Rupprecht Mayer
Morgen würden sie ihn prüfen. Er nahm
sich vor, jedem Prüfer in die Augen zu schauen. Ob er farbige
Unterwäsche tragen sollte? Er wußte nicht, ob er sich
schon zu Anfang den Oberkörper frei machen mußte. Am
besten nur Jackett, Hemd, Krawatte, kein Unterhemd. Dann ging
es schneller, dann mußte er sich nichts über den Kopf
ziehen. Das sah immer lächerlich aus. Kein Unterhemd, er
würde schon nicht schwitzen. Warum auch? Er wußte viel
über die Französische Revolution, und er konnte fünfzehn
Liegestütze.
Viele Mitglieder des Prüfungskomitees trugen Brillen, hieß
es. Er hatte noch eine Brille von seinem Vater. Mit ihr konnte
er ihren Dioptrien begegnen. Er würde jedem Blick standhalten.
Er würde seine Handflächen zeigen, während er laut
und deutlich auf die Fragen antwortete, und die Beugen zwischen
den gespreizten Fingern. Und seine Zähne. Sein bescheidenes,
nicht im mindesten leichtfertiges Lächeln würde dem
Komitee einen Blick auf seine Zähne ermöglichen.
Auch seine Achselhöhlen würde er unaufgefordert zeigen,
wenn er sich das Hemd ausgezogen hatte. Ob er sie noch rasieren
sollte? Am besten nur eine. So konnte er seinen guten Willen demonstrieren,
seine Bereitschaft zu glatter Haut. Mit der anderen Achsel konnte
er den kräftigen Wuchs seines Körperhaars beweisen.
Sie sollten sehen, daß er flexibel war. Wenn sie den einen
oder anderen Eingriff bei ihm vornehmen würden, dann mußte
ihn ohnehin eine geschulte Kraft vorher an den entsprechenden
Stellen rasieren.
Er würde auch selbst kein Messer mitbringen. Es würde
einen guten Eindruck machen, wenn er so laut und deutlich wie
bei der Beantwortung der Prüfungsfragen riefe: ich akzeptiere
Ihre Skalpelle! Wer eine Antwort nicht wußte, bekam ja eine
zweite Chance. Man hob seine Haut mit dem Skalpell etwas an, und
meist wurde dann gefunden, was der Prüfling "verschwitzt"
hatte. Ein jahrhundertealtes Mißverständnis! Was man
"verschwitzt" hat, ist nicht durch die Poren nach draußen
gedrungen, nein, es befindet sich noch im Körper, wartet
unter der Haut.
Nicht "es liegt mir auf der Zunge" müßte
es heißen, sondern "ich hab's unter der Haut".
Ihm fiel ein, daß er auf keinen Fall unaufgefordert mit
den Liegestützen anfangen durfte. Man würde ihm die
freiwillige Einführung eines Nebenfachs als Schwäche
auslegen. Andererseits hoffte er, daß er seine Liegestützen
zeigen konnte. Seine Trumpfkarte. Und wenn es zur Strafe war,
als Schikane gedacht, die er dann zum Erstaunen, ja zur Beschämung
des Komitees mit Bravour bestehen würde. Danach allerdings
würde er tatsächlich schwitzen. Ohne etwas darunter
wäre sein schönes Oberhemd schnell durchnässt,
wenn er es dann noch trug. Aber das war legitim, da war kein Angstschweiß
im Spiel.
Seinen Lebenslauf würde er sich mit Filzstift auf die Brust
schreiben. Das war am einfachsten. Ganz kurz, nur das Wichtigste.
Am besten vor dem Spiegel, natürlich seitenverkehrt. Das
war ungewohnt, da mußte man sich konzentrieren. Aber wer
hatte schon Routine in der Vorbereitung auf diese Prüfung?
Man machte sie nur einmal. Und er würde bei diesem ersten
und einzigen Mal erfolgreich sein.
Er wußte noch nicht, wie er am am nächsten Tag riechen
sollte. Er hatte vergessen zu fragen, ob er nüchtern erscheinen
mußte. Er nahm sich vor, ein Glas Milch zu trinken. Er würde
sich sorgfältig kämmen. Er würde noch das ein oder
andere lesen. Aber eigentlich hatte er keine Angst.
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