Andreas Gößling
Er war besessen von der Idee, Körper
zu öffnen; sie nicht bloß zu penetrieren, sondern
Durchlässe, Ein- und Ausschlüpfe zu schaffen: der Leib
als Behausung, der Mensch als Herbarium - "wohlgemerkt, der
lebende Körper auf dem Gipfel der Vitalität!"
Selten konnte er einen solchen Körper ansehen, ohne ihn aufzukratzen,
anzubohren, aufzubrechen, zumindest in Gedanken, in hochpräzisen
Phantasmen: "Sexualität ist Sublimation", wie er
zu dozieren pflegte (vor ganz und gar verständnislosen Jüngern);
"Geschlechtsverkehr, zu Ende gedacht: die totale Penetration
des Morastigen: allmähliches Hineinfaulen - besser gesagt:
Zurückmodern - in den Erdmutterbauch!"
Die vielfältigen Praktiken, Körper zu öffnen, faszinierten
ihn; aber die Idee betete er an: Wenn er an irgend etwas
glaubte, bedingungslos glaubte, dann an das Aufbrechen der Körper,
ja an die Heiligkeit dieses Prozesses, der für Carl Söllner
"Teilhabe an der Schöpfung" war.
Vor dem ersten Weltkrieg unweit von Braunschweig geboren (zu Anfang
eines Jahrhunderts, das wie kein zweites seine und seinesgleichen
Ära werden sollte), hatte Söllner es früh schon
verstanden, seine "Faszination zur Profession" zu
machen: als Schlachtviehhändler, wenig später auch als
Lederwarenfabrikant, der neue Techniken zur Häutung von Großvieh
und zur Weiterverarbeitung von Häuten und Fellen entwickelte
(aber das Aufbrechen der weichen, unförmigen Kuhleiber ekelte
ihn bald schon an); später dann, in den dreißiger und
frühen vierziger Jahren, als er sich von den Sturmwinden
der Kriegsgier und der Rassenhysterie nach Osten wehen ließ;
dabei waren ihm rassische Spitzfindigkeiten genauso gleichgültig
wie militärische Strategien: Seine Faszination galt dem "lebendoffenen
Menschenleib", den unerschöpflichen Möglichkeiten,
Körper zu öffnen, sie anzufressen, aufzubrechen, Durchschlüpfe
zu schaffen, Behausungen für Spinnen oder Lurche; wobei er
im großen und ganzen Jungmannskörper bevorzugte (da
die Weiber meist zu fett waren und die Knochen der Greise ihm
wie Porzellan zwischen den Händen zersprangen), ihrer Geschmeidigkeit
und Glätte halber sowie natürlich wegen ihrer Zähigkeit;
denn nur die lebenden Körper zählten: "Wenn mir
einer wegstirbt - früher, als es nach meiner Berechnung unvermeidlich
war -, habe ich versagt!"
Carl Söllner (der tatsächlich unter diesem Namen zur
Welt gekommen war und sich die bürgerliche Existenz immer
offengehalten hatte "wie eine Hundehütte, in die man
schwanzwedelnd zurückschlüpft, wenn der Wolf fürs
erste sattgefressen ist") verstand sich in einem durchaus
pathetischen, anspruchsvoll überhöhenden Sinn als Künstler,
seine Arbeit am Leib als künstlerisches Wirken und die geöffneten,
tiefsinnig manipulierten Körper als "Kunstwerke in romantischer,
genauer gesagt, in schwarzromantischer Tradition. Höchste
Erfüllung: der Tod! Auf ihn sollen wir hinarbeiten, ihn aber
auch hinauszögern, wie es die Raffinesse - in der Kunst wie
in der Liebe - gebietet!" Ganz im romantischen Sinn sah er
die Natur als seine "Lehrmeisterin" an; ihr suchte er
immer neue Kunstgriffe abzuschauen, von ihr wollte er "ein
Leben lang in Demut die Kunst des Körperöffnens lernen".
Folgerichtig entzückten ihn Wunden aller Art, eitrige Entzündungen,
nässende Pustelnester, offene Amputationsstümpfe oder
Geschwüre: Für ihn waren es "Pforten ins Paradies",
und es beseligte ihn, "mit einem Finger, mit mehreren Fingern,
mit der ganzen Hand hineinzugehen, bis zur Handwurzel, bis zum
Ellbogen, weiter, weiter"; häufig stellte er sich vor,
wie er selbst "kopfüber, zur Gänze, in einen genügend
großen, gebresthaft geöffneten Körper" hineinfuhr.
