Texte
Am Erker 51, Münster, Mai 2006
 

Katharina Bendixen
Schwangerschaft im Blumentopf

An dem Tag, an dem alle meine Pflanzen auf dem südseitigen Fensterbrett gleichzeitig ein neues Blatt auszutreiben schienen, stellte ich fest, dass es Zeit wurde, ein Kind zu bekommen. Ich hatte das Gefühl, die Nahrungsaufnahme von Lebewesen zuverlässig und pünktlich erledigen zu können, ich hatte das Gefühl, im Moment genug zu reden, um eine ordnungsgemäße Sprachaufnahme sicher zu stellen, und ich hatte das Gefühl, durch Beobachtungen und regelmäßige Lektüre genügend Wissen angesammelt zu haben, um eine ausreichende Wissensaufnahme zu gewährleisten.
Ich fuhr mit der Straßenbahn durch einen Vorort, in dem ich zu Besuch bei einer gealterten und immer noch blondierten Bekannten aus Schulzeiten gewesen war, die zum Abschied gemurmelt hatte: "Und wenn er heute nicht pünktlich nach Hause kommt, tauche ich seine Zahnbürste in die Kloschüssel, ehe er seine Zähne putzt", die daraufhin schüchtern und zögernd gelächelt und hoffnungsvoll abgewartet hatte, was ich zu ihrem Vorschlag sagen würde, ich sagte: "Mach's mal gut, bis bald mal, wir telefonieren mal", zuckte zusammen aufgrund der unschönen und unglaubwürdigen Wiederholungen und sprang die Treppe etwas zu zielstrebig hinunter. "Ja", sagte sie noch. Als ich um die Ecke zur Haltestelle gebogen war, glaubte ich sie noch einmal "ja" sagen zu hören, obwohl das akustisch unmöglich war. Ich fror leise, zitterte so wenig, dass ich es selbst kaum bemerkte, und entschied mich in diesem Moment, am Abend die Pille nicht mehr zu nehmen.
In der Straßenbahn hing ein Plakat, das meine Aufmerksamkeit gefangen nahm. "Die Verkehrsbetriebe feiern den ersten Senioren- und Behindertentag!" Auf dem Plakat war ein Mann abgebildet, bei dem man nicht erkennen konnte, welcher der beiden Gruppen er zugeordnet werden sollte, den Rentnern oder den Behinderten. Ich dachte kurz darüber nach, ob alle Rentner Senioren waren und alle Senioren Rentner, ich beschloss nach einer Haltestelle, Rentner als eine Teilmenge der Senioren zu begreifen, und fragte mich dann, was die Verkehrsbetriebe an diesem Tag feiern würden. Ob Rollstuhlfahrer dann in die stehenden neuen tiefgelegten Wagen fahren würden, hinein und hinaus, hinein und hinaus, und ob sie dabei einen Rentner umfahren würden, der sich auch hinein und hinaus, hinein und hinaus bewegte. Und ob sich alle freuen würden, dass diese neuen Wagen so praktisch wären und am nächsten Tag dann die Stadt von einer Welle straßenbahnfahrender Senioren und Behinderter überschwemmt würde, die erst während dieser Feier der Verkehrsbetriebe begriffen hätten, dass sie trotz ihres Alters- oder Körperdefizits die öffentlichen Verkehrsmittel noch benutzen konnten. Ich fragte mich, ob die Feier auch für geistig Behinderte stattfinden würde, ob Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe dann geistig Behinderten die Fahrpläne, die Linienführungen, die Schalter zum Ein- und Aussteigen, die Lichtschranken in den Türen erklären würden und ob dann am nächsten Tag eine Horde von spielenden Heiminsassen mit Freigang die Straßenbahnfahrer zur Verzweiflung bringen würden, indem sie lachend die Grenzen der Lichtschranken erkunden und jegliche Fahrerdurchsagen ignorieren würden. Ich kam zu keinem gedanklichen Ergebnis, redete so leise mit mir, dass ich es selbst kaum bemerkte, und beschloss in diesem Moment, den Blick auf die auffordernden Kaufhäuser auf der anderen Seite der Glasscheibe gerichtet, auszusteigen und mir neue Unterwäsche zu kaufen.
Die Stadt war kühl und gähnte mich mit einem Schlund voller Kinderwagen und schwangerer Frauen an. Es war spät, es gab Hektik, die bei mir ein flaumig abstoßendes Gefühl auf der Zunge verursachte. Ich dachte an die Nacht, als ich in der Unterwäscheabteilung stand, ich dachte an Hände, als ich einen BH befühlte, ich dachte an Bettdecken, als ich eine Unterhose von einem Kleiderständer nahm, ich befühlte mich zufrieden grinsend und ging schneller zu der Verkäuferin mit Feierabend in den Augen, als das Linoleum die Schritte tragen konnte. Ich dachte an Augen und an Shampoo und an Kerzen und an Windeln. Ich dachte kurz an den Frauenarzt, stolperte in dem Moment so leise über einen losen Pflasterstein, dass ich es selbst kaum bemerkte, und beschloss, mich in Ruhe auf das Schlafzimmer einzustellen.
