| Sandra Niermeyer(Romanauszug)
 Es störte sie, daß er auf ihrem Kopf 
                herum lief. Es klang, als trüge er Holzschuhe oder schwedische 
                Clogs. Er schien Spuren auf das Parkett zu laufen. Wenn sie seine 
                Schritte nicht hörte, dann fuhr oder rollte er mit dem Schreibtischstuhl 
                über den Holzfußboden, und das war noch lauter. Als 
                er noch in ihrer Wohnung wohnte und im Bett neben ihr schlief, 
                hatte sie ihn kaum bemerkt. Er lief auf Socken über den Teppich 
                und sie vergaß, daß er da war. Aber oben lag kein 
                Teppich, oben trug er Schuhe. Die Toilettenspülung ging. Das Wasser rauschte durch die 
                Leitung, durch die Wände, an ihrem Kopf vorbei. Direkt neben 
                ihr flossen seine Exkremente durch die Wand und es ärgerte 
                sie, das Geräusch und die Vorstellung, die paar Zentimeter 
                Putz und Mörtel, die sie von seinem Abfall trennten.
 Er will mich aus dem Haus treiben, dachte sie, durch seine Schuhe 
                und seinen Schreibtischstuhl will er mich aus dem Haus treiben. 
                Er geht zwanzig Mal am Tag auf die Toilette und zieht die Wasserspülung, 
                nur um mich aus dem Haus zu treiben.
 Sie drehte den kleinen Zettel in der Hand, den sie auf der Treppe 
                gefunden hatte. Stell bitte nächste Woche die Biotonne an 
                die Straße, ich werde für einige Tage weg sein. Ein 
                Glück, dachte sie. Wo wirst du sein, schrieb sie auf die 
                Rückseite, dann knüllte sie den Zettel zusammen und 
                warf ihn zu den anderen in die Bodenvase.
 Er war schmaler geworden, als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. 
                Er verhungert, er kann nicht kochen. Bald liegt er verhungert 
                in der Wohnung und stinkt. Im Treppenhaus grüßten sie 
                sich, ohne sich anzugucken. Sie sah nur seine Beine, die immer 
                dünner wurden. Sie begegneten sich selten. Wenn sie seine 
                Tür hörte, ging sie in ihre Wohnung zurück und 
                wartete hinter der Tür ohne Spion, bis er das Haus verlassen 
                hatte. Dann ging sie in den Keller und stopfte ihre Wäsche 
                in die Maschine. Seine Socken stanken durch den ganzen Raum. Er 
                kann nicht waschen. Er kann Waschmaschinen reparieren, aber nicht 
                waschen. Der Sockenberg wurde jede Woche größer. Wie 
                kann man so viele Socken haben. Er verpestet mit seinen Socken 
                die Luft. In jeder Ecke lagen sie und stanken. Bald kann ich den 
                Raum nicht mehr betreten, ohne in riesige Sockennester zu treten. 
                Jedes Mal, wenn sie an den Bergen vorbeikam, nahm sie ein paar 
                einzelne Socken und warf sie in den Müll. Wenn ich jeden 
                Tag fünf Socken wegnehme, hat er in drei Wochen kein einziges 
                Paar mehr, das zueinander paßt.
 Sie ging im Dunkeln ins Bett, um die leere Betthälfte nicht 
                sehen zu müssen, das aufgeschüttelte Federbett, sich 
                wölbend wie ein dicker Bauch, das jeden Tag gleich aussah. 
                Wenn sie ihr eigenes Bett bezog, bezog sie seines mit.
 Kein Schnarchen mehr neben mir. Endlich Ruhe. Sie konnte nicht 
                einschlafen. Wenn ich seine Seite absäge, bricht meine mit 
                zusammen. Oben polterte es. Er ist vom Stuhl gefallen. Er ist 
                mit Herzinfarkt vom Stuhl gefallen. Er ist im besten Alter für 
                Herzinfarkte. Sie lauschte. Oben war alles still. Dann ratterten 
                seine Rolläden herunter. Es war zwölf Uhr nachts. Was 
                macht er so lange. Plötzlich drang das Geräusch von 
                Schüssen durch die Decke. Sie fuhr hoch. Dann das Quietschen 
                von Reifen. Ein Krimi. Er sieht einen Krimi. Durch die Decke dröhnten 
                laute Männerstimmen. Seine war nicht dabei. Sie krabbelte 
                im Dunkeln aus dem Bett und ging ins Wohnzimmer. Sie zog die Programmzeitschrift 
                aus dem Zeitschriftenständer. Tatort, sagte sie, er sieht 
                Tatort. Sie las den kleinen Abschnitt über den Inhalt der 
                Folge durch.
 Die Rollen seines Schreibtischstuhles schleiften über den 
                Boden. Zwei der Rollen klemmten. Er verkratzt den Fußboden. 
                Das ist eine Wertminderung. Er mindert den Wert des Holzfußbodens. 
                Die Heizungsrohre blubberten. Er hat die Heizung hochgedreht, 
                um diese Uhrzeit. Sie ging im Nachthemd in den Keller und stellte 
                sie niedriger.
 Dann ging sie zurück ins Bett und lauschte auf die Geräusche 
                des Krimis.
 
