Am Erker 80

Sabine Peters: Feuerfreund

Sabine Peters: Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt

Christian Geissler: Das Brot mit der Feile

Christian Geissler: Ein Boot in der Wüste

Christian Geissler: kamalatta

 
Rezensionen

Sabine Peters: Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt / Feuerfreund
Christian Geissler: Ein Boot in der Wüste / Das Brot mit der Feile / kamalatta
 

"Oh Erfahrung, Fühlung, Freude - riesig!"
Andreas Heckmann

Sabine Peters, *1961 in Neuwied, beschreibt in Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt Maries frühe Jahre und damit weitgehend die eigene Kindheit als zweitjüngste von vier Schwestern eines von Geldsorgen geplagten bildungsbürgerlichen Haushalts katholischer Prägung. Das tut sie in Anverwandlung des kindlichen Fantasiehorizonts, der aus Wannenbädern zu dritt Kommunionen macht, die schweren Kühe des Bauern bedrohlich dampfend schnaufen lässt, die Großmutter zur Verbündeten zumal der kleineren Kinder promoviert. Wir erleben den Zauber des Rituals und die Sicherheit, die von ihm ausgeht: jedes Jahr die Fahrt zur neureichen Tante nach Krefeld mit ihren abgerichteten Söhnen, jedes Jahr die Schlüsselübergabe für das Ferienhaus im niederländischen Gennep, nur einige Kilometer von Kleve entfernt, wo der Vater jedes Jahr die Nachbarskinder vom See vertreibt. Und plötzlich die viel später gewonnene Erkenntnis, dass er das nur gezwungenermaßen tat, peinlich instruiert vom Schwager, vergattert. Denn Vater ist ein Schwärmer, ein Romantiker, der eher kümmerlich vom Schreiben lebt und sich begeistert für Architektur, Musik, Literatur, dessen pädagogische Bemühungen die vier Töchter indessen nicht recht zu schätzen wissen, denn wer lässt sich in praller Sommersonne schon gern befragen, wie ein Reiterdenkmal mit nur zwei Beinen am Boden solide stehen kann auf seinem Sockel?
Sehr plastisch ist das alles, ungemein anschaulich, Textilien, Gerüche, das Spiel mit den Geschwistern, erste Lektüren, der Hausierer, der regelmäßig kommt, Verwandte, teils erschreckend spießig, teils libertär und so einen Blick in Welten erlaubend, die die Mutter sonst entschlossen abwehrt. Dass es neben dem stets penibel organisierten Familienalltag noch anderes gibt, chaotisch, bedrohlich, fremd, spielt ins Leben der anfangs fünfjährigen, gegen Ende präpubertären Marie wie eine am Rand der Wahrnehmung wabernde Unschärfe und lässt ahnen, wie vorläufig das Idyll ist, das sich dem entschiedenen Willen der Mutter verdankt, ihren Töchtern ein Kindheitsparadies zu schaffen. In diesem Willen ist der Krieg, dessen Kinder die Eltern sind, aufs Anwesendste abwesend. Und für die Verwirklichung dieses Ziels gibt der Vater seine literarischen Ambitionen schließlich auf, um als Berufsschullehrer regelmäßig gutes Geld nach Hause zu bringen. Am Ende weist erwartbar der Tod den Weg aus dem Paradies, der Tod von Mamatschi, der Großmutter, deren sanftes Wesen sich schon langsam aus dem Text verabschiedet hatte, wie es so geht, wenn Enkel größer und Großeltern sehr alt werden.
Sabine Peters ist ein bewundernswertes Buch über eine behütete Kindheit gelungen, wobei weder das Katholische noch das Rheinische vorschmeckt. Wichtiger ist, dass sie vier Schwestern waren und Nachkriegskinder und dass es eine still waltende Zuversicht gab. Wie sehr Sabine Peters zum liebend vergegenwärtigenden Andenken begabt ist, hat sie schon in Feuerfreund bewiesen, einem ebenfalls autobiografischen Roman über ihre Beziehung zu Christian Geissler (*1928), mit dem sie von 1989 bis zu seinem Krebstod 2008 verheiratet war. Die Evokationskraft der frühen Passagen dieses Romans, der das Zusammenleben im ostfriesischen Rheiderland vergegenwärtigt, ist enorm, auch die Schilderung der Trauerarbeit seit des Feuerfreunds Tod. Sich schreibend derart auszusetzen, zeugt von einem Mut, vor dem dankbar, weil üppig beschenkt der Hut zu ziehen ist.
Mit Detlef Grumbach hat Sabine Peters Ein Boot in der Wüste herausgegeben, ein Lesebuch, das die Geissler-Werkausgabe im Verbrecher Verlag flankiert und Interesse an den spröden Texten des erst linkskatholischen, dann kommunistischen Autors wecken soll, der erhebliche Sympathien für den antiimperialistischen Kampf der RAF hatte und mit inhaftierten Terroristen korrespondierte. Leicht zu lesen sind diese Texte nicht, zumal sie spätestens seit dem Roman Das Brot mit der Feile (1973) engagierte Literatur sind, einer Ästhetik des Widerstands verpflichtet. Andererseits aber - und das gibt ihnen eine eigene Farbe, womöglich Suchtpotenzial - ist Geissler Romantiker, der sein Opus magnum kamalatta ein "romantisches fragment" nannte, das den Hölderlin-Bezug im Titel trägt. So mühsam Kleinschreibung, Monologe, Bewusstseinsstrom, perspektivische und zeitliche Brüche die Lektüre machen: Diese Texte enthalten ein verstörendes utopisches Potenzial. Aber 600 Seiten über politische Kämpfe der 70er- und 80er-Jahre?
Dennoch sollte man es probieren mit Christian Geissler, aber nicht mit kamalatta beginnen, sondern eher mit dem Roman von 1973, der Geschichte des 1960 siebzehnjährigen Hamburgers Jan Ahlers, der bei Oma wohnt und mit seiner Arbeit auf dem Bau unzufrieden ist. Seine politische Bewusstwerdung ist eingebettet in die Schilderung diverser Milieus, von Soldaten, Sozialarbeitern, Kommunisten, Journalisten. Geissler wäre nicht Romantiker, würde er seinem politisierten Helden kein Refugium schenken. Es ist am Schaalsee gelegen, durch den bis 1989 die deutsch-deutsche Grenze verlief. Dort verbringt er Zeit auf einer Insel mit seiner Liebsten Nina. Das ist großartig beschrieben und vergegenwärtigt die Lauenburger Seenlandschaft auf schmerzlich schöne Weise, wie jenseits der Grenze ähnlich und doch anders Karla (1965), Hermann Zschoches bis 1990 unter Verschluss gehaltener DEFA-Film (Kamera: Günter Ost) mit Jutta Hoffmann als Junglehrerin.

 

Sabine Peters: Ein wahrer Apfel leuchtete am Himmelszelt. Roman. 182 Seiten. Wallstein. Göttingen 2020. € 20,00.
Feuerfreund. Roman. 220 Seiten. Wallstein. Göttingen 2010. € 19,00.
Christian Geissler: Ein Boot in der Wüste. Anthologie. Herausgegeben von Sabine Peters und Detlef Grumbach. 262 Seiten. Verbrecher. Berlin 2020. € 16,00.
Das Brot mit der Feile. Roman. 544 Seiten. Verbrecher. Berlin 2016. € 26,00 (frühere Ausgaben antiquarisch).
kamalatta. romantisches fragment. 616 Seiten. Verbrecher. Berlin 2018. € 36,00 (frühere Ausgaben antiquarisch).