Annette Amrhein
1.
Immer sträubt sich das Haar, wenn Sven sich die Frisur Fischbachs
machen will. Es trotzt Rundbürste, Haarlack, Spray. Borstig
auseinandergespreizt steht es um das Zentrum eines Wirbels, gleich
einem Pinsel, mit dem beim Malen zu sehr aufgedrückt wurde.
Sven feuchtet es an, zieht es beim Fönen auf die Kopfhaut
herunter. Schon steht es wieder hoch.
Verräterisches Haar. Wenigstens der Scheitel links kommt
dem Vorbild nahe. Er ist streng gezogen und zu weit nach hinten
geführt. Wie bei Fischbach bildet er einen hellen Streifen,
als wäre der Kopf einmal an dieser Stelle geöffnet worden
und eine Narbe davon zurückgeblieben. Sven seufzt. Das ist
es, denkt er, was sich manch einer wünscht: Fischbachs Schädel
öffnen, ihm ins Hirn glotzen, den geheimsten, verstecktesten
Gedanken aufspüren. Weil das unmöglich ist, lesen sie
seine Bücher, vor allem die Tagebücher, in denen Intimes
steht - von Fischbach gesäte Andeutungen, die aufgehen zu
Gerüchten. Da wird das Armdrücken zur Schlägerei,
der harte Griff an die Hüfte zum sadistischen Spiel.
Einige kennen Fischbachs Leben bis in kleine Details, sprechen
von dessen Freundinnen so vertraut. Die beschreiben sogar die
Gerüche der Frauen. Von einem feinen Hauch der Haut nach
brenzligem Feuerstein hatte einer im vergangenen Jahr gesprochen,
dabei erwähnt Fischbach Düfte niemals. Am Spiegelrahmen
hängt ein Foto Fischbachs, das neueste, das Sven finden konnte.
Offenbar hat Fischbach den Schnauzer etwas gekürzt - Sven
nimmt die Schere aus der Schublade. Feine Bartspitzen fallen auf
den Waschbeckenrand und die Bodenfliesen hinab. Sven gibt Haarwachs
auf die Fingerspitzen, zwirbelt den Schnauzbart. Sein Blick pendelt
zwischen dem eigenen Spiegelbild und dem Foto am Rahmen. Zwischen
Fischbachs Augen, an der Nasenwurzel, ist eine tiefe Falte quer
in die Haut gegraben. Ist Fischbach in einem Jahr so gealtert?
Sven sucht nach dem mittelbraunen Augenbrauenstift und zeichnet
die Falte auf seine Haut. Er schaltet den Fön ab, legt ihn
weg. Dann nimmt er das Foto vom Rahmen des Spiegels und steckt
es in seine Brieftasche, den Stift in sein Jackett.
2.
Auf den ersten Blick vierundzwanzig Mal Fischbach - Männer
mit Zigarre in der Hand, einer Fürst Bismarck, die Körper
in anthrazitfarbenen doppelreihigen Anzügen, die Schnauzbärte
katzengrau, gezwirbelt, immerhin unterschiedlich lang.
Wer genauer hinsieht, erkennt: Viele Bärte sind unecht, angeklebt.
Drei Männer sind lächerlich klein, zwei Köpfe kleiner
als der wahre Fischbach mit seinen einsneunundachtzig, die er
offiziell groß ist.
Jetzt reicht ein Mann Sven die Hand zur Begrüßung.
Hat er den je zuvor gesehen? Der Oberlippenbart ist zu lang, zu
dunkel, der Mann sehr mager, aber das trifft auf viele zu. Der
Mann hat einen fremden Akzent!
Sören Hansen heiße er, sagt der andere und fügt
hinzu, er sei Däne. Sven schaut ihn überrascht und zugleich
müde an. Nach Dänemark ist das Fischbach-Fieber übergesprungen?
Die Männer in der Runde reden, worüber sie in jedem
Jahr reden - ob Fischbach beim Treffen selbst dabei sein wird?
"Du bist die ähnlichste Fissbach von alle", sagt
Hansen. Sven wehrt mit einer Handbewegung ab, Hansen lässt
nicht locker. "Vielleicht bist Du die echte Fissbach sogar",
ergänzt er und grinst.
Sven schüttelt den Kopf. "Ich nicht", sagt er,
wiederholt es: "Ich nicht", lässt ein paar Sekunden
verstreichen, sagt zu Hansen: "Du nicht - er." Und zeigt
in irgendeine Richtung, auf einen Mann, den er sich nicht einmal
genau angesehen hat.
3.
Jetzt geht es zu Tisch. Die Männer schieben sich in einer
Schlange den schmalen Durchgang vom Rasenvorplatz zu den Terrassen
hindurch. Wo sie gehen, bildet sich Nebel aus Zigarrenrauch. Sie
setzen sich an die Tafel, legen unisono die Fürst Bismarck
auf den Aschenbechern ab, vier Rillen für vier Zigarren,
die mit den glimmenden Spitzen aufeinander zeigen.
Die Tische sind gedeckt wie im Roman Fischbachs beschrieben: Legenden
von Schwarz und Grau. Weiße Tücher, darauf kleine
Decken in tiefrotem Samt mit Bordüren - sogar das antike
Jugendstilporzellan hat man herbeigeschafft. "Wie in den
Legenden", sagt der Mann neben Sven euphorisch. Die Tische
seien in jedem Jahr so gedeckt, antwortet Sven. Sein Blick fällt
auf die Hände des Mannes. Sie halten den Suppenteller hoch,
drehen ihn um, heben den Teller dicht vor die Augen, damit der
Mann den Stempel des Porzellans lesen kann. Die Hände sind
viel zu sommersprossig, um Fischbachs Händen ähnlich
zu sein.