 Hast du die Heizung heruntergedreht? stand am nächsten Morgen 
                auf dem Zettel vor ihrer Tür. Und wenn? schrieb sie auf die 
                Rückseite.
 Sie wartete hinter der Tür, bis er den Zettel fand. Sie bückte 
                sich und sah durch das Schlüsselloch, aber sie konnte nur 
                seine Schuhe sehen. Die nächste Tür hat einen Spion.
 Das mit der Heizung hat er herausbekommen. Das mit der Dusche 
                bekam er nicht heraus. Immer, wenn er duschte, drehte sie die 
                Sicherung für sein Badezimmer heraus, so daß der Durchlauferhitzer 
                nicht ansprang und er kalt duschen mußte. Er hatte schon 
                zweimal einen Klempner geholt. Aber der Klempner hatte nichts 
                finden können. Der Durchlauferhitzer ist in Ordnung, sagte 
                er.
 Sie ging zum Briefkasten. Sie hatten zwei Briefkästen, einen 
                mit Linda Schnee und einen mit Henri Schnee, aber der Briefträger 
                warf trotzdem alle Briefe in seinen Schlitz. Er hatte die Trennung 
                noch nicht mitbekommen. Henri legte ihre Post auf die Fensterbank 
                neben der Haustür, nach Größe geordnet, die Werbung 
                und größeren Briefe nach unten, die kleineren und Postkarten 
                nach oben.
 Sie nahm den Stapel und ging in ihre Wohnung zurück. Er war 
                schon früher immer derjenige gewesen, der die Post aus dem 
                Briefkasten geholt hatte. Einmal waren drei Geburtstagskarten 
                für sie dabei gewesen, trotzdem hatte er an dem Tag ihren 
                Geburtstag vergessen. Sie knallte die Post auf den Küchentisch. 
                Oben fiel die Tür ins Schloß. Er drückte nie die 
                Klinke. Er lauert mir auf, wie ich ihm auflauere. Wenn er meine 
                Schritte auf der Treppe hört, bleibt er in seiner Wohnungstür 
                stehen und wartet, genau wie ich es mache, wenn ich ihn höre. 
                Er geht erst ins Treppenhaus oder in den Keller, wenn ich zurück 
                in meiner Wohnung bin. Sie riß die Briefe auf. Wahrscheinlich 
                traue ich ihm wieder mehr Gedanken zu, als er sich tatsächlich 
                macht.
 Die Zeitung teilten sie sich. Derjenige, der sie zuerst las, legte 
                sie dem anderen hinterher auf die Treppe. Vor ein paar Tagen hatte 
                er einen Artikel ausgeschnitten. Sie hatte sich nachher über 
                das Loch in der Zeitung geärgert. Am nächsten Tag hatte 
                sie den Zeitungsboten abgefangen, um die Zeitung als erste zu 
                bekommen. Sie hatte zwei Artikel ausgeschnitten und die Zeitung 
                dann auf die Treppe gelegt. Jetzt, eine Woche später, bestand 
                die Zeitung fast nur noch aus ausgeschnittenen Fenstern. Sie mußte 
                von demjenigen, der sie als zweiter las, vorsichtig von der Treppe 
                genommen werden, damit sie nicht zerriß.
 Die Wand bebte. Er schlägt die Fenster extra so laut zu, 
                weil er weiß, daß ich es höre. Er will mich aus 
                dem Haus treiben.
 Neben dem Telefon im Wohnzimmer lag das aufgeschlagene Telefonbuch. 
                Ihr Name unter seinem Namen. Sie hatte seinen Namen durchgestrichen. 
                Sie sah sich die Seite jeden Tag an.
 Sie ging zur Stereoanlage, drehte die Musik leiser und horchte 
                ein paar Sekunden, was er machte. Er duschte. Heute lasse ich 
                ihn warm duschen. Auf dem Teppich waren die Druckstellen des Sofas, 
                das er mit nach oben genommen hatte. Sie dachte an den Tag, an 
                dem sie ihn das letzte Mal umarmt hatte. Er stand vorm Spülbecken 
                und wusch das Geschirr. Sie hatte ihn vom Wohnzimmer aus beobachtet, 
                eine Weile, war dann in die Küche gekommen und hatte ihre 
                Arme von hinten um ihn gelegt. Dabei hatte sie ihm versehentlich 
                unters Kinn gestoßen. Au, pass doch auf, hatte er gesagt. 
                Das war das letzte Mal.
 Sie holte den zerknüllten Zettel aus der Bodenvase, strich 
                ihn glatt und legte ihn auf die Treppe. Wo wirst du sein? Sie 
                wartete hinter der Tür, bis er den Zettel fand. Auf Kreta, 
                antwortete er. Alleine? Alleine auf Kreta? Sie schnippte den Zettel 
                in die Bodenvase. Endlich Ruhe.
 
