Alpträume vom Glück
Gerald Funk
Wer glaubt, das Leben und die Liebe seien am
Ende und unter dem Strich durchaus erträglich oder womöglich
gar ein bißchen kuschelig, der gönne sich den Luxus
einer Beinamputation, einer Nachmittagstalkshow in den Privatsendern
oder, noch besser, der lese Yates' 1961 erstmals publizierten
Roman Zeiten des Aufruhrs. Hier wird aufgeräumt mit
dem Vorurteil, daß Männer und Frauen miteinander leben
könnten, ohne einander zu demütigen und um den Verstand
zu bringen, und es wird zugleich mit der süßen Erwartung
der Jugend abgerechnet, der Weg in die Zukunft sei gepflastert
mit Glück und verlaufe in ruhigen Kurven stets nach oben.
Yates' Geschichte um das Ehepaar April und Frank Wheeler erzählt
vom Untergang einer Familie, vom Scheitern einer Liebe, vom Verlust
der Lebensträume. Positiv gewendet könnte man auch sagen,
sie erzählt die Geschichte einer entlarvten Lebenslüge.
Eine Entlarvung allerdings, die nicht kathartisch wirkt, sondern
in einer Katastrophe endet. Yates verbindet damit zwei literarische
Traditionen: die des realistischen Eheromans à la Flauberts
Madame Bovary und die des Desillusionsromans Balzacscher Prägung.
Während des ungezwungenen Lebens als Student im Village von
Manhattan mit all seinen Freiheiten lernt Frank Wheeler auf einer
Party April kennen. Beide werden ein Paar, angezogen nicht zuletzt
von all den großen Träumen in den Augen des anderen.
Man macht ein wenig auf existentialistisch, raucht, trinkt und
führt intellektuelle Gespräche, weil man sich vom unerträglich
spießigen Alltag der konsumfixierten amerikanischen Nachkriegsgesellschaft
distanzieren will, unterscheidbar sein möchte. Man zieht
voller Selbstbewußtsein Wechsel auf eine Zukunft, die, wenn
nicht spektakulär, so doch zumindest besonders und voller
Versprechungen zu sein scheint.
Dann aber kommen die Kinder, und das Paar rutscht zunehmend in
den bürgerlichen Rahmen einer Vorstadtsiedlung mit eigenem
Häuschen, netten Nachbarn, einem unerträglich langweiligen
Job und gepflegtem Sex bei Kerzenschein. Es ist die immergleiche
Geschichte. Als ihnen aufgeht, daß sie ihre Träume
verraten haben, unternehmen sie einen verzweifelten Versuch, der
Falle der Spießbürgerlichkeit zu entkommen. Aber sie
sind dazu nicht wirklich mehr in der Lage, träumen aber noch
einmal kurz den Traum vom Glück, bevor die Realität
zuschlägt, und zwar blutig und gnadenlos. Mehr sei nicht
verraten.
Die New York Times mochte das Buch nicht, sprach von der "unerfreulichen
Hast zweier psychopathischer Charaktere, sich selbst zu zerstören",
und fand, Yates schreibe deprimierende Geschichten. "Meaningless
characters leading meaningless lives", hieß es da.
So einfach liegen die Dinge jedoch nicht. Wir erleben als Leser,
den Realitäten des 20. Jahrhunderts entsprechend, eine große
Tragödie mit Kleindarstellern. Und es ist kein Zufall, daß
der Roman mit einer mißlungenen Aufführung einer Laientheatergruppe
beginnt, nach der die schönen bürgerlichen Masken erstmals
fallen, geht es doch in Yates' Geschichte um den traurigen Verlust
von Illusionen und Selbsttäuschungen. April bemerkt diese
Täuschungen früher als ihr Mann, er hat sich darin eingerichtet.
Sie glaubt, man habe die Entscheidung noch in der Hand. "Du
warst zu gut, zu jung und zu ängstlich; du hast einfach mitgespielt,
und so fing alles an", sagt sie, um ihrem Mann Mut zu machen,
das Leben jetzt wenigstens in die eigenen Hände zu nehmen.