Sven sieht den Bedienungen zu, wie sie in langen Schürzen
mit Rüschen umhergehen und Hecht mit Rosinensoße servieren;
später wird es Teegelee geben.
4.
Wind kommt auf, Svens Kopf fühlt sich ungeschützt und
kalt an. Er denkt an den Wirbel der Haare, der den Blick auf die
Kopfhaut freilegt - starrt jemand auf seinen Hinterkopf?
Fotos werden herumgereicht; ein Mann hat sein Wohnzimmer genauso
eingerichtet wie Fischbach. Sogar den gleichen Kamin hat er sich
einbauen lassen, schlicht weiß, weit geschwungen. Fürs
Foto hat er sich davorgesetzt, Rotweinglas in der einen Hand,
Zigarre in der anderen, einen Corgi zu seinen Füßen.
Sven schaut das Foto an. In einer plötzlichen Vision sieht
er die Doppelgänger Fischbachs im kommenden Jahr alle mit
einem Corgi an der Leine - lauter Hände, die aus anthrazitfarbenen
Ärmeln hervorlugen und Hundeleinen umklammern. Neben den
Doppelgängern stehen die Corgis auf kurzen Beinen, fuchsfarbene
Tiere mit weißen Flecken, die Ohren aufmerksam nach vorn
gedreht. Sven reicht das Foto schnell weiter, weg damit.
Das Essen beginnt. Der Hecht riecht nach feuchter Erde. Gräten
werden auf den Abfalltellern abgelegt, Bärte mit Servietten
betupft. Tropfen von Rosinensoße hängen in den Haaren.
Zum Essen gibt es Kaffee, die meisten rühren ihn nicht an,
trinken lieber Rotwein oder Bier direkt aus der Flasche. Bald
sehen die Teilnehmer aus wie von Stromschlägen getroffen
- die Haare wirr abstehend, die Gesichter kahl. Bärte liegen
abgerissen auf den Tischen, sind von Wein und Bier durchtränkt.
Wie will man mit diesen verdorbenen Bärten morgen zum Wettbewerb
antreten, geht es Sven durch den Kopf.
Die Restehalde auf dem Tisch spricht zu dem, der in ihr lesen
kann: Wo auf dem Teller die Gräten sauber zurückbleiben,
kann nicht der wahre Fischbach gegessen haben; er mag keinen Hecht.
Wo viele Rosinen übriggeblieben sind, ebenso wenig, er isst
Rosinen lieber als irgendetwas sonst.
Hansen hat sein Gelee zu einer Formation aus fünf Wolken
zerteilt, keine Rosine liegt mehr auf seinem Teller, den Fisch
hat er verschmäht.
"Gib zu, dass du es bist", stößt einer hervor
und packt Hansen an der Krawatte.
Der Däne beteuert, er sei Hansen, seine Stimme ist kläglich.
Der Mann lässt von Hansen ab, greift einen anderen Doppelgänger
an. Ringsum entlädt sich Wut, Sven sieht Menschen aufeinander
losgehen. Einige Männer wollen der wahre Fischbach sein,
andere nicht. Manche sind wütend, weil der wahre Fischbach
sich nicht zu erkennen gibt - er ist es ihnen schuldig, sich zu
zeigen! Ihr halbes Leben haben sie ihm gewidmet, er ist ihnen
etwas schuldig!
Sven und Hansen bekommen Hiebe ab, der eine am Rücken, der
andere am Kopf. Sie flüchten von der Tafel, schauen sich
nicht um. Im Foyer des Hotels hetzen sie den Korridor entlang,
rennen die Stufen hinauf zu ihren Zimmern. Das Fußgetrappel
der Verfolger verliert sich unterwegs, auch Hansen ist irgendwann
verschwunden.
Im Hotelzimmer stellt sich Sven ans Fenster, atmet durch. Da unten
prügeln sie sich noch immer. Der Kaminbesitzer liegt in einer
Rabatte, reibt sich die Hände, als ob er sie waschen würde.
Sven dreht sich weg, müde geht er zum Bett hinüber und
kann sich doch nicht hineinlegen. Die kahle Stelle am Hinterkopf,
die mit dem Wirbel, würde noch platter gedrückt. Vielleicht
setzt er sich aufs Sofa heute Nacht, vielleicht wird die Frisur
so besser erhalten, der gezwirbelte Bart nicht zerzaust werden.
Eine Bartbinde wollte er kaufen, schon seit drei Jahren will er
das, vergisst es aber stets. Er setzt sich aufs Sofa, befühlt
mit den Händen sein Gesicht. Die Falte über der Nasenwurzel
fühlt sich rauh an. Seine Hand sinkt herab, der Kopf wird
schwer. Im Halbschlaf tastet er nach der Jackentasche, ob der
Augenbrauenstift noch da ist. Sven fährt mit dem Zeigefinger
über die Spitze des Stifts, sie ist abgebrochen, keine Mine
mehr zu ertasten, nur gesplittertes Holz, das in seinen Finger
sticht.
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