Der Philologe als Detektiv
Michael Esders
Von ästhetischen Dingen lasse sich nicht unästhetisch reden, sagt Adorno. Die Reflexion des Schönen wird, will sie ihren Gegenstand nicht verfehlen, zwangsläufig zur schönen Reflexion. Ein gutes Beispiel ist die im Athena-Verlag erschienene Rilke-Studie des flämischen Schriftstellers und Philosophen Paul Claes. Claes ist nicht nur Romancier – 2001 erschien sein Roman Der Phoenix über Leben und Tod des Universalgenies Pico della Mirandola auf Deutsch –, sondern auch Universitätsdozent. Dabei ist jedoch sein schmales Buch über Rilkes Rätsel alles andere als staubtrockene Philologie, es ist erfrischend unakademisch und glänzt dabei zugleich mit einem fast enzyklopädischen Kenntnisreichtum.
Claes nimmt sich Rilkes Neue Gedichte vor, ein Werk, das trotz der unüberschaubaren Fülle an Sekundärliteratur zu Rilkes Lyrik, die Regalkilometer füllen dürfte, bisher von der Forschung eher stiefmütterlich behandelt wurde. Neu sind diese Gedichte in einem emphatischen Sinn, so Claes' These, die er in zahlreichen Exegesen untermauert. "Ich fange an, Neues zu sehen", schreibt Rilke 1903 in einem Brief an Lou Andreas-Salomé. Und in einem weiteren Brief an die Gräfin Marie von Thurn und Taxis nennt er die Kunst sieben Jahre später eine "leidenschaftliche Inversion der Welt". Diese Umkehrung des konventionellen Zugangs zur Wirklichkeit deckt Claes auf allen Ebenen des Gedichts auf und bezieht dabei das Was des Gesagten ebenso ein wie das kunstvolle Wie: seine Syntax, seine Versstruktur und lautliche Gestalt. Claes begnügt sich nicht damit, das Geheimnis zu beschwören, das Mysterium zu feiern. Er löst die Rätsel, die ihm die Gedichte aufgeben, mit einem beinahe detektivischen Spürsinn, indem er Anspielungen und andere intertextuelle Bezüge aufdeckt, biblische, mythologische und kunsthistorische Fährten verfolgt, Lexika, Wörterbücher und botanische Fachliteratur zur Deutung heranzieht. Er lüftet die Geheimnisse, ohne den Texten die Aura des Undurchdringlichen zu nehmen.
Ein Beispiel von vielen ist das Gedicht "Papageien-Park", das, wie der Interpret zeigt, biologische und zoologische Kenntnisse voraussetzt. Das Gedicht vergleicht die aufgereihten Papageien mit einer "Parade". Diese auf den ersten Blick recht entlegene Metapher wird erst plausibel, wenn man sich mit der Papageienart Ara auskennt: Der sogenannte Soldatenara besitzt "ein grünes Federkleid mit roter Stirn, weißen Flügeln, rotem Schwanz und braunem Rücken: eine soldatische Erscheinung in einer Zeit, als Militäruniformen noch bunt waren." Für Rilke, ehemaliger Schüler einer Militärakademie, dürfte der Vergleich, folgert Claes, sehr nahegelegen haben. Solche erstaunlichen Funde und überraschenden Einsichten präsentiert Claes in fast jeder seiner insgesamt 26 Interpretationen, die sich spannend wie Detektivgeschichten lesen. |