Seit einigen Jahren gibt es in Groß- und Universitätsstädten immer mehr unabhängige Lesereihen, wo junge Talente, mitunter auch halb arrivierte Größen Gedichte, Prosa, Theaterszenen zu Gehör bringen oder performen, oft begleitet von Musik, manchmal gefolgt von einer Party, mitunter gerahmt von bildender Kunst. In den Hinterzimmern von Kneipen, in Kulturzentren oder Galerien, mitunter in Privaträumen wird manches ausprobiert. Das sind Brutstätten, Inkubationszonen, Orte für ernsthafte Gehversuche in Literatur, in Kultur- und Eventmanagement. Abzugrenzen von den Lesebühnen der Hauptstadt insofern, als dort ein fester Kreis sich nur mal Gäste dazubittet und im Übrigen die eigene Marke pflegt, ob sie nun Ahne, Jochen Schmidt oder Thilo Bock heißt. Abzugrenzen auch von den literarischen Salons, zu denen eigens eingeladen wird und die es in der großbürgerlichen Variante seit über zweihundert Jahren gibt, weniger lange in der Underdogs-Version, etwa der des Münchner Salzstangensalons. Gut, unabhängige Lesereihen, aufgezogen von Literaturbegeisterten meist unter oder um die dreißig mit eher akademischem Publikum. Man lauscht, man tauscht sich aus, man sieht und wird gesehen, schließt Freundschaften, zieht weiter, zu neuen Lebensetappen. Braucht es dafür ein Festival? Auf dem zusammenkommt, was sich im deutschsprachigen Raum tummelt? Schlüpfen die Umtriebigen aus Dresden, Frankfurt, Stuttgart da nicht in allzu große Schuhe? Denn was lokal oder regional funktioniert, nimmt sich im großen Rahmen womöglich eher unbedarft aus. Und liegt der Charme dieser Lesereihen nicht primär in ihrem Laborcharakter, darin, sich und anderen eine Lesechance vor kleinem Publikum zu geben, vor Ort? Wobei es aufgrund persönlicher Kontakte immer wieder zum Austausch zwischen einzelnen Reihen kommen dürfte. Tristan Marquardt, Tillmann Severin, Ayna Steigerwald und einigen Mitstreitern hat das nicht genügt. Also haben sie zwecks flächendeckender Vernetzung im September mit großzügiger Unterstützung der Bundeskulturstiftung in Nürnberg ULF - Das Unabhängige-Lesereihen-Festival auf die Beine gestellt. Ich kenne die drei Organisatoren: große Enthusiasten, nimmermüde Freunde der Literatur und in vielfacher Hinsicht künstlerisch, teils auch wissenschaftlich aktiv. Es ist eine Freude, sie zu treffen. ULF indes war keine reine Freude. Manche Lesereihe konnte oder mochte sich wohl bei der von ihr kuratierten Veranstaltung nicht auf Beiträge aus dem eigenen Pool einigen, und so wurden etablierte Autoren eingeladen, während die Lesereihenmacher die Moderation übernahmen. So kam ich in den Genuss, Kenah Cusanit (Babel), Paul-Henri Campbell (Nach den Narkosen), Isabelle Lehn (Frühlingserwachen) lesen zu hören, allesamt Profis und versiert im Umgang mit Publikum und bisweilen arg schlichten Fragen. Es waren dies jeweils schöne zwanzig oder dreißig Minuten, aber was hatte das mit den Lesereihen zu tun? Das war eingeschwebte Prominenz, die tags oder nur Stunden darauf wieder entschwebte und fremde Glanzlichter auf sonst unterm Radar agierende Literaturaktivisten warf. Es sei denn, die Reihen luden Prominenz ein, um eigenen Texten einen Auftritt in geborgtem Glanz zu gönnen, was im Fall des Frankfurter 'Salon Fluchtentier' zuungunsten von Anja Utler und Peter Engstler, die indes stoisch blieben, mehr als ärgerlich war. Und den hochreflektierten Berserker Philipp Winkler (Hool) zum Teil einer Performance zu machen, in der der Spießrutenlauf um literarische Aufmerksamkeit und Bucherfolg inszeniert wurde, hakte gleich doppelt: Zum einen hat Winkler mit seinem Roman die Charts gestürmt wie weiland Clemens Meyer, zum anderen hat er sich um das Rattenrennen auf dem Weg dorthin so wenig gekümmert wie der Meister aus Leipzig.
