Kerstin Kempker
Stellen Sie Ihre Füße hüftgelenkbreit
nebeneinander. Richten Sie sie so aus, dass die Linien zwischen
den zweiten und dritten Zehen parallel zueinander sind.
Ich sehe hinab auf meine traurigen Zehen und die krummen Ritzen
zwischen Zeh Nummer zwei und Zeh Nummer drei und versuche, zwei
asymmetrische Krümmungen zu parallelisieren. Paralysiert
schaue ich zum Vergleich auf die abgebildete Frau im roten Einteiler,
die irgendwie ängstlich, ein Kind, das seine Strafe erwartet,
mein Vorbild sein soll für den aufrechten Stand.
Schmiegen Sie die Groß- und Kleinzehenballen an den Boden.
Drücken Sie kraftvoll mit den Außenkanten der Fersen
gegen den Boden. Lassen Sie den Aufrichteimpuls, der vom Druck
der Fersen ausgelöst wird, an der Rückseite Ihres Körpers
bis zum Kopf aufsteigen. Richten Sie gleichzeitig Ihren Körper
entlang der vertikalen Achse aus. Tragen Sie den Kopf entspannt
auf der Halswirbelsäule und lassen Sie die Schultern gelöst
nach hinten, unten und außen sinken. Finden Sie Ihr inneres
Gleichgewicht, so dass Sie gleichermaßen gelöst und
stabil stehen.
Dankbar, so höflich gesiezt zu werden, drücke ich kraftvoll
gegen den Boden, stehe bockig im O und warte auf den Aufrichteimpuls,
balanciere den Kopf entspannt auf einem Wirbel und entlasse die
Schultern nach hinten, unten und außen und kann es doch
nicht finden, das innere Gleichgewicht. Gute Frau, das stimmt
doch alles nicht, das ist doch nicht wahr. Guck mich mal an, statt
zur Seite zu starren. Wen erwartest du, das Jüngste Gericht?
Wie du da so stehst auf deiner weißen Yogamatte mit rotlackierten
Zehen, du tapfere Soldatin, das ist nicht gelöst und auch
nicht stabil. Das geht so nicht. Ich ziehe die bunten Ringelsocken
wieder über zwei kalte unlackierte Füße, mein
gnädiges Vergessen.
Beruhigt und stabilisiert den Geist, steht auf der Rückseite
der Yogakarte "Der aufrechte Stand"; und ich sage dir:
Lüge, alles Lüge. Mein Geist ist verwirrt und verwackelt.
Verkleinert und haltlos sacke ich auf meinen Arbeitsstuhl, erwühle
mir meine Form zurück und blättere kritisch, ich, ein
kritischer Zeitgenosse, durch die übrigen Karten.
"Krafthaltung im Vierfüßlerstand". Ein Mann
in Oliv schwebt auf Zehen und Handflächen und blickt demütig
zu Boden. Fördert die Kraft, die uns hilft durchzuhalten,
lese ich auf der Rückseite und nehme mir vor, die Krafthaltung
demnächst zu probieren. Auch "Der Hund mit dem Gesicht
nach unten", eine zitronengelbe Frau, die auf der blauen
Matte ein Dreieck bildet mit dem Gesäß als Spitze (Streben
Sie mit dem Gesäß weiter nach oben und hinten)
und dabei von vorne und beinahe auf Augenhöhe ihre Fußzehen
betrachtet, wäre eine Möglichkeit.
Als Hund, denke ich und falle im Geist, noch immer verwirrt und
verwackelt, in den Vierfüßlerstand, als Hund könnte
ich taugen. Kein Dackel, irgendwas zwischen Knie- und Hüfthöhe,
so viel Größe müsste schon sein.
Alle paar Sekunden klicke ich mich auf meinem Laptop in den Posteingang,
ein blindes Huhn, das findet auch mal ein Korn. Warum gibt es
keine Hühnerkarte im Yoga? Ich zitiere den Postboten alle
paar Sekunden zu mir, damit er mir endlich die gute Nachricht
bringt, auf die ich seit Monaten warte. Natürlich lässt
sich das Glück nicht zwingen, so wie auch das Unglück
gerne von selber kommt. Heute bin ich bereit für die gute
Nachricht, spreche ich jeden Morgen aufmunternd dem silbernen
Kasten zu, klappe ihn auf und bringe mit ein paar routinierten
Knopfdrücken Mozilla, meinen orangeroten Affen, zum Leuchten.
