derrida formuliert hat, kann hier bruchlos anschließen." Eine Überlegung, die analog für literarische Übersetzungen gilt und die deren Verfertiger nicht in den Wind schlagen sollten - auch wenn sie in der Praxis gerade der Übertragung von Genreliteratur auf solche Feinsinnigkeiten selten werden Rücksicht nehmen können.
Seit fünf Jahren wird der verlagsfrische 'Erker' im Lesecafé der Buchhandlung Kunst- und Textwerk im Münchner Westend vorgestellt - eine Tradition, die Münchens literarische Prominenz wie Thomas Lang und Fridolin Schley mit Erker-Stammautoren wie Doris Weininger und Thomas Glatz und auswärtigen Gästen wie Johannes Witek und Cornelia Schneider zusammengebracht hat. Sehr schön darum, dass die Karlsruher allmende in ihrer Kolumne "Literarische Orte" diesmal neben dem berühmten Lyrikkabinett diesen engagierten Buchladen und seine umtriebigen Macher vorgestellt hat, wofür Hansgeorg Schmidt-Bergmann, Matthias Walz und Reinhard Ammer herzlich gedankt sei.

 
  • Edit 59. 5 Euro.
  • Sprache im technischen Zeitalter (SpritZ) 202. 14 Euro.
  • poet Nr. 13. 9,80 Euro.
  • Text + Kritik 196: Literatur und Hörbuch. 19,80 Euro.
  • allmende 89: Über Gedichte ist schwer reden. 12 Euro.