Aber der hat nicht mehr den Mut dazu. Als sie das erkennt, bleibt
von ihrer Liebe nur Verachtung übrig, vor der ihr Mann steht
wie vor einer Wand.
Mal Hand aufs Herz: Wir alle kennen diese Geschichte irgendwie,
wir kennen Ehen, die an solcher Erkenntnis zerbrochen sind, wir
alle fragen uns manchmal, wohin uns das Leben verschlagen hat,
ob es das war, was wir wollten und erhofft hatten. Wir alle stolpern
den Weg bergab, früher oder später. Und stehen dann
mit großen, überraschten Augen vor der Frage, ob das
schon alles gewesen ist. Auch Richard Yates hat diese Frage gestellt,
und er hat ihr ein Gesicht, eine unvergeßliche Geschichte
gegeben, die Geschichte von April und Frank, die ihr vielversprechendes
Leben aus der Hand gegeben haben und gutsituiert in der "Revolutionary
Road", so der ironische Originaltitel des Romans, verdämmern.
Und sie sind nicht allein, die Beiden, auch die Nachbarn und Freunde
bleiben vom Unglück nicht verschont. Hinter jedem Fenster,
und wirke es auf den ersten Blick noch so normal, lauert die Katastrophe.
Der besondere Clou und das Todtraurige an der Sache ist indes:
gerade die Menschen, die sich wechselseitig ihre Illusion der
Einzigartigkeit zerstört und sich in den Abgrund gestoßen
haben, waren tatsächlich etwas Besonderes. April und Frank
werden gebrochen, weil sie die Frage nach dem Sinn des Ganzen
zu stellen wagen. Alle anderen überleben, weil sie sich keine
Fragen mehr stellen, weil die Autosuggestion stark genug ist.
Daher könnte die Erkenntnis, die man dem Roman entnimmt,
lauten: Wir brauchen die Lüge und Selbstlüge, wir brauchen
die Einbildungskraft und die Träume, um nicht am Leben zu
verzweifeln. Das wußte schon Nietzsche. Und das steht womöglich
trotz aller Schärfe und Klarheit von Yates' Roman über
verlorene Illusionen, der jetzt durch die Aufnahme in die Manesse
Bibliothek der Weltliteratur endlich in die ihm gemäße
Gesellschaft kommt, am traurigen Ende der Geschichte. Auch wenn
der Autor das vermutlich nicht im Sinn hatte, als er begann.
Der Ton, in dem erzählt wird, ist genau beobachtend, mitunter
sarkastisch, bitter, nie sentimental, daher besonders anrührend.
Der Leser weiß nie genau: ist es ironische Distanz oder
Selbsterkenntnis des Scheiterns, was den Erzähler treibt.
Im schönen Nachwort von Eva Menasse erfahren wir, daß
Teile der Geschichte und die Grundzüge einzelner Charaktere
durchaus autobiographisch geprägt sind. Das ist für
den Roman selbst irrelevant, bestimmt jedoch nicht zuletzt die
Perspektive, die der Erzähler einnimmt und die seiner Geschichte
den Grundton, den besonderen Klang zwischen ironischem Zwinkern
und schonungsloser Abrechnung verleiht.
Man sieht ihn vor sich, Richard Yates, wie er am Ende seines Lebens,
die Zigarette qualmend im Mundwinkel, den Schlauch zu seinem Sauerstofftank,
aus dem er regelmäßig inhalieren mußte, in der
Hand, in einer abgewrackten Blechschleuder über den Campus
von Tuscaloosa fährt, wo er Literatur unterrichtete, ohne
zu wissen, daß seine Bücher einmal Klassikerstatus
bekommen würden, nachdem sie kaum ein Zeitgenosse hatte lesen
wollen. Hätte er es gewußt, vielleicht wäre ein
heiseres "Scheiß drauf!" zu hören gewesen.
Oder auch nicht.
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