Texte
Am Erker 53, Münster, Mai 2007
 

Kai Köhler
Anekdoten

I
Ein sächsischer Grenadier, der im Spätherbst 1812 auf dem Rückzug, nein eher: auf der Flucht der Grande Armée aus Rußland sein Gewehr gegen ein Stück Brot eingetauscht hatte, stieß auf einen ebenso abgerissenen Offizier, der beschloß, gegen solchen Defätismus ein Exempel zu statuieren. Anstelle der letzten Gewalt, die angesichts der weitgehenden Auflösung jeder militärischen Ordnung wohl ihm persönlich zugestanden hätte, begnügte sich jedoch der Offizier, der auch seit zwei Tagen nichts mehr gegessen hatte, mit der pädagogischen Maßnahme, den Untergebenen zum Rücktausch, und zwar gegen sein eigenes Gewehr, zu zwingen. Nun wieder brotlos, doch bewaffnet, eröffnete sich dem immer hungrigeren Soldaten die Möglichkeit, sich beides anzueignen, ja: vom zerfallenden Heer und dem Tauschprinzip überhaupt abzugehen und die gemeinsame Niederlage in individuelles Gelingen, möge es über kurz oder lang auch zum Galgen führen, zu verwandeln.
Nun dachte unser Mann, wenn ihn gerade die Not zu nichts anderem zwang, streng rechtlich, was auch hieß, daß er die Vorteile zu erwägen wußte, die nun ein Handeln im Rahmen der Ordnung, die in irgendeinem Kriegshauptquartier noch herrschen mochte, bot. Wirklich gelang es ihm, seinen Vorgesetzten mit der Waffe in der Hand bis zu einem General zu treiben, der die propagandistische Möglichkeit, die sich ihm in der allgemeinen Auflösung bot, begriff. Der Offizier, der seine Waffe wegtauschte, wurde wegen Defätismus erschossen; der einfache Mann hingegen hatte für einen Abend teil an den Köstlichkeiten, die in jedem Krieg zu jeder Zeit irgendwo aufzufinden sind, und gelangte, als Vorbild an Pflichterfüllung gehegt, als einer von wenigen zurück nach Deutschland, wo ihm im Folgejahr bei Leipzig eine Kanonenkugel den Kopf abriß.