Als Hilfssanitäter hatte Söllner in den zwanziger Jahren
unter dem Namen Heinrich Porstner kurzzeitig in Lazaretten gearbeitet,
in denen die hunderterlei Schuß- und Bruch-, Stich- und
Platzwunden, Früchte der damals verbreiteten Banden-, Saal-
und Straßenschlachten, behelfsmäßig behandelt
wurden. Dabei war der junge Söllner auf das Phänomen
der "großflächigen Dauerwundheit" gestoßen,
"die bei sich hinziehender Bettlägerigkeit im Verein
mit zurückgeschraubter Sauberkeit aufblüht". Die
Entdeckung dieser großflächigen Dauerwundheit betrachtete
er selbst als seinen "Durchbruch in der romantischen Wissenschaft
des Körperöffnens" (wobei ihm der Doppelsinn des
Wortes Durchbruch keineswegs entging). Ein lebender Körper,
unbeweglich auf geeigneten Untergrund gebettet, begann "im
Stande totaler Vitalität anzufaulen, ist gleich: sich diskret
zu öffnen"; das war fabelhaft: "Vom Nacken über
die Schulterpartie, die gesamte Hinterfront bis hinunter zu beiden
Waden" konnten sich derlei diskrete Körperöffnungen
erstrecken, wenn der Körper nur hinreichend fixiert wurde
und der gewählte Untergrund genügend "fäulnisaktiv"
war.
Mit Schweiß und Fäkalien getränkte Lazarettlaken
wiesen hierbei den richtigen Weg; aber derlei Halbherzigkeiten
waren Söllners Sache nicht; er verwarf auch sie als "hasenhafte
Sublimation" und begann noch in den zwanziger Jahren mit
"gärigen Untergründen" zu arbeiten, wenn auch
nicht mehr im Lazarett, da er "aus unerfindlichem Grunde"
schon nach wenigen Monaten aus dem Sanitätsdienst entfernt
worden war.
Ende März 1938 übertrat er zum ersten Mal "die
Schwelle der romantischen Bräuhalle zu Steglitz", wo
ihn beim Anblick der kolossalen, schimmelgrün korrodierten
Kupfertröge sogleich sein "persönliches, vielmehr:
überpersönliches Heureka" ereilte: In diesen gegen
vier Meter hohen Kesseln, in denen noch während der zwanziger
Jahre Lagerbier der Marke "Graf zu Steglitz" gebraut
worden war, hatte sich seither eine "hochfaszinierende Lebens-,
das heißt: Fäulniskultur" gebildet; ein schwarzbrauner
Morast, stark gärig riechend, in den Söllner bis zu
den Knien einsank, nachdem er höchstpersönlich mit Hilfe
einer Leiter "in dieses Vorzimmer des Paradieses" hinabgestiegen
war. Es handelte sich um eine Mischung aus Biermaischeüberresten,
Sandstaub, zerfallenen Kleintierkadavern und Regenwasser, das
durch Leckstellen im Dach der alten Bräuhalle platschte;
in diesem offenkundig "hochaktiven Urzeitschlamm" hatten
sich verschiedene Populationen angesiedelt, Schwanzlurche, Aaskäfer,
Würmer sowie achtäugige Wolfsspinnen, die an den höher
gelegenen, sukzessive verkarstenden Krustenrändern auf der
Lauer lagen.
Es war der ideale Untergrund, warm, feucht und fäulnisaktiv,
und Söllner (der sich für seine "Wolfsjahre im
Osten" den Namen "Hagen Görsmann" zugelegt
hatte) ließ bald schon "geeignetes Lebendgut"
herbeischaffen und im Morast der Brautröge "unbeweglich
fixieren, zum Zwecke der Herbeiführung und des Studiums der
großflächigen Dauerwundheit", wie er in seinem
"romantischen Tag- und Nachtbuch" notierte.
"Die Ergebnisse übertreffen meine kühnsten Erwartungen:
rotbrandige Flächenwunden über die ganze Rückpartie
schon nach 72 Stunden; rapide Zersetzung der Hautschichten; darunter
das Fleisch: mehlfarben mit rosa Schlieren, in milchigen Blasen
aufquellend; Milben, Maden u.s.f. unter Lupe bereits sichtbar
aktiv. - Geruch: Boviste im ersten Stadium der Fäulnis; drücke
meine Nase ins brandige Fleisch, das sich mit nachgiebigem Schmatzlaut
öffnet. - Temperatur des Körpers: 39,5°, verflucht!"
Die großflächige Wundheit voranzutreiben und gleichzeitig
das "Feuer der Entzündung" unter Kontrolle zu halten,
betrachtete Söllner Ende der dreißiger Jahre als "größte
Herausforderung meines Lebens". Er ordnete an, daß
einer der Kupfertröge ("meine gärige Wunderwaffe!")
mitsamt seinem glucksenden und quappenden Inhalt in den Hinterraum
der alten Bräuhalle geschafft wurde, den er durch eine Feuertür
verrammeln ließ. Zugleich schickte er seine Schwarzrockhorde
auf die "Jagd nach mageren, annähernd ausgewachsenen
Körpern - man bleibe mir nur vom Leib mit dem milchkalbzarten
Kindskrimskrams: das stirbt einem ja beim kleinsten Schwupps unter
den Händen weg!"
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