Meine verspätete Taschenbuch-Lektüre: Nigeria
Stefan Nienhaus
Es gibt Leser, die "alles" kennen. Denen deutet man mit dem Finger irgendwohin auf die Weltkarte, und sofort wissen sie mindestens zwei Namen von allgemein bekannten Autoren, einer davon wohl Nobelpreisträger, zu nennen.
Mir verschafft hingegen meine lückenhafte literarische Geographie immer wieder freudige Entdeckungen. So hatte ich noch nie von der nigerianischen Autorin Chimamanda Ngozi Adichie gehört, als ich auf einen Artikel stieß, in dem sie von ihrem Lehrmeister Chinua Achebe erzählt. Mit Begeisterung habe ich nun in der letzten Zeit die drei großen Romane von Achebe gelesen, Alles zerfällt, Der Pfeil Gottes und Heimkehr in ein fremdes Land, längst in den Kanon der Penguin-Klassiker aufgenommen. Mit seinem knappen und nüchternen Erzählstil führt Achebe in jenen langsamen, unaufhaltsamen Vernichtungsprozess ein, der die Kolonialisierung für die nigerianischen Kulturen bedeutete. Es gelingt ihm, auch die europäischen Leser in die Realitätssicht der Menschen des Igbu-Volks eintauchen zu lassen, sodass wir mit den Augen eines hoch angesehenen Kriegers verblüfft sehen müssen, wie seine Wertordnung nach und nach zerbröckelt, oder als Stammespriester erleben, dass sich die althergebrachten Götter gegenüber der weißen Herrschaft als machtlos erweisen. Achebe verzichtet auf simple Kontraste. Gerade weil keine Idealisierung stattfindet, weil seine Helden gemischte Charaktere sind und der Autor den faszinierenden Aspekten der lokalen Traditionen auch genug Grausamkeiten beimischt, lässt man sich auf die Identifikationsangebote ein. Und gerade deshalb klingt der Titel wie blanker Hohn, den der englische Kolonialverwalter den klugen Aufzeichnungen aus den Erfahrungen seiner Amtszeit gibt (und der den letzten Satz des ersten Romans bildet): "The Pacification of the Primitive Tribes of the Lower Niger". Was die erfolgreiche "Befriedung" in der englischen Kolonialzeit für das künstliche Staatengebilde Nigeria am Ende erreicht hat, wird im letzten Roman von Achebes Trilogie erzählt: ein Land, dessen kulturell assimilierte Elite durch das Studium in England rekrutiert wird und die noch als Handlanger der Kolonialmacht schon ahnen lässt, dass sie sich mit Korruption und Skrupellosigkeit auf die Machtübernahme vorbereitet.
Hier schließt dann direkt Chimamanda Ngozi Adichies erstes Buch Blauer Hibiskus an. Der 2003 erstveröffentlichte Roman ist im englischsprachigen Raum längst Schullektüre, und die mir vorliegende Ausgabe liefert daher auch einen Apparat mit Lesehilfen (Informationen über die Autorin, den Entstehungskontext usw.). Geschickt erzählt aus der Perspektive einer Heranwachsenden, dreht sich die Geschichte um "Papá", den Familienvater. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann und moralisch hoch angesehener Kritiker der korrupten Regierung, versetzt zu Hause indes als entsetzlicher Tyrann alle in Angst und Schrecken. Sein fanatischer Katholizismus gibt ihm die Legitimation für schlimmste körperliche Misshandlungen seiner Kinder und seiner Frau, falls sie auch nur um ein Jota von seinem strengen, freudlosen Regelsystem abweichen. Als würde ihm das Einhalten moralischer Korrektheit im öffentlichen Leben nur durch die sadistische Kompensation im Privaten möglich.
Im Zusammenhang mit Adichies zweitem Roman muss ich erneut auf meine (nicht nur literarische) Ignoranz zu sprechen kommen: Was gerät Ihnen bei Biafra in den Sinn? Genau: die Biafra-Kinder, deren Bilder in meiner Kindheit für Hungerleiden überhaupt standen. Dass dieser Hunger allerdings nicht etwa einer Naturkatastrophe geschuldet war, sondern menschengemachtes Ergebnis eines fürchterlichen Bürgerkriegs, davon erzählt nun Adichies Die Hälfte der Sonne, dessen Titel sich auf die Nationalflagge Biafras bezieht, das Ende der 1960er Jahre um seine Unabhängigkeit von Nigeria kämpfte. "Bürgerkrieg" ist nicht die richtige Bezeichnung, denn hier handelte es sich ja nur um eines der vielen Beispiele für das Scheitern der "Befriedung der primitiven Völker", die die Kolonialherren in ihren am Kartentisch entworfenen künstlichen Staatengebilden zusammengepfercht hatten. Biafra hatte, wenn man so sagen will, Pech, denn die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien war (wie alle anderen westlichen Industrienationen) immer noch an einer Stabilität der nigerianischen Situation interessiert, schließlich liegt im Tal des Nigers eines der größten Ölvorkommen der Erde. In ihrem bisher letzten, wieder stärker autobiographischen Roman Americanah führt Adichie ihre Art historischer Chronik Nigerias bis in die unmittelbare Gegenwart. Der Hauptteil des Buchs handelt von der starken afrikanischen und nigerianischen Immigration in die Vereinigten Staaten. Adichie erzählt hier aber vor allem eine Liebesgeschichte zwischen der zum Studium ausgewanderten Protagonistin Ifemelu und ihrem in Nigeria zurückgebliebenen Geliebten (eigentlich ist es komplizierter, denn auch dieser hatte versucht, in England Fuß zu fassen, was ihm aber, wie den meisten der letzten Einwanderer, nicht gelungen war). In einem erfolgreichen Blog hatte Ifemelu in Amerika über den alltäglichen Rassismus berichtet, der auch zwischen amerikanischen Schwarzen und nicht-amerikanischen Schwarzen klare Unterschiede macht. Nach Nigeria zurückgekehrt (aber immer mit dem amerikanischen Pass als Rückversicherung), versucht sie, in einem neuen Blog ihren durch die Auslandserfahrung distanziert klaren Blick auf die Widersprüche der nigerianischen Gesellschaft zu vermitteln. Adichies letztes Buch ist der einzige dieser wunderbaren nigerianischen Romane, der am Ende ein wenig Hoffnung aufscheinen lässt: für die Liebesgeschichte und für das Land. |
Chinua Achebe: Alles zerfällt. Roman. Aus dem Englischen von Uda Strätling. 240 Seiten. S. Fischer. Frankfurt am Main 2014. € 9,99.
Chinua Achebe: Der Pfeil Gottes. Roman. Aus dem Englischen von Maria von Schweinitz. 336 Seiten. S. Fischer. Frankfurt am Main 2015. € 10,99.
Chinua Achebe: Heimkehr in ein fremdes Land. Roman. Aus dem Englischen von Susanne Köhler. 192 Seiten. S. Fischer. Frankfurt am Main 2015. € 9,99.
Chimamanda Ngozi Adichie: Blauer Hibiskus. Roman. Aus dem Englischen von Judith Schwaab. 336 Seiten. S. Fischer. Frankfurt am Main 2015. € 10,99.
Chimamanda Ngozi Adichie: Die Hälfte der Sonne. Roman. Aus dem Englischen von Judith Schwaab. 640 Seiten. S. Fischer. Frankfurt am Main 2016. € 12,99.
Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah. Roman. Aus dem Englischen von Anette Grube. 608 Seiten. S. Fischer. Frankfurt am Main 2015. € 9,99.
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