Organisierter Tod
Oliver Uschmann
Es steht nicht zu vermuten, dass Björn Kern
sich leidenschaftlich mit dem Subgenre der Cyberpunk-Science-Fiction
beschäftigt. Der 29-Jährige studierte Poetik in Tübingen
und Leipzig, den Talentschmieden junger deutschsprachiger Literatur,
heimst unablässig wichtige Preise und Stipendien ein und
verarbeitet seit seinem Debüt Kipppunkt von 2001 seine
Erfahrungen mit Altenpflege, Krankheit und Tod. In Einmal noch
Marseille tat er dies unnachahmlich, das Buch war ein Kammerspiel
zwischen Vater, Sohn und todkranker Mutter und überzeugte
durch maximale Reduktion der Sprache. Kern stanzte konsequent
die wertenden und kommentierenden Momente heraus und verlieh genau
dadurch der Erzählung Intensität. Ganz anders nun sein
neuer Roman Die Erlöser AG. Der versetzt uns in ein
Berlin der Zukunft, das oben genanntem 'Cyberpunk' entsprungen
sein könnte. Ein Berlin wie in den Romanen von William Gibson
oder dem Filmklassiker Blade Runner. Es regnet fast ununterbrochen,
feuchte Kälte dominiert. Ist es nicht kalt, ist es schwül,
und Protagonist Paul Kungebein muss sich Pusteln aufkratzen. Mit
dem Charité-Arzt Hendrik Miller kommt der ehemalige Journalist
ausgerechnet in einer fettigen Dönerbude auf die Idee, eine
Firma zur aktiven Sterbehilfe zu gründen, da in der völlig
überalterten Gesellschaft mit leeren Straßen und "Altenghettos"
Paragraph 216 abgeschafft wurde. Der organisierte Tod wird an
einem Ort trostloser leiblicher Freuden geplant, Hendrik Miller
verschlingt dabei gierig Döner und Bier. Während die
Männer anfangen, Menschen zu "erlösen", versorgt
Kungebein daheim seinen schwer dementen Vater, dem er von seiner
neuen hauptberuflichen Serviceleistung nichts erzählt, bis
dieser zum ersten Fall einer Tötung ohne Verlangen wird.
Hendrik Miller weiß davon, denkt in der letzten Szene des
Romans an den Vorgang in Kungebeins Wohnung und "sah, dass
es gut war". Diese Skizze deutet an, dass Kern die Lakonie
des Vorgängers hinter sich gelassen hat, um mit dem Thema
jetzt aufs Ganze zu gehen. Kritiker werfen Kern - der dieses Jahr
in Klagenfurt las - vor, zu dick aufzutragen. Doch lässt
sich sein Umgang mit allen fünf Sinnen auch positiv deuten.
Kern macht spürbar, was eine Zukunft im absoluten Pflegenotstand
bedeuten würde. Er beschreibt Wundliegen, Einkoten oder Unfälle
mit Schnittwunden drastisch und mit exzessivem Einsatz des Geruchssinns.
Er hält mit der Kamera drauf, wenn eine alte Frau wegen Stationsüberbelegung
in der Besenkammer vergessen wird, wechselt in den inneren Monolog
und macht den Horror greifbar, allein und halb-dement in einer
dunklen Kammer, an den Rollstuhl gebunden, gestürzt, verrenkt.
Die Kritiker von Klagenfurt monierten vor allem diese Anmaßung,
sich erzählerisch in den Geist dementer und/oder körperlich
stark behinderter Menschen versetzen zu wollen. Das ist in der
Tat problematisch. Die Gegenfrage muss lauten: Darf ich gar nichts
beschreiben, zu dem ich keine Einsicht haben kann? Zur sinnlichen
Drastik kommt die Drastik der Sprache. Die erweckt vor allem durch
ausgiebigen Gebrauch indirekter Rede zugleich Dringlichkeit und
Hast wie auch eine unterkühlte Dauerdistanz, die wiederum
zur Kulisse passt. Kern hat das alles so gewollt, kann aber gerade
deshalb nicht verhindern, dass zwischen Bindfadenregen und Beatmungsapparaturen
das Lehrstück durchschimmert. Weniger wäre da manchmal
mehr gewesen. Der Romancier zu einem der wichtigsten Diskurse
der Zeit bleibt er trotzdem. Oder gerade deswegen.
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