David Wagner
Meine Mutter sagte, ihr Vater habe ihr das Lesen
beigebracht, als er, der Mann, den sie bis dahin nur von Photos
kannte, aus der Gefangenschaft nach Hause kam. Er habe damit angefangen,
als er bemerkte, daß sie, seine Tochter, damals immerhin
schon acht Jahre alt, noch nicht lesen konnte.
Mein Großvater habe nicht länger als vier Wochen gebraucht,
um ihr Lesen beizubringen, sagte meine Mutter, er habe sie einfach
den ganzen Tag lang um sich behalten und jedes Wort laut lesen
lassen, sie habe jedes Straßen- und Ladenschild, jede Aufschrift
auf jedem verstaubten Farbeimer vorlesen müssen, die Wörter
auf jeder Schraubenverpackung, alle Adressen und Briefköpfe,
Schriftstücke und die Beschriftung der Vorkriegszigarrenkisten.
Ihr Vater, so erzählte meine Mutter, habe mehr gebrüllt
als gefragt, habe geschrien was steht da, lies, lies was da steht,
und wenn sie nicht oder nicht schnell genug vorlas, habe er ihr
eine Ohrfeige gegeben. Einerseits, sagte meine Mutter, sei das
Lesen anfangs eine schmerzhafte Angelegenheit gewesen, Lesen,
beziehungsweise Nicht-Lesen habe ihr wehgetan - andererseits habe
sie bald herausgefunden, daß sie nicht jedes Wort, das sie
irgendwo geschrieben stehen sah, gleich verraten mußte.
Das ein oder andere habe sie für sich behalten.
Später, sagte meine Mutter, habe sie, bloß um ihren
Vater zu ärgern, alles, was irgendwo geschrieben stand, laut
oder halblaut vorgelesen - was sich, wenn sie im Auto hinter ihm
auf dem Rücksitz saß, zu einem Dauergemurmel auswuchs,
mit dem sie ihn bis zur Weißglut bringen konnte. Vielleicht,
sagte meine Mutter, habe sie damit aber bloß versucht, die
Schweigephasen ihrer Mutter, meiner Großmutter, zu füllen.
Deren Rekord, nicht ein einziges Wort zu sagen, habe bei elf Tagen
gelegen, elf Tagen, in denen sie überhaupt nichts gesagt
habe, keinen Laut, keinen Muckser von sich gegeben habe, sagte
meine Mutter, sie selbst hingegen habe, gerade deswegen, immer
alles laut sagen und lesen müssen und sich angewöhnt,
alle Namen und die Bezeichnungen der Dinge aufzusagen, so, als
stünde das Wort Topf auf jedem Topf, Wiese auf jeder Wiese
und Bunker auf jedem Bunker.
Meine Mutter wurde Krankenschwester, später Lehrerin und
ich, das ließ sich nicht vermeiden, an der Schule, an der
auch sie unterrichtete, eingeschult. Ich wurde nicht kinderlandverschickt
und keine englische Brand- und keine amerikanische Sprengbombe
fiel in meine Kindheit. Ich lernte ohne meine Mutter lesen, meine
Lehrerinnen hießen Frau Schumacher, Frau Krupp und Frau
Böse. Eines Tages mußte meine Mutter eine fünfte
Stunde, die letzte an diesem Tag, in unserer Klasse vertreten.
Während dieser Stunde störte ich den Unterricht immer
wieder, antwortete auf die Fragen, die meine Mutter stellte, bevor
sie überhaupt zu Ende gesprochen hatte. Oder sagte die Antworten
- ich wußte was meine Mutter hören wollte - halb- bis
ganzlaut vor. Und ich bemerkte, daß meine Mutter ihre gute
Laune, ihre Pädagogenbegeisterung nur spielte. Mir fiel auf,
daß sie sich verstellte. Ich machte mich lustig und störte,
trotz ihrer Ermahnungen, weiter - bis sie, wütend geworden,
an meinen Platz kam, mich an den Haaren vom Stuhl zog, mir eine
Ohrfeige gab und mich in die Ecke stellte, in der ich bis zum
Klingeln stehen bleiben mußte.
Auf dem Heimweg, wir gingen nebeneinander zu Fuß nach Hause,
sprachen wir kein Wort. Und ich dachte, ich werde nie wieder mit
ihr reden. Als meine Mutter jedoch den Haustürschlüssel
aus ihrer schwarzen Aktentasche zog, kam es mir vor, als hätte
sie sich, von mir unbemerkt, schon umgezogen, sie schloß
die Haustür auf und war wieder meine Mutter. Wie jeden Mittag
stellte sie ihre Tasche vor den Spiegel im Flur, wusch sich in
der Gästetoilette die Hände, ging in die Küche,
nahm einen Topf, hielt ihn unter den Wasserhahn, stellte ihn auf
den Herd und sagte, mehr zu sich oder zum Topf, als um mich zu
informieren, ich setze Wasser auf, ich koche Kartoffeln und Blumenkohl
und das Fleisch von gestern wärm' ich auf. Zu mir sagte sie,
und du, du kannst den Tisch decken.
