Constantin Schwab
Der Beginn war vielversprechend: Ohne jede Erklärung wurde ich aus dem Bauch meiner Mutter geschnitten. Solche direkten Einstiege liebe ich, da ist man sofort mittendrin. Gleich danach aber die Ernüchterung: Lange, ereignislose Kleinkindjahre, von denen kaum etwas in Erinnerung blieb. Das einzige Bild, das Eindruck machte, war der abendliche Milchreis, der immer zu wenig Zimt bekam. Das fand ich irgendwie poetisch und traurig, weil es so viel über meine Mutter erzählte, die immer an den falschen Stellen sparte. Von solchen Stellen hätte ich mir mehr gewünscht.
Überhaupt war die Mutter in meinen Anfängen stark im Vordergrund, immer präsent und dominant, aber nicht übertrieben. Etwas unglaubwürdig, vielleicht, wie fürsorglich sie trotz der Arbeit im Reisebüro war, und wie schnell und wie sehr ich sie trotz der Fürsorge hasste. Dennoch: Kalt gelassen hat sie mich nie. Dagegen der Vater, total schwach. Alles, was ich über ihn erfahre, ist, dass er auf Fotos auch im Winter gut gebräunt ist und eigentlich einen Jungen wollte. Sein angeblicher Einfluss auf meine Mutter, auf mein Heranwachsen, er bleibt pure Behauptung. Meine Beziehung zu ihm habe ich, ehrlich gesagt, nie richtig nachvollziehen können.
In meiner Schulzeit zog das Tempo enorm an, das gefiel mir gut. Hier finden sich auch die stärksten Szenen, wurde es erstmals emotional und durchaus dramatisch. Etwa in der Episode, als ich zwölf war, und während der Mathearbeit plötzlich so starke Regelschmerzen bekam, dass ich weinen musste und der Mathelehrer sich hinter mich stellte und mir helfend über die Schulter lugte und dann fragte, warum ich denn weine, ich sei eh auf dem richtigen Weg. Oder mit vierzehn, als ich im Pfadfinderlager war und wir in der ersten Nacht Wahrheit oder Pflicht spielten, und ich gefragt wurde, in wen von den Jungs ich verknallt sei, und ich gesagt habe, in den Philip, was der Chrissi damals gar nicht passte, weil die Chrissi damals mit dem Philip ging, was ich aber nicht wusste, und sie danach allen Mädels erzählte, ich hätte Haare an meinen Brustwarzen, und ich die nächsten Tage im Lager nur noch Brustwarzenschwein genannt wurde, bis mich meine Mutter vorzeitig abholte und wir zwei Stunden schweigend im Auto saßen. Auch an der Stelle musste ich laut weinen.
Die nächsten Kapitel meines Lebens empfand ich dann wieder schleppend und monoton, da hätte durchaus mehr passieren können. Sehr nachvollziehbar fand ich, dass ich das Studium abgebrochen habe, wegen der überraschenden Schwangerschaft mit Walter, in den ich leider auch verknallt war. Nicht gerechnet hätte ich dann mit der Fehlgeburt, die kam wie aus heiterem Himmel, total unerwartet. Äußerst prägnant waren hier die Dialoge, vor allem die kurze, aber eindringliche Passage mit dem Oberarzt, der am nächsten Morgen seine Visite machte und mich ganz aufgelöst im Krankenbett sah und mir sagte, alles halb so wild, spätestens nach der zweiten Fehlgeburt werde man schon wissen, woran es liegt. An der Stelle fand sich auch der erste und einzige Suizidgedanke - was ihn umso stärker machte.
Schlecht durchdacht schien mir, warum ich danach nicht wieder ins Studium eingestiegen bin und stattdessen nach der Trennung bei Mutter im Reisebüro anfing. Hier wirkte mir einiges zu konstruiert, insbesondere die Kränkung nach Walters Abgang und den plötzlichen Muttersehnsüchten, die ich früher nie zeigen konnte oder wollte. Auch verstehe ich nicht, warum ich mich nach der Arbeit im Büro immer so fertig und erschlagen fühlte und in dieser Phase immer nur Jojo Moyes und Cecilia Ahern gelesen habe und kein einziges der Bücher auf der Liste, die mir meine angeblich beste Freundin Conny geschickt hatte, die Liste mit den hundert Büchern, die man lesen muss, bevor man stirbt. Ich weiß nicht mehr alle Titel und Namen, die darauf standen, aber ich weiß, dass Jojo Moyes und Cecilia Ahern nicht darunter waren. Das prägte sich ein.
Meine Beziehungen vor und nach Walter fand ich rückblickend alle zu lange und auch zu langweilig. Hängen blieb nur der meist mäßige Sex und das geplatzte Kondom mit dem Letzten, dem vorsichtigen Oskar, dem ich nicht gesagt habe, dass ich keine Kinder kriegen kann. Und sein Gesichtsausdruck danach war das vielleicht witzigste, amüsanteste Bild während meiner ganzen Arbeitsjahre, und ich bekam noch Wochen später spontane Lachanfälle, wenn ich nur daran dachte.