Aber es gab auch großartige Veranstaltungen, gar nicht wenige. Tim Holland, Franziska Winkler und Neely de Jong haben ein literarisches Inklusionsprojekt vorgestellt, die 'Initiative handverlesen', bei der Gedichte in Gebärdenperformances übersetzt werden, gehörlose Künstler also einen Text gestisch-mimisch und mithilfe gebärdensprachlicher Elemente transformieren. Denn natürlich lässt sich "Geh aber nun und grüße / Die schöne Garonne / Und die Gärten von Bourdeaux" rein gebärdensprachlich nicht adäquat darstellen, anders gesagt: Erst im performativ-interpretatorischen Akt gewinnt das Gedicht in der stummen Welt ein ihm gemäßes Eigenleben, das indes jeder Performer individuell interpretiert. Hier warten jede Menge Workshop-Projekte auf die cleveren Macher, die als arme Berliner Künstler wohl auch auf Inklusionsgelder spitzen. Wunderbar auch 'Lyrik ist Happening', eine 'experimentelle Literatur-Klangkunst-Lesereihe' aus Dresden, bei deren Veranstaltung Dagmara Kraus, Anne Munka und Kinga Tóth ihre Beiträge mit geflüsterten Mikrofonstimmen in einen Raum hineinlasen, in dem man eine Stecknadel hätte fallen hören, doch damit nicht genug: Sie waren auch ihre eigenen Geräuschemacherinnen und begleiteten ihre Texte - zum Glück nicht illustrativ, sondern atmosphärisch - mit den verschiedensten leisen Tönen. Eine großartige Reise, zumal bei geschlossenen Augen. Die Lesung als Hörspiel, das ganz Ohr werden lässt. Das Gedicht, sichtbar gemacht in raumgreifender Performance. Toll! Nürnberg, die literarische Provinz also, zum Ort des Festivals gemacht zu haben, statt die Zentren Berlin, München, Köln, Hamburg ein weiteres Mal zu bewässern, zeugt vom Mut der Veranstalter. Die Nürnberger allerdings wurden wohl nur ab und an in größerer Zahl erreicht. Dass sich in der Halbmillionenstadt kaum jemand für literarische Veranstaltungen interessiert, kann ich nicht glauben und vermute eher, dass der recht verhaltene Zuspruch mit dem Z-Bau als Schauplatz des Geschehens zusammenhing. Als Nebengebäude der größten, 1940 fertiggestellten SS-Kaserne Deutschlands (die seit gut zwanzig Jahren das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge beherbergt) ist er historisch massiv belastet, und wer ihn bespielt, sollte sich dazu verhalten und nicht so tun, als habe jahrelange Umnutzung als linkes Kulturprojekt mit punkigen Locations den unseligen spiritus loci vertrieben. Der steckt tief in der Architektur, tief in den lichtlosen Räumen, die dem Festival selbst am helllichten Tag Bunkeranmutung gaben. Junge Literatur in Schlössern und Parks stattfinden zu lassen, ist sicher untunlich, sie aber in einen abgerockten Ort der Alternativkultur am Stadtrand zu verbannen, obwohl hohe Fördergelder die Anmietung weit publikumsfreundlicherer Räume erlaubt hätten, war keine gute Idee. Das Zeppelinfeld, Ort der in Triumph des Willens verklärten NS-Parteitage, liegt gut einen Kilometer entfernt. Doch Führungen dorthin wurden nicht angeboten, die Topografie wurde allenfalls in Randbemerkungen problematisiert. Das reicht nicht. Auch darum habe ich die wenigen Chancen gern genutzt, das Festivalgelände zugunsten von ULF-Veranstaltungen im Stadtzentrum zu verlassen. Christian Schloyer, Autor bei Poetenladen (Jump 'n' Run), Träger des Leonce-und-Lena-Preises, Gewinner des 12. Open Mike, hatte zu 'Speed Reading - Literarische Spritztour' in die Innenstadt eingeladen, in den lichten Neubau der Stadtbibliothek, ins Kellergeschoss einer Buchhandlung, in einen Plattenladen. Jeweils vier Autoren lasen kurze Passagen, unter ihnen Philip Krömer vom Erlanger Homunculus Verlag und Dirk Stolzenberger, Architekt bei der Stadt Nürnberg. Sehr schön und anregend. Wie die 'Sofalesungen' aus der Schweiz beim nichtkommerziellen Radio Z am Kopernikusplatz: Man saß bei Schoggi in der engen Redaktionsküche im vierten Stock und erlebte eine unfassbar charmante Moderatorin sowie Tabea Steiner und Gianna Molinari (Hier ist noch alles möglich). Nur ungern bin ich danach in den Z-Bau zurückgekehrt. Am letzten Tag des Festivals hatte ich keine Lust mehr auf den Bunker. Stattdessen erst ein Spaziergang durch den Erlanger Schlosspark, wo zwei Wochenenden zuvor das 39. Poetenfest stattgefunden hatte, dann ein Besuch des Dokumentationszentrums Reichsparteitagsgelände in der unvollendeten Kongresshalle am Zeppelinfeld, zuletzt ein Abstecher auf den Johannisfriedhof, zu den Gräbern Harsdörffers und von Birkens, Sandrarts und Dürers. Heiß war es, drückend, und die Wege zu den Prominentengräbern waren nicht gut ausgewiesen. Mehrmals begegnete mir eine ältere Dame, wie ich auf der Suche nach einem schwer zu findenden Grab. Ob ich wisse, wo Veit Stoß liegt, fragte sie mich schließlich auf Deutsch mit sehr polnischem Akzent. Doch auch ich hatte ihn noch nicht gefunden, konnte nur mutmaßen. Veit Stoß, der große Bildhauer Nürnbergs, der lange in Krakau gewirkt hat. Für mich die berührendste Begegnung dieser Festival-Tage.
