Telemachos auf der Vespa
Hanns Küster
Es beginnt dort, wo sonst alle Wege hinführen. Henning und Annette machen Urlaub in Rom, als eine Todesnachricht die Handlung von Hilmar Klutes Roman Die schweigsamen Affen der Dinge in Gang bringt. Die ewige Stadt verleiht der Geschichte von Beginn an etwas wie mythische Tiefe. Von dort aus darf es in die Welt gehen, nach Berlin, nach Korsika und ins Ruhrgebiet. Und in Rom erfährt der Protagonist Henning Amelott vom Tod seines Vaters. Es sind die großen Urerfahrungen, die der Roman berührt; neben dem Verlust geht es um Liebe und Hass, Freundschaft, Abhängigkeit und Reisen. Klutes poetischer, unaufgeregter Sound trägt Plot und Figuren bis zur dramatischen Pointe.
Die Beziehung zum Vater war schwierig. Hennings Kindheit ist geprägt von Vernachlässigung und psychischer Gewalt. Das führt zu scheinbar völliger Entfremdung. Der Vater soll in Recklinghausen-Süd begraben werden. Er war Arbeiter - einer von der Sorte, die nicht viel übrig haben für Bildung und die schönen Dinge. Klutes souveräner Umgang mit den Spielarten der Rückblende machen Hennings Kindheit grausam lebendig. Dabei stellt sich die Frage: Ist es eigentlich unanständig, wenn man um den toten Vater nicht trauern kann? Es muss Leiden auf beiden Seiten gegeben haben. Bei der Beerdigung, einer drögen Angelegenheit, die Henning letzten Endes eher der zweiten Ehefrau des Vaters zuliebe besucht, trifft er auf Jochen Feldmann, den Jugendfreund des Vaters, und entwickelt den Ehrgeiz, mehr zu erfahren. Er will mit Jochens Hilfe dem Vater doch noch irgendwie gerecht werden, indem er auf Spurensuche geht und die Geschichten der beiden aufschreibt.
Dieser Antrieb, Dinge zu schaffen, die Welt um sich herum zu gestalten, ist es, was den Sohn vom Vater unterscheidet. Klutes Roman ist auch die Geschichte eines Aufstiegs durch Bildung. Die unterschiedlichen Milieus schaffen das Spannungsfeld: einerseits die Ambition des akademischen Berlins, wo Henning mittlerweile lebt und publizistisch tätig ist, andererseits die Gleichgültigkeit des proletarischen Ruhrgebiets.
Hilmar Klute richtet den Blick aufs Revier gewissermaßen wie durch ein Kaleidoskop. Er erzählt ganz ohne nostalgisches Pathos, das ja manchmal die Geschichten wie Kohlenstaub verklebt - hier, wo das Herz noch zählt. Der Autor ist in Bochum geboren und hat - wie der Protagonist des Romans - seine Jugendjahre dort verbracht. Klutes Ruhrpott ist gleichermaßen genau gezeichnet wie unspezifisch. Zwar sind die Begebenheiten, die er beschreibt, allesamt realen Orten zuzuordnen, aber sie entsprechen nicht immer den wahren geographischen Verhältnissen. Dennoch wird der Roman seiner Welt gerecht. Wer weiß schon, wo Herne aufhört und Castrop-Rauxel anfängt? Es entsteht eben keine Postkartenwelt des Reviers, sondern die Collage des literarisch "Dagebliebenen".
Das Ruhrgebiet spiegelt aber nicht nur das akademische Berlin, sondern auch die Sehnsuchtsinsel Korsika. Denn Die schweigsamen Affen der Dinge ist auch ein Roman on the road. Henning und Jochen beschließen, nach Cap Corse zu reisen, um gemeinsam eine Tour nachzuempfinden, die Hennings Vater zusammen mit seinem besten Freund in der Jugend gemacht hat. Henning wird insofern zu einem Telemachos auf der Vespa, auf der Suche nach dem nie gekannten Vater.
Der Roman ist auch ein Text über das Schreiben beziehungsweise über das Erzählen. Das Motiv der Sprachlosigkeit des Vaters entspricht den Problemen, die Henning selber hat, als er einen Essay für ein Literaturmagazin schreiben soll. In dem Text wird es um den Dichter Oskar Loerke gehen, einen Vertreter des magischen Realismus. Der Romantitel ist ein Zitat aus einem seiner Gedichte. Loerkes "Affen" sind die länger werdenden Schatten der Dinge. Ihr Schweigen erinnert Henning an die stumme Fassungslosigkeit, wenn sich die Eltern gestritten haben.
Nicht zuletzt besticht der Roman durch seine melancholisch-witzigen Figuren: Hennings Freund Ulrich etwa, dessen riesiger Art-déco-Blumenkranz mit Memento-mori-Schriftzug nun wirklich nicht auf eine Ruhrpott-Beerdigung passt.
Bereits in seinem Debüt Was dann nachher so schön fliegt verlieh Hilmar Klute seiner Heimat ein poetisches Kleid. Sein nunmehr dritter Roman reiht sich wunderbar ein. Doch eine kleine Anmerkung sei erlaubt. In Die schweigsamen Affen der Dinge dominieren die Männer - die Frauenfiguren, Hennings nüchtern-entschlossene Freundin Annette und Rita, die zweite Frau des Vaters, stehen hinter den männlichen Figuren zurück. Und Hennings Mutter, von der man gern mehr erfahren hätte, kommt so gut wie gar nicht vor - ihr Schicksal bleibt auf das der Streitpartnerin des Vaters beschränkt. Aber wahrscheinlich ist das eine andere Geschichte. |