Interessant, fiel mir gegen Ende auf, dass ich immer an die falschen Männer geraten bin, obwohl ich genau das vermeiden wollte. Wie subtil und fast unbemerkt ich dabei fast alle von Mutters Fehlern wiederholte und ganz genau wie sie wurde, obwohl ich ganz besonders das vermeiden wollte, das war schon beeindruckend. Auch das Gefühl, in der falschen Arbeit festzustecken, war durchaus glaubhaft: Ich habe fremden Leuten täglich ihre Traumreisen ermöglicht, ohne jemals im Ausland gewesen zu sein, habe jeden Tag etwas vermittelt, wovon ich gar keine Ahnung haben konnte, und mich dennoch qualifiziert und aufgehoben gefühlt. Dieser Widerspruch zwischen Frustration und Bequemlichkeit war tatsächlich spürbar: Zwischen all den Routinen, Klicks und Phrasen schwang er mit, zog sich still durch alle Werktage. Das habe ich sehr geschätzt, auch wenn es nur schwer zu ertragen war.
Ein wenig enttäuschend fand ich die späte Wendung mit der vermeintlichen Diagnose, als ich eines Abends die harte Stelle an meiner rechten Brust ertastete, und es dann doch nur eine kurzzeitige Talgansammlung war, statt irgendetwas Ernstes, das meinem Leben eine neue Richtung gegeben, mich zur Umstellung gezwungen hätte. Stattdessen: die ganze Aufregung umsonst. Hätte man sich meines Erachtens komplett sparen können, die Episode.
Unnötig und viel zu spät auch die forcierte Rückkehr meines Vaters, der meinte, sich noch einmal in mein Leben einmischen zu müssen, weil er das eigene vertan hatte, und mir plötzlich Ratschläge gab wie Cecilia Ahern, und mir sagte, ich solle meine Träume niemals aufschieben, und ich so dumm war und auch noch auf ihn hörte, und mich wieder ärgerte, dass er nicht schon viel früher aufgetaucht war, und mir plötzlich dachte, dass mit ihm alles gut gewesen wäre.
Äußerst gelungen fand ich dann wieder das Ende und die beißende Ironie, ausgerechnet mit der Maschine abzustürzen, die ich im eigenen Reisebüro gebucht hatte - das war schon sehr unerwartet und brutal, aber auch hintersinnig. Der erste Flug meines Lebens und gleichzeitig der letzte, das zeigte mir auf ganz wunderbar verstörende Weise die Unmöglichkeit, aus meinem Umfeld, meinem Stand, meiner Gewohnheit auszubrechen. Und doch hatte es irgendwo wieder etwas Poetisches, ein Gefühl der Selbstbestimmtheit überkam mich dabei, wenn auch der Zeitpunkt schlecht gewählt schien und ich das Gefühl hatte, der Aufbau davor hakte, stimmte noch nicht ganz, war wieder mehr Behauptung. Auch das Reiseziel wirkte eher zufällig, keine Ahnung, warum ich ausgerechnet Argentinien gewählt habe, warum nicht eine Insel, um mich vom Alltag zu isolieren, das wäre doch viel klarer und eindeutiger gewesen, hätte vielleicht etwas erzählt. Zu Argentinien aber hatte ich gar keine Beziehung, nur einmal habe ich, nach Vaters Rückkehr, etwas von diesem Argentinier gelesen, der auf Connys Liste stand, und im ersten Satz, da wurde ein Mädchen eingeführt, das auch zu wenig Zimt auf ihren Milchreis bekam ... Aber nur wegen dieser einen, winzigen Verbindung nach Argentinien zu fliegen, das schien mir doch etwas weit hergeholt. Vielleicht war das Ziel aber gar nicht so wichtig, vielleicht sollte es gar nicht wichtig sein, damit es nicht von dem eigentlichen, sehr schönen Schlussbild ablenkte: Wie ich durch die Scheibe erkannte, dass ein Triebwerk plötzlich rauchte und die Maschine über dem Meer abstürzte und unterging und ich langsam ertrank, und mein letzter klarer Gedanke dabei war, was wohl aus der Chrissi geworden ist. Solche Szenen fanden sich davor viel zu selten. Insgesamt kann ich mein Leben leider nicht empfehlen. Zwar gab es einige spannende und auch sehr menschliche Stellen, doch vieles wirkte auf mich unlogisch und nicht zu Ende gedacht. Einige Personen tauchten nur einmal auf und kehrten dann nie wieder. Auch gab es meiner Meinung nach einige Längen, der Rhythmus wirkte noch sehr holprig. Der Schluss war dann wieder konsequent, kam aber viel zu abrupt, weshalb die einzelnen Teile, zusammengenommen, noch nicht ganz rund auf mich wirkten. Das ist schade, denn ich glaube, mein Leben hätte durchaus Potential gehabt. Ich vergebe zwei von fünf Sternen. |