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Es war kein guter Zeitpunkt für die fünfte, mit Unterstützung auch der Rosa-Luxemburg-Stiftung durchgeführte Tagung Richtige Literatur im Falschen (RLIF). Sie findet jährlich statt, zuerst 2015 im Brecht-Haus in Berlin mit im Verbrecher Verlag erschienenem Dokumentationsband. 2019 traf man sich in München, im DGB-Haus. Knapp drei Wochen zuvor waren die Wahlen in Sachsen und Brandenburg für Die Linke krachend verloren gegangen, während die AfD triumphierte. Die Wahl in Thüringen stand noch aus, doch wohl niemand wagte zu glauben, Bodo Ramelow könne die reißende Talfahrt bremsen. Mit 'Literatur im politischen Kampf - Schriftsteller in Revolution und Reaktion' knüpfte die Tagung an das 2018/19 vielfach begangene Gedenken an Revolution und Räterepublik in Bayern 1918/19 an, kam über weite Strecken aber matt, fast lustlos daher. Das lag auch daran, dass der wohl von der Luxemburg-Stiftung geförderte wissenschaftliche Nachwuchs fast durchweg ermüdend akademische Vorträge gehalten und selbst spannende Themen unter quälendem Jargon begraben hat. Auf dieser Tagung geht es um Literatur als Waffe, hätte ich den allzu brav-beflissenen Jungwissenschaftlern mitunter zurufen mögen, nicht als Schlaftablette! Wendet euch an Menschen, nicht an Germanisten! Aber auch manches Referat von Mitgliedern der 'Kerngruppe' des 'RLIF-Netzwerks' war ermüdend. Viele Politbürositzungen dürften kaum öder gewesen sein, musste ich denken, während manch uninspirierter Vortrag zumal von Männern, die sich allzu gern reden hörten, meine Schmerzgrenzen auslotete. Überdies war es in den anderthalb Tagen nicht möglich, die marode Lautsprechertechnik so weit instandzusetzen, dass einem nicht alle Viertelstunde Rückkopplungen in die Ohren fuhren. Wer gehört werden will, dem sollte daran gelegen sein, gut gehört zu werden.
Aber es gab Lichtblicke. Monika Rinck hat sich selten zu Wort gemeldet, doch wenn, dann mit Leidenschaft und Verve. Ihr Anliegen: die Verteidigung der Dichtung als Möglichkeitsraum für das Andere, für die Utopie, als ästhetische Opposition, wenn man so will. Annett Gröschner glänzte mit dem autobiografischen Text "Weiberbrigade. Mein literarisches Leben im Spätsozialismus", dessen Ton und Inhalt das Ausmaß des Versagens vieler Referenten schmerzlich ermessen ließ. Auch Michael Wildenhain trug provokationsfreudig, aber etwas redselig mit schönen Zuspitzungen zur Anschaulichkeit bei, konnte plastisch vermitteln, wo der Gegner steht, wobei seine Erfahrungen aus dem Berliner Häuserkampf der 80er Jahre, von der er mehrfach in Romanen berichtet hat, sehr hilfreich waren. Erschreckend aber, dass zur Abschlusslesung, bei der einige literarische Prominenz antrat, kaum mehr als zehn Zuhörer kamen (darunter der unermüdliche Markus Ostermair, mit 'Dunkle Fenster' in Am Erker 74 vertreten). Gut besucht war nur Dietmar Daths Vortrag "Wann schreibt man dringend welche Welt?" (mit Podiumsdiskussion), zu dem bald hundert Interessierte kamen. Sonst blieben die etwa zehn Diskutanten mitunter fast unter sich oder hatten maximal dreißig Zuhörer - zu wenig für eine Tagung zu Literatur im politischen Kampf. |