Ich lief nach Hause und beseitigte die Kaffeeflecken, die der gedankliche Vater des gedanklichen Kindes am Morgen auf dem Küchentisch hinterlassen hatte. Ich wischte den Tisch zärtlich ab, der Schwamm und der Tisch waren mir plötzlich lieber als das Kind, meine Gedanken flohen ins Bad, wo sie die heutige Pille unauffällig in der Kloschüssel beseitigten, und zu den Pflanzen im südseitigen Fensterbrett. Die Pflanzen waren einverstanden, als ich sie eine Weile ansah und die keimenden Blätter vorsichtig berührte, auf der Straße kämpfte ein Kind mit seinem widerspenstigen Fahrrad, ich dachte an das erste Auto des Kindes, als der gedankliche Vater einfach nicht den Schlüssel im Schloss drehen wollte. Im Haus gegenüber sah ein alter Mann fern, die Gesichter auf dem Bildschirm strahlten bis zur Fensterscheibe und schienen hässliche dunkelgrüne Worte auszuspucken, ich entkleidete mich, ohne die Gardinen vorzuziehen, und beobachtete die Mienen im Fernseher, während ich die neue Unterwäsche anzog. Die Pflanzen sahen mich stumm an und trieben ihre ganze Kraft in die neuen Blätter. Ich imitierte kurz die letzte Miene der Gesichter von gegenüber, versteckte den neuen BH-Träger unter dem T-Shirt, erschrak vor mir im Spiegel so leise, dass ich es selbst kaum bemerkte, und beschloss, das Abendbrot vorzubereiten.
Als der gedankliche Vater die Tür öffnete, sagte ich etwas. Er antwortete ruhig und zog die Schuhe aus. Ich dachte, dass ich sie später in den Schrank stellen würde. Er legte die Jacke über den Kleiderständer und bot mir seine Brust zur Liebkosung an. Ich liebkoste und fühlte mich dabei sicher und sicherlich auch ruhig. Der gedankliche Vater sagte etwas Anderes und ich antwortete etwas Ähnliches. Jeder aß langsam ein Leberwurstbrot und eins mit Käse, es war schon spät, es gab einen Schmatzer und wohl auch einen gedämpften Rülpser, der bei mir ein rauschend aufstoßendes Gefühl im Magen auslöste, es gab Erdbeerquark zum Nachtisch. Ich lehnte mich zurück und verdaute so auffallend leise, dass ich es selbst kaum bemerkte.
Im Bad später dachte ich an die Freundin und ihren Mann, der sich seine Zähne heute vielleicht mit einem merkwürdigen Geschmack putzen musste, ich dachte an ihr "ja" und an ihr Zögern, ich dachte an meine Gedanken und an die Unterwäsche, die ich auszog und in den Wäschekorb unter die Hemden des gedanklichen Vaters legte, ich faltete sie vorher zusammen, ich dachte an die Kaffeeflecken auf dem Küchentisch und an die unordentliche Jacke über dem Kleiderständer, in deren Taschen sich neben Kugelschreibern und dem Führerschein auch ein Messer befand, das mir immer Angst einjagte. Ich trocknete mein Gesicht ab und öffnete die Tür zum Schlafzimmer so leise, dass ich es selbst kaum bemerkte.
"Und", sagte der gedankliche Vater, als wir im Bett lagen. "Weißt du", sagte ich, "in der Straßenbahn hängt so ein Plakat, dass die Verkehrsbetriebe eine Feier für Senioren und Behinderte veranstalten." - "Und?" sagte er. "Und", sagte ich und verstummte. "Ach, du meinst, da könnten wir den Vater hinschicken?" fragte er nach einer Weile, als hätte er plötzlich den Sinn meines Satzes verstanden, als wüsste erplötzlich, wie meine Assoziationen immer wild meiner Zunge Gewalt antaten. "Welchen Vater?" fragte ich, ich war verwirrt, ich hatte so viele Gedanken über Väter entworfen, ich dachte an den Vater meines gedanklichen Kindes, an den Vater des Kindes mit dem Fahrrad, an den Vater eines Rentners bei der Feier der Verkehrsbetriebe, ich dachte an den Vater des Frauenarztes, ich konnte nur noch an Väter denken plötzlich, die Pflanzen trieben währenddessen neue Blätter aus, ich atmete auf einmal hastig und flach. "Na, deinen Vater, meinen können wir ja wohl nirgends mehr hinschicken", erwiderte er. Mir war schlecht von Erdbeerquark und Leberwurst, ich dachte an die Pille in der Kloschüssel, direkt neben der Zahnbürste. "Kopfschmerzen", sagte ich nur noch, "immer diese Kopfschmerzen", dann drehte ich mich auf meine unverletzbare Seite. "Ja", sagte er, "vielleicht würde dein Vater sich freuen." Und ich dachte, dass Kinder ihre Eltern zu Feiern von Verkehrsbetrieben schickten, wo diese gemeinsam mit Behinderten Ein- und Aussteigen übten, ich dachte so leise, dass ich es selbst schon bemerkte, während die flimmernden Bilder von gegenüber die Schatten der wachsenden Pflanzen an die Wand warfen.