Der Frühling, der Krieg
Gisela Trahms
Bei Youtube gibt es ein kaum minutenlanges Video, das zeigt, wie zwei alte Männer eine französische Kleinstadtstraße entlanggehen. Der eine, weißhaarig, aufrechte Haltung, wirkt selbstbewusst und vital, der andere, obwohl sein heller Pullover leuchtet, wie die Verkörperung der Unauffälligkeit. Ernst Jünger präsentiert sein Cäsarenhaupt, Julien Gracq geht einfach nebenher. Jünger wurde in Frankreich geschätzt und geehrt, Thomas Mann und er waren jahrzehntelang die einzigen deutschsprachigen Autoren in der illustren "Bibliothèque de la Pleiade". Julien Gracq, Jüngers Freund, ebenfalls schon zu Lebzeiten mit einer Pleiade-Werkausgabe geehrt, dazu Goncourt-Preisträger (aber er lehnte den Preis ab) und Jahrhundert-Autor (1910 - 2007), schaffte es in Deutschland nie so ganz. Einer der Gründe ist sicherlich seine Existenz außerhalb des Pariser Getümmels. Gracq verbrachte sein Leben in der Provinz, wählte die Strickjacke statt der goldenen Tressen der Akademie, unterzeichnete keine Aufrufe, gab kaum Interviews. Entscheidender ist aber, dass die Glanzstücke seines Schreibens sich weniger in den Romanen finden (Das Ufer der Syrten ist so zäh wie Jüngers Marmorklippen), sondern in den Essays und Aufzeichnungen. Wie sehr es dort funkelt, ist in jedem Band der von Dieter Hornig sensibel übersetzten, mit Sorgfalt, Kenntnis und Liebe edierten Werkausgabe bei Droschl zu bewundern. Dabei handelt es sich nicht um bloß stilistische Brillanz - darin sind viele Franzosen Meister, manchmal, für deutsche Augen, bis zum Überdruss. Atemberaubend ist vielmehr die Nähe, die Gracq schreibend zu Ereignissen oder Phänomenen gewinnt, die Dichte und Klarheit der Wahrnehmung, die unverstellte Einsicht. Kaum jemand konnte eine Landschaft, ein Klima, eine Stimmung, aber auch die Texte anderer Autoren so glänzend zu sich selbst bringen wie dieser Geographielehrer. Im August 1939 als Leutnant eingezogen, wird Gracq im Mai 1940 in das besetzte Nordfrankreich geschickt. Anfang Juni gerät er in Dünkirchen in deutsche Gefangenschaft. Seine Aufzeichnungen umfassen den Zeitraum dieses einen Monats, ein Wimpernschlag, verglichen mit der Dauer des Krieges. Und verglichen mit anderen, ist es ihm glimpflich ergangen. Kein Stalingrad, keine russischen Winter. Keine Gewalt- und Todesorgien, keine Massenerschießungen und Flammenmeere. Gracq erfährt den Krieg als absurdes Chaos, als Planlosigkeit und Kommunikationsdesaster. Mit seinen Leuten (deren Zahl schrumpft, da immer mehr "sich absetzen") irrt er durch Flandern und das Hinterland der Kanalküste, ohne klaren Auftrag, ohne Karte, nicht einmal ein Fernglas besitzt er. Flugzeuge zeigen sich, Schüsse fallen, Granaten explodieren - aber der Feind bleibt fast unsichtbar. Marschiert wird nachts, Verpflegung gibt es selten, die Männer sind gereizt, stundenlang sitzt man in Zügen auf dem Abstellgleis. Der Krieg als leere Maschinerie, als banale, kräftezehrende, lebensbedrohliche Sinnlosigkeit mitten in der Idylle einer Frühlingslandschaft. Wie immer bei Gracq geht es weder um Erschütterung noch Anklage, aber auch nicht um Heroisierung. Nichts könnte diesen Notizen ferner sein als die Stahlgewitter seines deutschen Freundes. Eher erinnern sie an Stendhals Waterloo, wo Fabrizio del Dongo keinen Heldentaten begegnet, sondern ratlos durch den Matsch des Schlachtfelds stapft. Es geht darum, "wie es ist", um Intensität und Aufrichtigkeit, um die lächerliche, widersprüchliche, unentzifferbare Realität.
Einzigartig wird das Buch dann durch seinen zweiten Teil, die 70 Seiten, die den "Aufzeichnungen" folgen. Der fortlaufende Text heißt nach seiner Gattung einfach "Erzählung", Gracq schrieb ihn mit seiner kleinen, sauberen Schrift in ein Schulheft, genauso wie die Notizen, im Winter 1941/42. Der Protagonist heißt "Leutnant G.". Man kann also, zwischen zwei Buchdeckeln vereint, das autobiographische Material und seine Umwandlung in Fiktion studieren (die Fragment blieb, aber als Vorlage für den Roman Ein Balkon im Wald diente). Aus dem "Wir marschieren hintereinander" der "Aufzeichnungen" wird beispielsweise "... zog die Truppe im Gänsemarsch am Rand einer flämischen Straße entlang wie ein Band, das man in eine Farblösung taucht, und hatte dabei die Farben der Niederlage in sich aufgesogen wie ein Schwamm das Wasser." Beim Anblick der üppigen Wiesen des Boulonnais, wo gleichzeitig Geschützdonner und Vogelstimmen zu hören sind, staunt der Leutnant, dass man "... in diesen Augenblicken, die man sich so ernst, bedrückend und angespannt vorstellt, so schwerelos und so zartsinnig lebte." Aber so bleibt es natürlich nicht: "Er war nur mehr zornerfüllt, verrückt vor Zorn auf diese inkohärenten und schwachsinnigen Befehle, auf dieses Gespensterbataillon, das sich hinter den Hecken verflüchtigte, auf den Schiss dieses Verbindungsmanns, der in so sicherer Entfernung die Arme geschwenkt hatte." Und man vergleiche nur die Szene mit dem sterbenden Deutschen im Tagebuch und in der Erzählung, diese "sehr kurze Szene, die scharf ausgeschnitten war wie eine schnelle Filmsequenz ..., ein blankes Weiß, ein indifferenter, schlussendlicher Raum legte sich mit einem Schlag über viele Dinge." Jemand, der ernsthaft schreiben will, sollte sich vielleicht mal eine Woche lang mit diesem Buch einsperren, statt sich in Leipzig oder Hildesheim den eigenen Blick austreiben zu lassen.
Gracq versenkte die beiden Schulhefte in eine der Kisten, aus denen wohl noch manches Manuskript zutage kommen wird, da er bis ins hohe Alter schrieb, aber kaum noch publizierte. Als die Texte 2011 in dem kleinen Verlag Corti erschienen, dem er sein Leben lang treu geblieben war, erzeugten sie ein Beben. Gracq ist in Frankreich eine Instanz geblieben, moralisch, literarisch. Sein Buch huldigt nicht den Gipfeln, sondern der Ebene, es ist kein Pamphlet und rechtfertigt nichts. Wer plakative Meinungen und leichtgängige Schlüssel zur Welt schätzt, mag es als anstrengend empfinden. Dem geneigten Leser schenkt es die Freiheit des unerschrockenen Blicks, den Genuss seiner Sprache. |