Er zwinkert mir zu, Spannung, und lässt die Eieruhr hüpfen,
und dann Pustekuchen, wieder nichts, keine neuen Nachrichten auf
dem Server.
Als Hund käme ich mal aus dem Haus, es muss nicht gleich
Timbuktu sein. Einfach mal rauskommen, um die Ecken, ein bisschen
rumschnuppern, über Gräben springen, Hasen jagen. Warum
nicht? Für den großen Wurf ist es ohnehin zu spät.
Kleine Brötchen backen, ein Leben als Hund, irgendwo zwischen
Schoß, Kampf und Wind; kein Stammbaum, eine stabile Mischung.
Gleichermaßen gelöst und stabil, als Hund ginge
das vielleicht.
Ein schreibender Hund, mit einem Schlag wäre ich die Konkurrenz
los, die ganzen beredten und beschlagenen, mit allen Wassern gewaschenen,
disziplinierten und ausgebildeten blutjungen Schreiber spannender
Romane, erregender Romanzen und schaurig schöner Fiktionen.
Ich wäre der Hund, der schreibt, der einzige. Ich wäre
DER Hund. Eine Respektsperson, gefürchtet, geachtet, es muss
nicht immer gleich Liebe sein. Was ich produziere, wäre dann
fast egal. Sie würden es immer hinter mir einsammeln und
zwischen zwei Buchdeckel pressen. Weil ich mich verkaufe. Der
Hund verkauft sich.
Natürlich gäbe es Neider, Unflätigkeiten, Verrisse.
Aber mit ihnen wüchse mein Ruf, ich Tunichtgut, Hansdampfinallengassen,
ich Großmaul und Lästerer, Schwadroneur und Vielschreiber
(Betonung wie bei Allesfresser), ich wäre der Schreckliche,
der Hund mit dem Gesicht nach oben.
Du fauler Hund, du fieser Hund, das sagt man schon lange zu mir.
So weit kann der Weg nicht sein zu dem Hund, der mir vorschwebt.
Ein guter, ein feiner, ein kluger Hund, DER Hund. Das sag ich
dem Hund! Wenn das der Hund wüsste! Warte nur, bis der Hund
kommt! Fragen wir den Hund. Der Hund hört alles. Der Hund
riecht alles. Der Hund weiß alles. Es ist ein guter Hund.
Ein wachsamer, flinker, ein schöner Hund.
Endlich wäre auch ihnen klar, warum sie mich nicht verstehen
können. Die feinen Töne kommen in ihren Ohren nicht
an. Dankbar und angerührt lauschen sie dennoch dem Klang
meines Bellens, meinem Jaulen und Winseln. Weil ich DER Hund bin,
ist alles, was ich von mir gebe, von größter, von tiefster
und diffizilster Bedeutung. Ein Gähnen von mir lässt
sie an ihrer Langeweile verzweifeln. Ein Stirnrunzeln - ja, auch
wir Hunde runzeln die Stirn - bringt ihre Gedankengebäude
zum Einsturz und bewegt sie dazu, ganz neu, von Grund auf neu
noch einmal mit dem Denken zu beginnen. Wo sich mir die Rückenhaare
sträuben, rasen sie in blinder, in wilder Flucht davon. Sie
richten Krisenstäbe ein, wenn ich unpässlich bin. Mein
wedelnder Schwanz macht sie glücklich. Meine dargereichte
Pfote ist der neue Nobelpreis. Ich warte nicht länger auf
ihn, ich bin der Verleiher.
"Krafthaltung im Vierfüßlerstand", schon
in der Vorstellung richtet sich mein innerer Schweinehund zu seiner
vollen Größe auf, bricht aus mir heraus und hat mich
längst überwunden. Gar nicht vorzustellen, was geschehen
würde, wenn ich nun noch zur Tat schritte und sie wirklich
in vivo einnähme, die "Krafthaltung im Vierfüßlerstand".
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