Dieter Neiteler
Nach dem Silvesteressen, das bei aller Schmackhaftigkeit nichts Überraschendes geboten hatte, präsentierte Susanne ihren selbstgemachten Spekulatiuslikör. Davon hatten ihre Gäste Karsten und Mario noch nie gehört. Dass er wie Baileys schmecke, nur eben mit Spekulatius, machte vor allem Karsten neugierig.
"Will sonst noch einer ein Glas?", fragte Susanne.
"Ich nehm ein halbes", antwortete Reimar, ihr Ehemann. "Schmeckt gut, aber ist mir ein bisschen zu süß."
"Für mich nicht, danke. Ich mag Baileys nicht so. Außerdem muss ich noch fahren", meinte Mario.
Der Likör schmeckte Karsten noch besser als Baileys, den er sich gelegentlich kaufte und regelmäßig von einem Freund zum Geburtstag bekam. Die Spekulatiusstücke gaben dem Getränk eine sperrige Note, die den Genuss gleichzeitig verzögerte und erhöhte. Zu Karstens Freude beließ es Reimar bei dem halben Glas, so dass sich zwischen ihm und Susanne eine Art offener Likör-Verschwörung entwickelte. Dieser konspirative Draht konnte ihm im Lauf der Nacht noch wertvolle Dienste leisten.
Als das neue Jahr eine gute Stunde alt war, ging Reimar mit Mario ins Arbeitszimmer, um etwas im Internet zu suchen. Karsten nutzte die Gelegenheit.
"Sanne, kann ich dich mal um eine weibliche Perspektive bitten? Ich hab bislang nur die Meinung von zwei Männern eingeholt."
"Klar, worum geht's?"
"Ich hab dir doch schon mal von Henriette erzählt, meiner früheren Studienkollegin, mit der ich mich jedes Jahr auf dem Weihnachtsmarkt hier in Münster treffe, oder?"
"Ja, kann mich erinnern. Was ist mit der?"
"Tja. Sie war diesmal ziemlich deprimiert, weil sich ihr Freund von ihr getrennt hat. Ich bin normalerweise ganz gut darin, Leute zu trösten, doch diesmal ist es voll danebengegangen. Wir saßen so ab halb elf noch im 'Ipanema', um den Weihnachtsmarktbesuch abzurunden, und da fing sie plötzlich an, alle negativen Eigenschaften von Rudi, also ihrem Ex, aufzuzählen. Mir fiel ein, dass sie ihn häufiger mal vor anderen Leuten runtergemacht hatte, und ich sagte ihr, ganz vorsichtig, das sei möglicherweise ein Grund für die Trennung gewesen. Da schüttete sie sämtliche Zornesschalen über mir aus! Ich lächelte erst nur hilflos und wartete das Ende des Jüngsten Gerichts ab, aber irgendwann wurde es mir doch zu bunt, und ich sagte ihr, sie solle sich wieder einkriegen. Da stand sie auf wie eine Furie, knallte zehn Euro auf den Tisch und meinte, auf meinen gönnerhaften Tonfall könne sie verzichten. Mir blieben die Worte weg, und ich konnte ihr nur hinterhergucken. Und wie die Leute mich anglotzten oder betreten auf den Tisch stierten, ultrapeinlich!"
"Ouu, das klingt nicht gut."
"Aber hab ich mich wirklich so danebenbenommen?"
"Supersensibel warst du natürlich nicht, doch sie hat auf jeden Fall überreagiert. Sie scheint ziemlich angeschlagen zu sein. Ich denke, du solltest dich irgendwann bei ihr melden."
"Ich zu Kreuze kriechen? Auf keinen Fall!"
"Ich hab nur gesagt: melden, nicht kriechen. Wie wichtig ist dir die Freundschaft mit Henriette?"
"Ich seh sie selten, abgesehen vom Weihnachtsmarkt vielleicht ein-, zweimal im Sommer. Aber ich kenne sie schon zwanzig Jahre. Ganz unwichtig ist sie mir sicher nicht."
"Na siehst du."
Karsten fragte sich, ob es mit diesem Gespräch zusammenhing, dass Susanne ihm die kurzhalsige und dickbauchige Flasche mit dem Rest Spekulatiuslikör beim Abschied zusteckte. Jedenfalls war er froh, zwei oder drei weitere Gläser des leckeren Getränks genießen zu können. Die Flasche versprach er ausgewaschen zurückzubringen, doch Susanne meinte, das habe keine Eile.
Vier Abende trank Karsten ein halbes Glas, dann hatte der gezügelte Genuss ein Ende. Wehmütig füllte er die Flasche mit Wasser und verschloss sie wieder. In einigen Tagen würden sich die hartnäckigen Reste des Getränks bequem ausgießen lassen. Um sich an sein Reinigungsversprechen zu erinnern, stellte er die Flasche auf den Tisch im Wohnzimmer.
