Katharina Bendixen
An dem Tag, an dem alle meine Pflanzen auf dem
südseitigen Fensterbrett gleichzeitig ein neues Blatt auszutreiben
schienen, stellte ich fest, dass es Zeit wurde, ein Kind zu bekommen.
Ich hatte das Gefühl, die Nahrungsaufnahme von Lebewesen
zuverlässig und pünktlich erledigen zu können,
ich hatte das Gefühl, im Moment genug zu reden, um eine ordnungsgemäße
Sprachaufnahme sicher zu stellen, und ich hatte das Gefühl,
durch Beobachtungen und regelmäßige Lektüre genügend
Wissen angesammelt zu haben, um eine ausreichende Wissensaufnahme
zu gewährleisten.
Ich fuhr mit der Straßenbahn durch einen Vorort, in dem
ich zu Besuch bei einer gealterten und immer noch blondierten
Bekannten aus Schulzeiten gewesen war, die zum Abschied gemurmelt
hatte: "Und wenn er heute nicht pünktlich nach Hause
kommt, tauche ich seine Zahnbürste in die Kloschüssel,
ehe er seine Zähne putzt", die daraufhin schüchtern
und zögernd gelächelt und hoffnungsvoll abgewartet hatte,
was ich zu ihrem Vorschlag sagen würde, ich sagte: "Mach's
mal gut, bis bald mal, wir telefonieren mal", zuckte zusammen
aufgrund der unschönen und unglaubwürdigen Wiederholungen
und sprang die Treppe etwas zu zielstrebig hinunter. "Ja",
sagte sie noch. Als ich um die Ecke zur Haltestelle gebogen war,
glaubte ich sie noch einmal "ja" sagen zu hören,
obwohl das akustisch unmöglich war. Ich fror leise, zitterte
so wenig, dass ich es selbst kaum bemerkte, und entschied mich
in diesem Moment, am Abend die Pille nicht mehr zu nehmen.
In der Straßenbahn hing ein Plakat, das meine Aufmerksamkeit
gefangen nahm. "Die Verkehrsbetriebe feiern den ersten Senioren-
und Behindertentag!" Auf dem Plakat war ein Mann abgebildet,
bei dem man nicht erkennen konnte, welcher der beiden Gruppen
er zugeordnet werden sollte, den Rentnern oder den Behinderten.
Ich dachte kurz darüber nach, ob alle Rentner Senioren waren
und alle Senioren Rentner, ich beschloss nach einer Haltestelle,
Rentner als eine Teilmenge der Senioren zu begreifen, und fragte
mich dann, was die Verkehrsbetriebe an diesem Tag feiern würden.
Ob Rollstuhlfahrer dann in die stehenden neuen tiefgelegten Wagen
fahren würden, hinein und hinaus, hinein und hinaus, und
ob sie dabei einen Rentner umfahren würden, der sich auch
hinein und hinaus, hinein und hinaus bewegte. Und ob sich alle
freuen würden, dass diese neuen Wagen so praktisch wären
und am nächsten Tag dann die Stadt von einer Welle straßenbahnfahrender
Senioren und Behinderter überschwemmt würde, die erst
während dieser Feier der Verkehrsbetriebe begriffen hätten,
dass sie trotz ihres Alters- oder Körperdefizits die öffentlichen
Verkehrsmittel noch benutzen konnten. Ich fragte mich, ob die
Feier auch für geistig Behinderte stattfinden würde,
ob Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe dann geistig Behinderten die
Fahrpläne, die Linienführungen, die Schalter zum Ein-
und Aussteigen, die Lichtschranken in den Türen erklären
würden und ob dann am nächsten Tag eine Horde von spielenden
Heiminsassen mit Freigang die Straßenbahnfahrer zur Verzweiflung
bringen würden, indem sie lachend die Grenzen der Lichtschranken
erkunden und jegliche Fahrerdurchsagen ignorieren würden.
Ich kam zu keinem gedanklichen Ergebnis, redete so leise mit mir,
dass ich es selbst kaum bemerkte, und beschloss in diesem Moment,
den Blick auf die auffordernden Kaufhäuser auf der anderen
Seite der Glasscheibe gerichtet, auszusteigen und mir neue Unterwäsche
zu kaufen.
Die Stadt war kühl und gähnte mich mit einem Schlund
voller Kinderwagen und schwangerer Frauen an. Es war spät,
es gab Hektik, die bei mir ein flaumig abstoßendes Gefühl
auf der Zunge verursachte. Ich dachte an die Nacht, als ich in
der Unterwäscheabteilung stand, ich dachte an Hände,
als ich einen BH befühlte, ich dachte an Bettdecken, als
ich eine Unterhose von einem Kleiderständer nahm, ich befühlte
mich zufrieden grinsend und ging schneller zu der Verkäuferin
mit Feierabend in den Augen, als das Linoleum die Schritte tragen
konnte. Ich dachte an Augen und an Shampoo und an Kerzen und an
Windeln. Ich dachte kurz an den Frauenarzt, stolperte in dem Moment
so leise über einen losen Pflasterstein, dass ich es selbst
kaum bemerkte, und beschloss, mich in Ruhe auf das Schlafzimmer
einzustellen.
