Klatsch und Tratsch
Jürgen P. Wallmann
Heftig gestritten wurde und wird seit dem Frühjahr
in den Feuilletons über ein Buch, das der Journalist Volker
Weidermann unter dem Titel Lichtjahre vorgelegt hat. Im
Grundsätzlichen geht es um die Frage: Was braucht es zur
Beurteilung von Literatur vor allem? Leidenschaft, Temperament,
Emphase, subjektives Empfinden, Meinungen - oder nicht doch zuvörderst
Kenntnisse, nachprüfbare Argumente, Vergleiche, Distanz zum
Gegenstand (die ja Engagement und Liebe nicht ausschließt)?
Und: Ist Literatur wichtig vor allem als Lebenszeugnis - oder
doch eher als mehr oder minder autonomes Sprachkunstwerk? Nun
kann und darf man gewiss mit Leidenschaft und subjektiv über
Literatur reden und schreiben; so etwas liest sich dann oft bedeutend
besser als die übliche staubtrockene Germanistenprosa. Aber
auch bei solch engagiertem Schreiben sollten die Fakten und Proportionen
stimmen, gerät der Schreiber sonst doch zwangsläufig
in das Geschwafel der Beliebigkeit. Und eben das ist dem Feuilletonjournalisten
Volker Weidermann passiert, der (so der Untertitel seines Buches)
"Eine kurze Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis
heute" versprochen, stattdessen aber eine wirre Ansammlung
ganz heterogener Literaten-Portraits vorgelegt hat: das Klatsch-
und Tratschbuch eines Wichtigtuers, dessen private Vorlieben eigentlich
für niemanden von sonderlichem Interesse sind.
Volker Weidermann ist Zeitungsjournalist, die Kapitelchen seines
Buches sind Zweitverwertungen seiner Artikel, bei denen er das
praktiziert, was man im Gewerbe wohl eine "flotte Schreibe"
mit "human touch" nennt.
Über die sprachkünstlerische Qualität von Büchern
liest man hier wenig, dafür viel Anekdotisches aus dem Leben
der Dichter in oft hektisch-stakkatohaftem Stil. Über Paul
Celan etwa erfahren wir, wie gut er Tischtennis spielte - zu seiner
Lyrik liest man so gut wie nichts. Enzensberger ist einmal mit
Chruschtschows Badehose ins Schwarze Meer gestiegen, Kurt Kusenbergs
Tochter weinte, weil ihr Vater so traurig aussah, und ein Literaturprofessor
hatte eine mehrjährige inzestuöse Beziehung zu seiner
Tochter, der späteren Schriftstellerin Undine Gruenter.
Noch schlimmer wird es, wenn Weidermann von persönlichen
Begegnungen mit Autoren berichtet, die er im Auftrag seiner Zeitung
besuchen durfte; Hilde Domin etwa, Botho Strauß, Maxim Biller
oder, man denke nur, Wolf Wondratschek: "Mit offenen Armen
hatte er mich empfangen, das weiße Baumwollhemd bis zum
Bauchnabel aufgeknöpft, verwaschene Jeans, an drei Stellen
modisch aufgerissen, barfuß, kurzes graues Haar, das Gesicht
leicht gebräunt, die haarlose Brust eher rötlich, leuchtend
blaue Augen, schlank." Wow! möchte man da rufen, is'
ja voll geil! So erfährt der Leser denn enorm viel von dem,
was er schon immer nicht wissen wollte.
Und wie charakterisiert Volker Weidermann die Autoren und ihre
Werke? Einige Beispiele: Da ist etwa "der wunderbare bayerische
Volks- und sozialistische Gerechtigkeitsdichter" Oskar Maria
Graf, da gibt es "Wolfgang Borchert, das One-Hit-Wonder des
neuen Deutschland West" oder Heimito von Doderer, eine "merkwürdige
Gestalt, die der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur mehrere
Mammutwerke von erstaunlicher Breite, Tiefe und Absonderlichkeit
hinzugefügt hat". Mit Verlaub: Derartig nichtssagende
Plattitüden würde ein seriöser Verlag nicht einmal
für einen Klappentext akzeptieren.
Erich Frieds Gedichte sind nach Ansicht Weidermanns "Wahrheiten.
Reimrufe. Wortverwunderungen. Spracherkundungen. Weltverwünschungen.
Alltagskopien. Liebeserklärungen. Manchmal geniale Verse."
In Robert Gernhardts Versen dagegen ist "Alles drin: Wahrheit,
Witz, Weisheit, Welt. Und Form und Reim. Fehlt nichts. Sitzt.
Wird nicht vergessen." Da hat sich der jüngst verstorbene
Dichter sicher gefreut!
Der Literaturkritiker Reich-Ranicki hat über dieses Buch
verlauten lasset, es sei "gründlich und solide".
Genau das Gegenteil stimmt. Denn wo es ausnahmsweise statt Meinungen
einmal Fakten bringt, treten zahlreiche Fehler zutage. Neben sprachlichen
und grammatikalischen Schnitzern und Schwierigkeiten bei Fremdwörtern
stößt man bei Weidermann auf Falschinformationen in
den Biographien und den Zitaten. So ist etwa bei einem zitierten
Gedicht von Rühmkorf die Zeilenbrechung falsch, die Stropheneinteilung
stimmt nicht, ebenso wenig die Groß- und Kleinschreibung,
die Quellenangabe ist unkorrekt, und der Gedichttitel ist frei
erfunden: Er heißt "Hochseil" und nicht "Hochzeit".
Aber auf solche Kleinigkeiten kommt's wohl nicht an, wenn man
mehr fühlt als denkt und mehr aus dem Bauch als aus dem Kopf
schreibt.
Gottfried Benns Gedichte findet Volker Weidermann offenbar richtig
cool, und er nennt sie "klar, einsam, stark, hell, wundersam,
hoffnungslos, weise, wissend, fragend und einfach sehr, sehr schön."
Auf diese leider sehr, sehr blöden Bemerkungen sei mit einem
Zitat von Gottfried Benn selbst geantwortet, das man mehr oder
minder auf Volker Weidermann und sein Buch Lichtjahre beziehen
könnte:
"Am gefährlichsten sind die Leute mit ein bißchen
Grips, die sich berufen fühlen, die Maßstäbe zu
stiften und anzulegen. Soweit es bei ihnen langt, länger
darf es bei niemandem langen."
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