Für den Konflikt mit Henriette zeichnete sich keine so einfache Lösung ab. Weder er noch sie durchbrach das Schweigen mit einem Anruf, einem Brief, einer E-Mail oder einer SMS. Früher hatten sie sich stets eine Neujahrs-SMS zugeschickt, manchmal mit zwei oder drei Tagen Verspätung. Immer wieder dachte Karsten an Susannes Ratschlag, sich nach einer Weile bei Henriette zu melden. Die Idee erschien ihm abwechselnd bedenkenswert, großartig, absurd und speichelleckerisch. Die Wochen vergingen und allmählich fühlte er sich wie ein harter Stein, der sowohl recht als auch unrecht hatte, immer unnachgiebiger zu werden.
Henriettes Geburtstag rückte näher und setzte ihn unter Zugzwang. Normalerweise schickte er ihr am 25. März nur eine SMS, doch das reichte ihr vollkommen. Er selbst war an seinem Geburtstag, dem 8. November, ähnlich anspruchslos. Beide hatten nämlich eine starke Abneigung gegen Telefonate, nicht nur an Geburtstagen.
Mit einem kurzen Text konnte er den absurden Streit beenden und dafür sorgen, dass sie sich beide wieder wie erwachsene Menschen verhielten. Was aber, wenn sie ihn ins offene Messer laufen ließ und sich nicht für die Glückwunsch-SMS bedankte? So viel Sturheit traute er ihr durchaus zu. Er wusste, wie sehr es ein halsstarriger Mensch genießen konnte, erfolglos umworben zu werden. Immerhin gehörte er selbst zu dieser eisernen Spezies.
Am 23. März kam er spät von der Arbeit nach Hause. Müde aß er zu Abend und wusch anschließend gegen seine Gewohnheit sofort das Geschirr ab. Im Radio hieß es, Elizabeth Taylor sei gestorben. Er war kein Fan von ihr, aber als junge Frau hatte sie ohne Frage sehr hübsch ausgesehen.
Plötzlich hörte er einen lauten Knall, dann ein vielstimmiges Klirren. Das war doch nicht etwa ...? Langsam ging er ins Wohnzimmer, wo er gerade gegessen hatte. Tatsächlich, die Flasche mit dem Gemisch aus Wasser und Spekulatiuslikör war geplatzt! Warum hatte er sie nicht schon vor Wochen ausgegossen?
Schnell holte er ein paar Lappen, wischte vorsichtig die stark riechende Flüssigkeit vom Tisch und legte behutsam die großen und kleinen Scherben zur Seite. Auch auf dem Boden lagen Splitter in Likörwasserpfützen. Eine böse Vorahnung ließ seinen Blick über den Sessel wandern, in dem er vor wenigen Minuten noch gesessen hatte. Er war mit Scherben übersät, großen wie kleinen. Auf dem Sofa gegenüber hingegen konnte er keine Splitter entdecken. Die Flasche hatte in seiner Nähe gestanden und wäre mitten in sein Gesicht explodiert, wenn er sich nicht in der Küche befunden hätte.
Eine knappe Stunde später erinnerten nur noch die ungewöhnliche Sauberkeit und ein merkwürdiger Geruch nach Alkohol, Nutella und Erbrochenem daran, dass Karsten die zerstörerische Kraft der alkoholischen Gärung unterschätzt hatte. Noch immer stand er unter Schock, aber anders, als er zunächst angenommen hatte. Er kam sich seltsam unverwundbar vor und musste an zwei Vorfälle aus seiner Vergangenheit denken, die die Bezeichnung Glück im Unglück verdienten: Als Dreizehnjährigen hatte ihn ein Spielzeugflieger, der mit einem Gummiband abgeschossen worden war, genau zwischen Nase und linkem Auge getroffen und nur einen kleinen blauen Fleck hinterlassen. Der mut- oder unfreiwillige Übeltäter, ein Junge von vielleicht acht Jahren, war zitternd auf ihn zugekommen und überrascht gewesen, ihn so ruhig und wohlbehalten anzutreffen. Mit siebzehn war er im Sportunterricht beim Hochsprung nach einem Satz über einen Meter fünfzig nicht auf der Matte, sondern auf dem Hallenboden gelandet. Das Genick hätte er sich brechen, querschnittsgelähmt hätte er sein können, doch stattdessen hatte er nicht den geringsten Schmerz verspürt, nicht die kleinste Beschwerde gehabt. Und nun, nach vielen Jahren, wieder so ein Vorfall, der katastrophal hätte enden können, doch mittlerweile nichts weiter als eine interessante Geruchsbelästigung darstellte.
Er betrachtete sein Handy auf dem Schreibtisch. Noch blieben ihm zwei Tage, um auszuloten, ob er Henriette eine Geburtstags-SMS schreiben sollte. Aber die Entscheidung war bereits gefallen. Er fühlte sich über alle Kleinlichkeiten des Alltags erhaben. Er nahm das Handy, gab Henriettes Nummer ein und schrieb: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Viele Grüße, Karsten. Wie herrlich leicht die Worte dahinflossen! Er speicherte die SMS als Entwurf ab. Übermorgen würde er sie abschicken, weil er seine Unbefangenheit gegenüber Henriette wiedergefunden hatte. Was sie mit dem Gruß anfing, war ihre Sache. Über eine nette Reaktion würde er sich freuen. Eine negative Reaktion, ob nun Schweigen oder Häme, würde ihm kaum etwas anhaben können. Schließlich hatte er gerade eine Spekulatiuslikördetonation unbeschadet überstanden. |