Zuständig für Mord
Rolf Birkholz
Wie schreibt man ein Gedicht über das Menschheitsverbrechen? Man lässt die Fakten sprechen. So ging Charles Reznikoff daran, die Judenvernichtung im Dritten Reich darzustellen. Und gerade so, indem er quasi nach Aktenlage formulierte, fasste er die ganze Wucht des Wahnsinns in Worte. Sein Langgedicht Holocaust ist jetzt erstmals in Deutschland erschienen, erstaunlich spät.
Schon 1975 war das Buch in den Vereinigten Staaten herausgekommen und hatte seither mehrere Auflagen erlebt. Der Anwalt und Autor Charles Reznikoff (1894-1976) gehörte, wie Georg Deggerich, der umsichtige Übersetzer dieser verdienstvollen zweisprachigen Ausgabe, im Vorwort erläutert, zur "Objektivistischen Schule", einer Dichtungsrichtung, der an dem "Bezug auf ein konkretes Objekt" und "der Zurücknahme des dichterischen Subjekts" gelegen war.
Diese Verfahrensweise kommt dem Thema dieses Buches jedenfalls sehr entgegen. Reznikoff stützt sich vor allem auf Zeugenaussagen, die bei den Nürnberger Kriegsverbrechertribunalen und im Jerusalemer Prozess gegen Adolf Eichmann protokolliert wurden. Dieses Material bearbeitet er allerdings, fasst zusammen, ändert den Wortlaut, spitzt zu, setzt es in Verse, montiert es in zwölf Kapiteln, von "Deportation" über "Ghettos", "Massaker", "Gaskammern", "Kinder", "Massengräber" bis hin zu "Fluchten" zu einem langen Gedicht über das Morden als hoheitliche Aufgabe.
Und ein Gedicht ist es zweifellos, auch wenn es sich wie ein Bericht lesen lässt. Aber das Brechen der Zeilen zu Versen ist weder beliebig noch unwichtig. So stoppt der Textfluss, der in den einfachen Wörtern dieser "dokumentarischen Dichtung" das Ungeheuerliche mit sich führt, immer wieder für Wahrnehmungsmomente. "Lyrik stellt den Gegenstand dar, um eine Empfindung zu vermitteln", stimmt Reznikoff dem chinesischen Dichter Wei T'ai aus dem 11. Jahrhundert zu. "Sie sollte genau in der Beschreibung des Gegenstands sein und die Empfindung verschweigen."
Umso sprechender ist häufig genug jene nüchterne Genauigkeit, an die sich der Übersetzer natürlich hält. Wenn etwa Menschen "vom zuständigen Erschießungskommando" hingerichtet werden, liegt das Empörende und Entlarvende ja darin, dass in einem Staat, und sei es in der Ausnahmesituation des Krieges, überhaupt jemand zuständig sein könne für Mord.
Und es wird auch klar: Es waren viele einzelne Täter oder bestimmte Kommandos, die Menschen einzeln oder in Gruppen ermordeten. Das bekannte Wort vom "industriellen Massenmord", das die durchgeplante Gewaltigkeit des Unterfangens ausdrücken soll, dabei aber selbst gewaltsam wirkt, insofern es den Opfern nachträglich die Individualität beschneiden (und zugleich die Täter als Fließbandmörder ein bisschen entlasten) könnte, wird von Reznikoffs Gedicht nicht beglaubigt. Alle bleiben hier zwar anonym, aber: Es waren stets einzelne Täter, immer persönliche Tode.
"In der Grube lagen ungefähr zehntausend Tote./ Nachdem sie die Leichen exhumiert hatten,/ mussten sie sie verbrennen./ Sie hatten Balken und Bretter herbeigeschafft - lang und schwer./ Die Deutschen hatten auch eine Knochenmühle dabei / und das Knochenmehl wurde gesiebt,/ damit das Zahngold nicht verloren ging./ Das Knochenmehl wurde anschließend auf den Feldern verstreut,/ und es stank entsetzlich." So lautet eine der Passagen aus den Zonen der Rechtlosigkeit. Eine andere: Ein Arbeiter eines Kommandos "sah einen kleinen Jungen,/ halb nackt,/ reglos mitten auf dem Weg hocken." Ein SS-Mann will das Kind erschießen. "Da drehte der Junge den Kopf/ und sagte noch die beiden ersten Worte des Sterbegebets der orthodoxen Juden,/ bevor er erschossen/ und auf einen Lastwagen geworfen wurde."
Wenn dann bei den Krematorien einer der Wachsoldaten scherzt, auf den Rauch über den Schornsteinen deutend: "Das ist der einzige Weg, hier herauszukommen!", klingt unversehens die "Todesfuge" an: "und dann steigt ihr als Rauch in die Luft/ dann habt ihr ein Grab in den Wolken da liegt man nicht eng". Gerade auch die eher hermetische Lyrik Paul Celans schöpft ja stark aus der Wirklichkeit.
An wenigen Stellen werden in Holocaust auch Helfer der Juden erwähnt. Ein KZ-Wärter hält seine schützende Hand über einen Jungen, ein Priester folgt einfach dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter. So fällt erst recht die mit dem absichtsvollen Zivilisationsbruch der Nazis einhergehende offizielle Ignoranz gegenüber dem jüdisch-christlichen Erbe auf. Einmal ist die Rede von einer weißen Hütte bei einer großen Grube nahe den Gaskammern, "auf deren Wand ein rotes Kreuz und die Aufschrift 'Lazarett' - das deutsche Wort für eine Art Krankenhaus - aufgemalt waren."
Der aus dem Französischen entlehnte Begriff des Lazaretts aber geht auf den Schutzpatron der Kranken zurück, den Juden Lazarus von Betanien (Joh. 11). Diese letzte Verhöhnung ihrer Opfer werden die Täter gar nicht begriffen haben.
Holocaust bewirkt Emotion durch Erkenntnis. Für dieses Buch klafft eine Lücke im Regal.
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