 Er ging auf den Dachboden und holte seinen Koffer. Er öffnete 
                Schranktüren und schlug sie zu, er zog Schubladen auf und 
                schob sie zu. Dann polterte er mit seinem schweren Koffer die 
                Treppe hinunter. Die Kofferrollen schleiften über die Stufen. 
                Er sollte ihn tragen, auf der Treppe könnte er ihn wenigstens 
                tragen. Er verkratzt die Stufen, jeden Tag werde ich die Schleifspuren 
                sehen und mich ärgern. Die Tür fiel ins Schloß.
 
 Sie fuhr die Biotonne an die Straße. Es regnete. Er ist 
                auf Kreta und ich bin mit der Biotonne im Regen.
 Sie setzte sich neben das Telefon und sah seinen durchgestrichenen 
                Namen an. Ruhestörer. Endlich war es still. Sie setzte sich 
                in den Sessel. Keine Sicherung herauszudrehen, keine Socken wegzuwerfen. 
                Sie mußte sich nicht beeilen, die Zeitung als erste zu bekommen. 
                Er könnte wenigstens anrufen, das wäre das Mindeste. 
                Sie wartete auf den Anruf vom Hotel aus: Ich bin heile angekommen. 
                Das wäre das Mindeste, was er sagen könnte, wir sind 
                schließlich keine Unbekannten. Ich bin heile angekommen, 
                dabei die Feindin im Hintergrund, die sie nicht hören konnte, 
                weil er den Finger auf seine Lippen gelegt hatte. Das Telefon 
                klingelte nicht. Es war still im Haus.
 Sie schaltete den Videotext des Fernsehers an. Auf Kreta waren 
                es 31 Grad.
 Die Feindin hatte kein Gesicht. Sie hatte lange rote Fingernägel.
 
 Sie ging auf den Dachboden und suchte nach dem Kretareiseführer. 
                Er war von ihren Eltern. Von 1983. Auf fast jeder Seite war eine 
                Katze abgebildet. Er haßt Katzen. Es wird ihm dort nicht 
                gefallen. Die Katzen werden ihn nerven, jeden Tag werden sie ihn 
                nerven. Er hat eine Katzenhaarallergie. Die Katzen werden in sein 
                Bett springen. Morgens wird er mit Katzenhaaren im Gesicht aufwachen. 
                Überall Katzenhaare, in seinen T-Shirts, seinen Hosen, seinen 
                Schuhen. Sie werden ihn verrückt machen.
 
 Morgens fuhr sie mit dem Finger über die Fensterbank neben 
                dem Briefkasten. Die Fensterbank war leer. Karten können 
                manchmal bis zu zehn Tagen brauchen. Eine Karte wäre das 
                Mindeste. Er könnte mir wenigstens eine Karte schreiben. 
                Es ist nicht so, daß wir Fremde sind. Wenn er Zettel schreiben 
                kann, kann er auch eine Karte schreiben. Der Weg von ihrer Wohnung 
                zum Briefkasten war ausgetreten.
 
 Die Feindin war inzwischen aschblond und hatte hohe Wangenknochen. 
                Auf jedem der langen Finger steckte ein Ring. Zwischen dem Zeigefinger 
                und Mittelfinger klemmte eine Zigarette in einer Zigarettenspitze. 
                Der Rauch kam aus rotgeschminkten Lippen.
 
 Sie ging ins Badezimmer und knöpfte ihre Bluse auf. Die Adern 
                auf ihrer Brust waren hellblau. Sie schlängelten sich wie 
                kleine Rinnsale zur Brustwarze.
 
 Die Feindin lachte mit entblößten Zähnen über 
                einen seiner Witze.
 
 Sie nahm das Telefon mit ins Bett und rief seinen Anrufbeantworter 
                an. Ich bin leider nicht da, Nachrichten können nach dem 
                Piepton hinterlassen werden. Sie wählte noch einmal. Ich 
                bin leider nicht da, Nachrichten. Sie preßte die Hörmuschel 
                ans Ohr.
 Er beugte sich über die Feindin und sagte etwas Verliebtes.
 Auf Kreta waren es immer noch 31 Grad.
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