Ich lief nach Hause und beseitigte die Kaffeeflecken, die der
gedankliche Vater des gedanklichen Kindes am Morgen auf dem Küchentisch
hinterlassen hatte. Ich wischte den Tisch zärtlich ab, der
Schwamm und der Tisch waren mir plötzlich lieber als das
Kind, meine Gedanken flohen ins Bad, wo sie die heutige Pille
unauffällig in der Kloschüssel beseitigten, und zu den
Pflanzen im südseitigen Fensterbrett. Die Pflanzen waren
einverstanden, als ich sie eine Weile ansah und die keimenden
Blätter vorsichtig berührte, auf der Straße kämpfte
ein Kind mit seinem widerspenstigen Fahrrad, ich dachte an das
erste Auto des Kindes, als der gedankliche Vater einfach nicht
den Schlüssel im Schloss drehen wollte. Im Haus gegenüber
sah ein alter Mann fern, die Gesichter auf dem Bildschirm strahlten
bis zur Fensterscheibe und schienen hässliche dunkelgrüne
Worte auszuspucken, ich entkleidete mich, ohne die Gardinen vorzuziehen,
und beobachtete die Mienen im Fernseher, während ich die
neue Unterwäsche anzog. Die Pflanzen sahen mich stumm an
und trieben ihre ganze Kraft in die neuen Blätter. Ich imitierte
kurz die letzte Miene der Gesichter von gegenüber, versteckte
den neuen BH-Träger unter dem T-Shirt, erschrak vor mir im
Spiegel so leise, dass ich es selbst kaum bemerkte, und beschloss,
das Abendbrot vorzubereiten.
Als der gedankliche Vater die Tür öffnete, sagte ich
etwas. Er antwortete ruhig und zog die Schuhe aus. Ich dachte,
dass ich sie später in den Schrank stellen würde. Er
legte die Jacke über den Kleiderständer und bot mir
seine Brust zur Liebkosung an. Ich liebkoste und fühlte mich
dabei sicher und sicherlich auch ruhig. Der gedankliche Vater
sagte etwas Anderes und ich antwortete etwas Ähnliches. Jeder
aß langsam ein Leberwurstbrot und eins mit Käse, es
war schon spät, es gab einen Schmatzer und wohl auch einen
gedämpften Rülpser, der bei mir ein rauschend aufstoßendes
Gefühl im Magen auslöste, es gab Erdbeerquark zum Nachtisch.
Ich lehnte mich zurück und verdaute so auffallend leise,
dass ich es selbst kaum bemerkte.
Im Bad später dachte ich an die Freundin und ihren Mann,
der sich seine Zähne heute vielleicht mit einem merkwürdigen
Geschmack putzen musste, ich dachte an ihr "ja" und
an ihr Zögern, ich dachte an meine Gedanken und an die Unterwäsche,
die ich auszog und in den Wäschekorb unter die Hemden des
gedanklichen Vaters legte, ich faltete sie vorher zusammen, ich
dachte an die Kaffeeflecken auf dem Küchentisch und an die
unordentliche Jacke über dem Kleiderständer, in deren
Taschen sich neben Kugelschreibern und dem Führerschein auch
ein Messer befand, das mir immer Angst einjagte. Ich trocknete
mein Gesicht ab und öffnete die Tür zum Schlafzimmer
so leise, dass ich es selbst kaum bemerkte.
"Und", sagte der gedankliche Vater, als wir im Bett
lagen. "Weißt du", sagte ich, "in der Straßenbahn
hängt so ein Plakat, dass die Verkehrsbetriebe eine Feier
für Senioren und Behinderte veranstalten." - "Und?"
sagte er. "Und", sagte ich und verstummte. "Ach,
du meinst, da könnten wir den Vater hinschicken?" fragte
er nach einer Weile, als hätte er plötzlich den Sinn
meines Satzes verstanden, als wüsste erplötzlich, wie
meine Assoziationen immer wild meiner Zunge Gewalt antaten. "Welchen
Vater?" fragte ich, ich war verwirrt, ich hatte so viele
Gedanken über Väter entworfen, ich dachte an den Vater
meines gedanklichen Kindes, an den Vater des Kindes mit dem Fahrrad,
an den Vater eines Rentners bei der Feier der Verkehrsbetriebe,
ich dachte an den Vater des Frauenarztes, ich konnte nur noch
an Väter denken plötzlich, die Pflanzen trieben währenddessen
neue Blätter aus, ich atmete auf einmal hastig und flach.
"Na, deinen Vater, meinen können wir ja wohl nirgends
mehr hinschicken", erwiderte er. Mir war schlecht von Erdbeerquark
und Leberwurst, ich dachte an die Pille in der Kloschüssel,
direkt neben der Zahnbürste. "Kopfschmerzen", sagte
ich nur noch, "immer diese Kopfschmerzen", dann drehte
ich mich auf meine unverletzbare Seite. "Ja", sagte
er, "vielleicht würde dein Vater sich freuen."
Und ich dachte, dass Kinder ihre Eltern zu Feiern von Verkehrsbetrieben
schickten, wo diese gemeinsam mit Behinderten Ein- und Aussteigen
übten, ich dachte so leise, dass ich es selbst schon bemerkte,
während die flimmernden Bilder von gegenüber die Schatten
der wachsenden Pflanzen an die Wand warfen.
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