Zweifelhafte Neuausgabe
Gernot Wolz
Kurz nach Rolf Dieter Brinkmanns Tod bei einem
Verkehrsunfall 1975 erschien im Rowohlt Verlag sein letzter von
ihm selbst veröffentlichter Band: Westwärts 1 & 2.
Gedichte. Er sollte der herausragende Lyrikband der 70er Jahre
werden, bis Ende des Jahrzehnts erreichte er die vierte Auflage
mit 14.000 Exemplaren.
Allerdings hatte der Verlag den Gedichtumfang um ein Viertel gekürzt
und das umfangreiche Nachwort des Dichters völlig gestrichen.
In den folgenden Jahren erschienen dann zwar in Rowohlts Literaturmagazinen
ein Auszug aus diesem Nachwort sowie einige der nicht aufgenommenen
Gedichte. Schließlich, 1990 in einer Festschrift zum 50.
Geburtstag des Dichters, kündigte die Witwe Maleen Brinkmann
an, dass die erweiterte Neuausgabe von Westwärts 1&2
vom Rowohlt Verlag vorbereitet werde. Aber erst jetzt, zum 30.
Todestag des Dichters und nachdem weitere 15 Jahre verstrichen
sind, ist Brinkmanns lyrisches Hauptwerk laut Verlag vollständig
zugänglich. Eine Verlegerstrategie, die umso mehr verwundert,
als dieser Gedichtband ja auch kommerziell ein beachtlicher Erfolg
war.
Was bietet die Neuausgabe nun tatsächlich an Neuem? 26 ehemals
gestrichene Gedichte sind hinzugekommen sowie erstmals ungekürzt
"Ein unkontrolliertes Nachwort zu meinen Gedichten",
eine furiose Mischung aus Schreibmotivation, Poetologie und Gesellschaftsanalyse,
worin auch die in der Westwärts-Ausgabe von 1975 nicht
publizierten Fotos aus Köln einmontiert sind. Zudem ist die
Schrifttype dank des größeren Bandformates jetzt einheitlich;
Brinkmann war nämlich auf Grund des begrenzten Umfangs und
Formats der gekürzten Fassung von Westwärts 1 & 2
gezwungen, bei seinen langzeiligen Flächengedichten auf einen
kleineren Druck als bei den Versgedichten auszuweichen. So weit,
so schön.
Zu bezweifeln ist dennoch, ob die Gedichte in der Anordnung vorliegen,
wie der Autor sie konzipiert hatte. Beispielsweise enthält
der Band das 27-seitige Gedicht "Einige populäre Songs".
Es fehlen aber in der Neuausgabe wiederum die sechs Lyrikabschnitte
"Fragment zu einigen populären Songs", die dieses
Gedicht fortführen. Sie sind gleichzeitig mit dem Nachwort
entstanden und zählen als dessen konsequente lyrische Umsetzung
mit zum Besten aus Brinkmanns Lyrikproduktion. Dieses Verlagsversäumnis
ist ärgerlich, denn dem Käufer dieses nicht gerade billigen
Gedichtbandes wird zugemutet, nach einem 30 Jahre alten Literaturmagazin
zu fahnden, wenn er alle Gedichte des Westwärts-Zyklus
lesen will.
Außerdem wäre es angesichts des Preises und der literarischen
Bedeutung dieses Werks angebracht gewesen, bei der Ausstattung
auf die wenig haltbare Broschur zu verzichten und den sonst schön
gestalteten Band, wie einem Klassiker des Verlags angemessen,
in einer haltbareren gebundenen Fassung zu präsentieren.
Lange Zeit wurden die kürzeren Versgedichte aus dieser Gedichtsammlung
favorisiert und durch Tageszeitungen wie der FAZ (Frankfurter
Anthologie) einem größeren Lesepublikum bekannt.
Inzwischen finden aber auch die langen Flächengedichte mit
den nebeneinander gesetzten Wortblöcken ihre verdiente Wertschätzung.
Die Germanistik erkennt allmählich, dass sie meist nicht
planlos und chaotisch, so der oft gehörte Vorwurf, sondern
variationsreich komponiert sind und gegen die Erstarrungen der
Sprache anschreiben. Ihre collagenartige und fragmentarische Form
entspricht dem gespensterhaften Kommerzialismus, der geschändeten
Umwelt und dem fragmentierten Dasein der Menschen. Während
der alltägliche Ausnahmezustand den meisten kaum mehr ins
Bewusstsein rückt, benennt Brinkmann die Beschränkungen
und Verrottungen, erfährt sie am eigenen Leib ("Mein
Körper wird von allen Seiten bedrängt durch diese technischen
Geräusche"). Trotzdem oder vielleicht gerade dadurch
verliert er sich nicht in den Trostlosigkeiten seiner Gegenwart,
vermag vielmehr in diesen Gedichten und in den postum publizierten
Materialienbänden stets aufs neue die Energie aufzubringen,
um lebendige Gegenpole aufblitzen zu lassen.
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