Traumatische Familiengeschichte
Silvie Horch
Zwei Häuser, zwei Familien, wohnhaft in
einem Dorf, von dem nicht mehr zu sagen ist, als dass es unweit
eines Flusses liegt und in einer Gegend, in der es Wälder
gibt - das sind die spärlichen Fixpunkte in dem kammerspielhaften
und verstörenden Roman Gleich nebenan von Nina Jäckle.
Überhaupt sind die Geheimnisse das eigentliche Thema dieses
sehr dichten Textes, der trotz der strengen Komposition und seinen
kreisenden, sich sachte verschiebenden Wiederholungen den Leser
beinahe zwangsläufig verwirren und mit einem unguten Gefühl
zurücklassen muss. Dieses ungute Gefühl freilich ist
in den Figuren selbst angelegt, deren Rolle innerhalb ihres Familiengefüges,
aber auch im Gefüge des Textes mit fortschreitender Lektüre
immer weniger greifbar wird und bedrohlich wirkt - so sehr gehen
Fakten und Mutmaßungen, Erinnerung und Imagination und sogar
die Identitäten der handelnden Personen durcheinander. Da
ist zunächst die Ich-Erzählerin, eine Frau, die seit
fünfzehn Jahren scheinbar aufopferungsvoll ihren blinden
Mann pflegt. Tatsächlich aber vergeht kein Tag, an dem sie
nicht vor seinen Rufen flüchtet, vorzugsweise in den Garten
oder zur Nachbarin. Gegenüber ihrem Partner hat sie eine
tiefe Abscheu entwickelt, die sich in sehr konkreten Mordphantasien
Bahn bricht. Solche düsteren Geheimnisse sowie ein doppeldeutiges
Spiel, das zwischen Fürsorge und brutaler Preisgabe changiert,
sind ein Motiv, das sich in der unmittelbaren Nachbarschaft wiederholt.
Denn gleich nebenan wohnt eine ältere Frau, deren Lebensumstände
die Ich-Erzählerin und ihren blinden Mann stark beschäftigen:
Warum verließ die Tochter der Nachbarin noch als Kind vor
vielen Jahren über Nacht das Dorf? Und stimmt es, dass der
Vater ihre schönen, langen schwarzen Zöpfe mitgenommen
hat, als er wenig später seine Familie verließ und
auf Nimmerwiedersehen verschwand? Oder liegen sie noch in der
Schublade des Kinderzimmers des Sohnes, der jüngst im nahe
gelegenen Fluss ertrank, obwohl er ein guter Schwimmer war? Die
Nachbarin hat ihre eigene Antwort auf den tragischen Tod: "Mein
Sohn hätte jeden Tod sterben können, sagt die Nachbarin.
Nur weil ich es war, die ihm das Schwimmen beigebracht hat, nur
deshalb ist er ertrunken, um ein letztes Mal darauf hinzuweisen,
dass mir nichts gelingt, dass mir niemals etwas gelingen wird".
"Der Sohn der Nachbarin jedoch ist vierzig Jahre alt gewesen,
als er ertrank, das verändert die Geschichte", heißt
es ganz zu Beginn des Romans. Tatsächlich ändert sich
die Geschichte auf diesen schmalen 127 Seiten dramatisch. Am Ende
ist es die Nachbarin, die im Reigen der wiedergekehrten Familienmitglieder
tot am Küchentisch sitzt, ermordet von ihrer Tochter mit
dem schönen Haar und einer frischen Platzwunde, die ihr der
doch nicht ertrunkene Bruder beigebracht hat, weil der Vater tatenlos
wie immer daneben stand. Aber ist die Tochter nun identisch mit
der Ich-Erzählerin oder nicht? Alles in allem ist Nina Jäckles
zweiter Roman ein hochkomplexer und ambitionierter Versuch, eine
traumatische Familiengeschichte in Worte zu fassen.
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