Erzählungen aus dem "toten Winkel
der Geschichte"
Michael Esders
Wenn ein neues Buch von Jochen Schimmang erscheint,
darf sich der Leser auf eine Begegnung mit alten Bekannten freuen.
So auch im neuen Erzählungsband Auf Wiedersehen, Dr. Winter
des in Oldenburg lebenden Autors. In der Titelgeschichte - der
vielleicht gelungensten und zugleich rührendsten des Bandes
- treffen wir den inzwischen von seiner quälenden Schlaflosigkeit
kurierten Mathematiker Murnau, der Schimmangs jüngstem Roman
und einem mathematischen Theorem den Namen gab. In Amsterdam erblickt
Murnau ganz unerwartet den mitfühlenden Anästhesisten
Dr. Winter wieder, der als Armendoktor in einer Kneipe praktiziert.
Auch ihn kennen wir aus Die Murnausche Lücke. Auf
langen Spaziergängen erzählt der Mediziner dem Mathematiker
sein Leben. Das Porträt eines müden, alten Mannes, der
zwei geliebte Frauen beerdigen musste, weitet sich zum historischen
Panorama: Die nur scheinbar private Lebensgeschichte verknüpft
sich - typisch für Schimmangs Erzählkunst - unversehens
und ganz ungezwungen mit der Historie der Bundesrepublik, insbesondere
der unruhigen sechziger und siebziger Jahre. Und ganz nebenbei
ist der Text auch noch das atmosphärisch dichte Porträt
der niederländischen Metropole. Die Leichtigkeit, mit der
Schimmang auf engem sprachlichem Raum subtile Charakterstudien
mit fast essayistischen Reflexionen beispielsweise über das
Verhältnis von Geist und Geld, Ökonomie und Metaphysik
(in "New Economy") verbindet, ist wohl einmalig in der
deutschen Gegenwartsliteratur und am ehesten mit den Romanen des
Niederländers Cees Nooteboom zu vergleichen. Dabei nähert
sich Schimmang oft aus der Peripherie, der ostfriesischen Provinz,
aus dem "toten Winkel der Geschichte" dem Kern bundesrepublikanischer
Identität. Erfreulich, dass der Leser auch mit den Neulingen
im literarischen Personal wie dem therapiebedürftigen Therapeuten
in "Kipper", dem jungen Gänseforscher in "Krieg
und Frieden" oder sogar dem Kanzler schnell Bekanntschaft
schließt, obwohl diese Figuren ihr Geheimnis nur langsam
offenbaren. Dr. Winter wird am Schluss des Bandes beerdigt und
literarisch verabschiedet. Für Amsterdam ganz untypische
dichte Schneeflocken fallen auf die "Liebenden und die Toten".
Den Schimmang-Fans bleibt indes als Trost die Ankündigung
eines neuen Romans - über die Geschichte und die Geschichten
der rheinischen Republik.
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