Am Erker 82

Ilona Lütkemeyer: Der Hering im Schnee

 
Rezensionen

Ilona Lütkemeyer: Der Hering im Schnee
 

Heiße Liebe, warme Socken
Rolf Birkholz

Im Gedicht kann die Sehnsucht zur Per­son werden, ein Fisch im Schiff auf große Fahrt gehen. Und auch die heißeste Lie­be trägt dort "in eisgrauen Zeiten / So­cken und festes Schuhwerk." In ihrem Band Der Hering im Schnee schöpft Ilona Lütkemeyer viele poetische Möglichkei­ten aus. Und ihre feinen Illustrationen dazu haben einen ganz eigenen Wert.
Nach zwei Prosabänden knüpft die 1960 geborene Autorin an ihre Gedicht­sammlung Der Sprung ins grüne Licht (2003) an. Ging es damals um "Erotische Miniaturen und Haiku", ist die aktuelle Auswahl thematisch breiter angelegt. Die sechs Kapitel drehen sich um autobiogra­fische Rückblicke, um die Liebe, um Rei­sen, Natur, ein wenig Lockdown-Lyrik und das Schreiben selbst.
Geblieben ist aber Ilona Lütkemeyers offene, öffnende, am Auge wie am Ohr des Lesers interessierte Schreibweise, ohne ihm jedoch zu Lasten ihres poeti­schen Anspruchs zu sehr entgegen zu kommen. Das titelgebende Gedicht zeigt mustergültig die Leserführung der Dichte­rin, ihren geschickten Umgang mit Leser­erwartungen. Ganz leicht zieht das lyri­sche Ich in eine Begegnung mit seinem Vater hinein, lässt es erschrecken vor ei­ner nur erzählten Begebenheit aus des­sen Jugend, bis zu ganz anderer, realer Bestürzung am Ende. Eine eher heitere Art von Überraschung erweist sich an ei­nem Tagtraum von großer Fahrt, dem sich ein Fisch bei der Morgentoilette hin­gibt.
Wirkliche Reisen gehen zu "Inseln jen­seits der Fantasie", auf die Azoren, nach Indonesien, nach Indien wiederum eine auf Juist erzählte. Einmal wird Robert Louis Stevensons Die Schatzinsel ge­streift. An anderer Stelle ("Frühling") scheint Eduard Mörike durch, und bei der treffenden "Havelland"-Skizze ein wenig Theodor Fontane.
Die Liebe wird in vielen Schattierungen behandelt. Der Achtzeiler "verliebt" träumt verlockend zuversichtlich. Anders anreißend das den Band eröffnende ju­gendbewegte Badeerlebnis an der Isar: "nehmen es nackt mit der Strömung auf / sind unsterblich", der "Kultfilm" ("der Wa­gen und ein wehender Schal") oder das super coole "Zurück ins Spiel" ("Danach lehne ich lässig am Kotflügel // Ich weine nie"). Hier findet sich auch eine direkte, quasi buchstäbliche Verbindung zwi­schen Text und Bild.
In "Zu Gast" beschreibt Ilona Lütkemeyer eine Begegnung zwischen Gedicht und Leserin und empfiehlt: "Setz dich zu ihm / es wird dir Köstlichkeiten auftischen." Da wird in Bezug auf ihre Ly­rik nicht zu viel verheißen.

 

Ilona Lütkemeyer: Der Hering im Schnee. Gedichte & Illustrationen. 124 Seiten. Athena. Oberhausen 2021. € 13,90.