Am Erker 81

Rudolf Gier: Die Frau in der Kamera

 
Rezensionen

Rudolf Gier: Die Frau in der Kamera
 

Verluste und Veränderungen
Frank Lingnau

In den Geschichten von Rudolf Gier ereignen sich seltsame Dinge. Nach der Rückkehr in seine Wohnung entdeckt ein EDV-Buchhalter im Kühlschrank einen kleinen Bären, der sich Wurstscheiben in sein Maul stopft. Die Bewohner eines Dorfes reagieren überempfindlich auf Geräusche, indem auf ihren Körpern Geschwüre zu wuchern beginnen. Und ein Mann nimmt in seinem Wohnzimmer einen aussichtslos erscheinenden Kampf mit einer angriffslustigen Tigermücke auf. Als sie ihn schließlich sticht, stellt er an sich sonderbare Symptome fest: "Als er erneut in den Spiegel starrte, sah er sich doppelt. Zum einen erkannte er sein gewohntes Gesicht, das allerdings überlagert wurde von einer anderen, fremdartigen Erscheinung ..."
Die Verschiebungen ins Unwirkliche, Geheimnisvolle, Groteske, die der Autor und Am-Erker-Mitarbeiter Rudolf Gier in einigen seiner Geschichten vornimmt, sind verstörend, jedoch nie spektakelhaft. Mit seiner fein austarierten Erzählökonomie verrät er kein Wort zu viel und lässt Leerstellen, ohne dass seine Erzählungen ins Ungefähre zu verschwimmen drohen. In der Titelerzählung "Die Frau in der Kamera" scheint die bei einem Antiquar erstandene Spiegelreflexkamera im freudlosen Leben ihres Besitzers Jonas Pfeiffer zu einer unverhofften Wendung zu führen. Die Frau, die er im Urlaub am Strand fotografiert, sitzt plötzlich im Gehäuse seiner Kamera. Trotz ihrer lauten Proteste findet Giers Held Gefallen daran: "Endlich hatte er jemanden gefunden, mit dem er sich unterhalten und etwas unternehmen konnte." Doch ist das Glück nur von kurzer Dauer. Pfeiffer ist eine tragische Figur.
Der durch die Aquarelle der Malerin Claudia Seibert besonders schön gestaltete Band versammelt dreizehn Geschichten, in denen sich Giers Protagonisten kleinen oder größeren Erschütterungen ausgesetzt sehen. Wie Gier von den Verlusten und Veränderungen im Alltag seiner Helden erzählt, ist beeindruckend und liest sich mit großem Vergnügen.

 

Rudolf Gier: Die Frau in der Kamera. Storys. Mit farbigen Aquarellen von Claudia Seibert. Books on Demand. Norderstedt 2021. € 12,80.