Texte
Am Erker 45, Münster, Juni 2003
 

Rupprecht Mayer
Vor der Prüfung

Morgen würden sie ihn prüfen. Er nahm sich vor, jedem Prüfer in die Augen zu schauen. Ob er farbige Unterwäsche tragen sollte? Er wußte nicht, ob er sich schon zu Anfang den Oberkörper frei machen mußte. Am besten nur Jackett, Hemd, Krawatte, kein Unterhemd. Dann ging es schneller, dann mußte er sich nichts über den Kopf ziehen. Das sah immer lächerlich aus. Kein Unterhemd, er würde schon nicht schwitzen. Warum auch? Er wußte viel über die Französische Revolution, und er konnte fünfzehn Liegestütze.

Viele Mitglieder des Prüfungskomitees trugen Brillen, hieß es. Er hatte noch eine Brille von seinem Vater. Mit ihr konnte er ihren Dioptrien begegnen. Er würde jedem Blick standhalten. Er würde seine Handflächen zeigen, während er laut und deutlich auf die Fragen antwortete, und die Beugen zwischen den gespreizten Fingern. Und seine Zähne. Sein bescheidenes, nicht im mindesten leichtfertiges Lächeln würde dem Komitee einen Blick auf seine Zähne ermöglichen.

Auch seine Achselhöhlen würde er unaufgefordert zeigen, wenn er sich das Hemd ausgezogen hatte. Ob er sie noch rasieren sollte? Am besten nur eine. So konnte er seinen guten Willen demonstrieren, seine Bereitschaft zu glatter Haut. Mit der anderen Achsel konnte er den kräftigen Wuchs seines Körperhaars beweisen. Sie sollten sehen, daß er flexibel war. Wenn sie den einen oder anderen Eingriff bei ihm vornehmen würden, dann mußte ihn ohnehin eine geschulte Kraft vorher an den entsprechenden Stellen rasieren.

Er würde auch selbst kein Messer mitbringen. Es würde einen guten Eindruck machen, wenn er so laut und deutlich wie bei der Beantwortung der Prüfungsfragen riefe: ich akzeptiere Ihre Skalpelle! Wer eine Antwort nicht wußte, bekam ja eine zweite Chance. Man hob seine Haut mit dem Skalpell etwas an, und meist wurde dann gefunden, was der Prüfling "verschwitzt" hatte. Ein jahrhundertealtes Mißverständnis! Was man "verschwitzt" hat, ist nicht durch die Poren nach draußen gedrungen, nein, es befindet sich noch im Körper, wartet unter der Haut.

Nicht "es liegt mir auf der Zunge" müßte es heißen, sondern "ich hab's unter der Haut". Ihm fiel ein, daß er auf keinen Fall unaufgefordert mit den Liegestützen anfangen durfte. Man würde ihm die freiwillige Einführung eines Nebenfachs als Schwäche auslegen. Andererseits hoffte er, daß er seine Liegestützen zeigen konnte. Seine Trumpfkarte. Und wenn es zur Strafe war, als Schikane gedacht, die er dann zum Erstaunen, ja zur Beschämung des Komitees mit Bravour bestehen würde. Danach allerdings würde er tatsächlich schwitzen. Ohne etwas darunter wäre sein schönes Oberhemd schnell durchnässt, wenn er es dann noch trug. Aber das war legitim, da war kein Angstschweiß im Spiel.

Seinen Lebenslauf würde er sich mit Filzstift auf die Brust schreiben. Das war am einfachsten. Ganz kurz, nur das Wichtigste. Am besten vor dem Spiegel, natürlich seitenverkehrt. Das war ungewohnt, da mußte man sich konzentrieren. Aber wer hatte schon Routine in der Vorbereitung auf diese Prüfung? Man machte sie nur einmal. Und er würde bei diesem ersten und einzigen Mal erfolgreich sein.

Er wußte noch nicht, wie er am am nächsten Tag riechen sollte. Er hatte vergessen zu fragen, ob er nüchtern erscheinen mußte. Er nahm sich vor, ein Glas Milch zu trinken. Er würde sich sorgfältig kämmen. Er würde noch das ein oder andere lesen. Aber eigentlich hatte er keine Angst.