Bewaffnete Reiter in letzter Minute
Volker Strebel
Dieser trefflich übersetzte Roman aus dem Spätwerk der tschechischen Journalistenlegende Ferdinand Peroutka lässt Jeanne d'Arc wiederauferstehen. Man muss keine Allegorisierung erzwingen, doch dass ein bedeutender tschechischer Journalist und Schriftsteller wie Ferdinand Peroutka (1895-1978) sich auf seine alten Tage im amerikanischen Exil mit der Thematik einer Heldenfigur und deren dramatischem Scheitern beschäftigt, verwundert nicht weiter. Der "Schriftsteller AB" jedenfalls, der gleich auf der ersten Seite dieses Romans seinen Text über Jeanne d'Arc fertiggeschrieben hat, spürt in allen Knochen, dass dieses Ende bestenfalls ein Anfang ist. Es wird ihm eng in seiner Schreibstube, und er beschließt, in den Club zu gehen, um auf andere Gedanken zu kommen. Er trifft dort seinen Schriftstellerkollegen JS, der ihm lärmig und launig die historischen Flausen mit Jeanne d'Arc austreiben möchte. Der Dialog im Club spiegelt das Anliegen Peroutkas, und mit der Antwort des Schriftstellers AB ist alles gesagt: "Man schreibt über die Geschichte, wenn man etwas über die Gegenwart sagen will – oder gegen sie"! Und spätestens ab diesem Zeitpunkt beginnt der von Mira Sonnenschein hervorragend übersetzte Roman Fahrt aufzunehmen. Der Schriftsteller AB ahnt, dass sein fertiges Drama in Versen über Jeanne d'Arc nicht ausreicht, um das Schicksal dieser legendären Heiligen erschöpfend auszuleuchten. Die gefälligen Verse verlangen danach, in eine probate Prosa übersetzt zu werden. Es entsteht vor den Augen des Lesers ein Mäander, das den Schriftsteller AB bei seiner Arbeit zeigt und zugleich dessen Gedanken darüber vorführt. Und auf einer weiteren Ebene beginnt dessen Text zu wachsen. Zeile für Zeile entfalten sich Charaktere einer bizarren mittelalterlichen Welt, beginnt das Blut in den Adern von Johanna zu pulsieren. Bewaffnete Reiter hatten sie in letzter Minute vom sicheren Flammentod auf dem Scheiterhaufen am Marktplatz von Rouen befreit! Jetzt geht es darum, die Heimat von der verhassten englischen Besatzung zu befreien. Doch der König, dem Johanna ergeben dienen möchte, war ein schwacher König. In Tagträumen sinnt sie über ihr Leben nach: "Johannas alter Wunsch, genauso viel zu vollbringen wie die Ritter und die Heiligen, ihnen in ihren großartigen Taten in nichts nachzustehen, wurde noch stärker".
Wie aber nutzt Johanna die ihr vom Schriftsteller AB ermöglichte Gelegenheit einer zweiten Chance? Die Stimme ihrer Eingebung, die sie früher nie im Stich gelassen hatte, bleibt aus, ihr Einfluss schwindet. Zunehmend beginnt ein unsichtbares Netz bösartiger Intrigen die Verhältnisse alter Kampfgefährten zu vergiften. Frühere Freunde wenden sich ab, und selbst der Schriftsteller AB, dem sich diese Inszenierung verdankt, unterbricht, womöglich aus Mitleid seine Darstellung. Hatte Johanna früher nicht pathetische Drohungen gegen ihre Feinde geschleudert? Womöglich mit einem Ausrufezeichen versehen? "AB ging zum Bücherschrank, entnahm ihm zwei Bücher und suchte lange bei den geliebten zeitgenössischen Autoren nach einem Ausrufezeichen. Er wurde nicht fündig. Das Ausrufezeichen hat nur bei Unteroffizieren, Säufern und schlechten Schriftstellern überlebt".
Ferdinand Peroutka belegt in dieser packend geschriebenen Darstellung, dass er sein Handwerk versteht. Eine kräftige Sprache bringt lebendige Figuren samt ihren Beziehungen zum Leben hervor. Unwillkürlich vermeint man, den beizenden Rauch kleiner Feuerstellen zu riechen, und der geschilderte Morgennebel lässt die Glieder klamm werden.
In der tschechischen Leserschaft hatte sich Ferdinand Peroutka bereits als junger Journalist Respekt verschafft, als er unter anderem als Chefredakteur der legendären Zeitung "Přítomnost" (Gegenwart) dem Gedanken der Demokratie ein unverwechselbares Forum verliehen hatte. Peroutka pflegte gute Kontakte zu Karel Čapek, aber auch zu den Präsidenten Tomáš G. Masaryk und Edvard Beneš. Während des Zweiten Weltkriegs war Peroutka sechs Jahre im KZ Buchenwald interniert. Als unversöhnlicher Gegner einer sich abzeichnenden kommunistischen Totalität sah sich Peroutka bereits 1948 gezwungen, seine Heimat zu verlassen. Aus dem Exil versuchte er, journalistischen Einfluss auf das Schicksal der ČSSR zu nehmen. 1978 verstarb Ferdinand Peroutka in New York. Sein Spätwerk über Die zweite Chance der Jungfrau inszeniert bei aller literarischen Verspieltheit die ernsthafte Erkenntnis, dass es in der Geschichte ein letztes Wort nicht geben kann. Ob dies der Menschheit zum Fluch oder zum Segen gereicht, bleibt allerdings offen. |