Zwei oder drei Jahre später vertrat meine Mutter wieder eine
Lehrerin, diesmal gleich für ein paar Wochen. Es handelte
sich um das Fach, das ich, wie alle anderen, mit der Abkürzung
TG in meinen Stundenplan schrieb. TG stand für Textiles Gestalten.
In TG wurde gestricklieselt und Stoffbilder gestickt, meine Mutter
übernahm den Unterricht, als Topflappen gehäkelt werden
sollten. Sie erklärte, wie der Faden um den Kleinen und den
Zeigefinger gelegt wird, führte Luftmaschen vor und zeigte,
wie der Arbeitsfaden mit dem Widerhaken der Häkelnadel aufgenommen
und durch eine bereits geknüpfte Masche gezogen werden muß,
damit neue Maschen, Feste oder Stäbchen, entstehen können.
Häkeln ging sehr langsam. Nach zwei oder drei Wochen hieß
es jedoch, die fertigen Topflappen müßten in der nächsten
Stunde zur Benotung vorliegen. An den beiden folgenden Tagen,
Donnerstag und Freitag, häkelte ich nach dem Mittagessen
je zwei Reihen, mir fehlten, rechnete ich mir aus, noch dreiunddreißig.
Am Samstagmorgen kam meine Mutter in mein Zimmer, fragte nach
meinem Häkelzeug und nahm es auf eine ihrer Wochenendreisen
mit.
Am Montag nach diesem Wochenende trug ich die beiden grün-rot
gestreiften Topflappen, mit denen meine Mutter zurückgekommen
war, zum Lehrerpult. Mama hatte nicht nur die fünf oder sechseinhalb
Reihen, die ich selbst, etwas verschrumpelt, gehäkelt hatte,
wieder aufgezogen und neugehäkelt, sie hatte auch eine umlaufende
Borte gehäkelt. Die beiden Topflappen waren perfekt. Meine
Mutter beugt sich über das Pult, auf dem Tafellineal, Klassenbuch
und der Lehrerkalender, in den sie die Noten eintrug, lagen. Sie
musterte ihr Werk. Sie musterte es, als sähe sie es zum ersten
Mal, hielt die Baumwolläppchen ein Stück in die Höhe
und kniff, obwohl sie das gar nicht mußte, denn sie sah
sehr gut, die Augen zusammen. Und verriet, wie ich fand, gerade
mit dieser, hier übertrieben wirkenden Geste, ihre Schauspielerei.
Ich hätte darüber gern gelacht oder wenigstens gegrinst,
aber ich spielte weiter mit. Meine Mutter sagte ja, ganz ordentlich,
hier allerdings etwas unregelmäßig - und zeigte auf
die beiden einzigen Reihen, in der ein paar Maschen von mir geblieben
waren. Meine Mitschüler, die alle ähnlich perfekte,
ähnliche Zweifel an ihrer Autorenschaft weckende Topflappen
vorzeigten, bekamen eine Eins oder eine Eins minus. Mir, beziehungsweise
sich selbst, gab meine Mutter eine Zwei plus. Nur Jürgen
K., ein Junge, der uns schräg gegenüber wohnte, zeigte
Topflappen, die er ganz und gar allein gehäkelt haben mußte.
Aus irgendeinem Grund hatte seine große Schwester ihm nicht
geholfen. Für seine kleinen, verschrumpelten Topfläppchen,
auf die er, für mich unverständlich, sogar stolz war,
bekam er eine Zwei minus. Er sagte, er wolle sie seiner Mutter
zu Weihnachten schenken. Ich hingegen sah keinen Sinn darin, meiner
Mutter Topflappen zu schenken, die sie selbst gehäkelt hatte.
Ich hängte sie einfach in die Küche, an die Hakenleiste
über den Kochplatten an der Wand. In diesem Jahr kaufte ich
meiner Mutter ein Weihnachtsgeschenk. Später landeten die
grün-rot gerippten Topfläppchen im Keller. Und Jahre
später, als ich von Zeit zu Zeit in die Verlegenheit kam,
mir die Schuhe putzen zu müssen, wischte ich mir mit einem
von ihnen - sie lagen nun im Schuhputzschrank - über die
Lederpolitur. Es dauerte, bis ich bemerkte, daß nur einer
von ihnen übrig war.
Neunzehn oder zwanzig Jahre nachdem meine Mutter ihre eigenen
Topflappen benotet hatte - meine Mutter war schon zwölf Jahre
tot - entdeckte ich, durch einen Zufall, daß die Frau, mit
der ich verheiratet war, bei meiner Mutter lesen und schreiben
gelernt hatte. Von da an glaubte ich, in ihren Briefen und auf
ihren Einkaufszetteln, in der Ausführung ihrer Ober- und
Unterlängen, dem Schwung der Bögen und dem Grad der
Neigung ihrer Buchstaben, die mir bis dahin nur bekannt vorgekommen
waren, tatsächlich eine Spur der Schrift meiner Mutter ausmachen
zu können - die sich, wie ich mir dachte, der Hand meiner
Frau bei den Erstklässler-Übungen auf der dunkelgrünen,
biegsamen Scolaflex-Tafel eingeprägt haben mußte.
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