Augenblicksteilhabe
Rolf Birkholz
In der Sonne sitzen, die Wolken betrachten, "nicht mehr / nicht weniger / einen Augenblick teilhaben / am ewigen Wandel". So beschreibt Gerhild Michel in ihrem Gedicht "Schauen" eine Grundposition, eine Grundverfassung, aus der Lyrik entstehen kann. Das Bewusstsein, mit Versen, wenn auch nur kurz, teilhaben zu können, durchzieht ihren Band Alles in den Augen.
Ein Pfauenauge lässt sich im Titelgedicht auf ein Buch, "tastet wie ein Blinder" und öffnet so dem lesenden lyrischen Ich die Welt für einen Gedankenflug jenseits der Buchstaben, von dem es gleichwohl wieder Wörter mitbringen mag. Ein Rundflug eben. Aber es braucht bei aller Innenschau und Weltweitsicht des an- und aufregenden, des erregenden Moments. Der kann auch geschlossenen Auges wahrgenommen werden. Etwa wenn jemand ("Auf dem Philosophenweg") über der Stadt sitzt, ihr Bild in sich, ihre Geräusche im Ohr, um dann mit neuem Blick in sie hinunterzugehen. Und danach vielleicht andere Töne, den "Herbst in der Stadt" wahrzunehmen: "An den Bäumen / kein Blatt mehr / in den Auslagen / die ersten Frühlingsfarben". Blaumeise, Taube, Spatzen und Amseln, auch "Picassos Amsel" ("Der Körper ein Holzscheit / zwei Brettchen die Flügel") sind Gäste in diesen Gedichten, in die plötzlich Weltgeschichte einbricht. "Die weiße Gartenbank" führt in Haus und Garten des jüdischen Malers Max Liebermann, wo dieser eben Bilder jener weißen Bank malte, "nicht weit entfernt / tagte die Wannsee-Konferenz / sein Besitz wurde enteignet". Inzwischen steht die Gartenbank "wieder an ihrer Stelle". Ein stiller Triumph, und doch unheimlich, wie es des überwundenen Bösen bedarf für so ein Gedicht, das sonst nur eine abgeschriebene Kunstpostkarte wäre.
Und dann und wann legt eine Lichtstimmung am Meer "einen Weg zu mir / lädt mich ein / über das Wasser zu gehen". Noch so ein Gedankenweg, der nicht abheben lässt, aber aufzuschauen hilft.
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