Die literarischen Ambitionen des britischen Schriftstellers David Peace gehen weit über vermeintliche Genregrenzen hinaus. Für den Kriminalroman traditioneller Prägung hat er nur wenig übrig, die Beschäftigung mit fiktiven Mordfällen als Zeitvertreib erscheint ihm angesichts der Brutalität realer Verbrechen frivol. Also widmet er sich den kriminellen Tatsachen und nimmt sie zum Anlass für hochartifizielle Romane, deren sprachliche und strukturelle Herausforderungen das Bedürfnis nach zerstreuender Lektüre souverän ignorieren. So auch in Tokio, neue Stadt, dem dritten Teil seiner im Nachkriegsjapan spielenden Reihe historischer Kriminalromane. Und nun ist doch wieder die Genrebezeichnung gefallen, der sich Peace zu entziehen versucht, seit er 1999 mit dem ersten Band seiner vielgerühmten Red Riding-Trilogie debütierte. Denn leicht ist dem handlichen Begriff nicht zu entkommen. So bedient sich der Autor auch in Tokio, neue Stadt spannungsliterarischer Erzählmuster des Polizei- und Detektivromans, um sie effektvoll zu dekonstruieren. Drei Zeitebenen umfasst der komplexe Plot um den Mord am Präsidenten der japanischen Eisenbahngesellschaft im Jahre 1949, ohne dass es zu einer befriedigenden Aufklärung des Falls kommen würde. Dass ein (allerdings verschwundener) Kriminalschriftsteller zu den Protagonisten des Romans gehört, öffnet Raum für metafiktionale Meditationen. Und das vom Autor gern eingesetzte Stilmittel der Wiederholung - immer wieder dürfen wir einen Privatdetektiv auf die Toilette begleiten und Zeuge werden, wie er seinen Reißverschluss öffnet und schließt - trägt deutlich parodistische Züge. Wer sich schon immer gefragt hat, wie viel Kunstwillen der Kriminalroman verträgt, findet im Werk von David Peace zwar keine direkte Antwort, aber viel Stoff zum Nachdenken über ein bemerkenswert robustes Populärgenre, dessen Qualitäten vor allem dann zum Vorschein kommen, wenn sich ein stilsicherer Schriftsteller wie Johannes Groschupf seiner annimmt.
Groschupfs zweiter Thriller Berlin Heat zeigt auf virtuose Weise, wozu die Noir-Variante des Kriminalromans auch heute, in den so genannten Pandemie-Zeiten, noch taugt. Der Roman spielt in einem Berliner Sommer kurz nach Aufhebung der Maskenpflicht. Tom Lohoff kann wieder Geschäfte machen, denn er lebt davon, den exzesshungrigen Besuchern der Partymetropole Wohnungen zur Kurzzeitmiete zu vermitteln. Und, wenn gewünscht, auch manches mehr. Dummerweise ist Lohoff ein Spieler, dessen Gläubiger Schulden gern auf die brachiale Tour eintreiben lässt. Eine klassische Situation, aus der sich ein rasanter Plot entwickeln lässt. Dass der Autor auch eine politische Agenda verfolgt, fügt sich unaufdringlich in die Gesamtstruktur dieses bemerkenswerten Gegenwartsromans.
In unserer unmittelbaren Vergangenheit - Mund-Nasenschutz inklusive - hat auch Heinrich Steinfest seinen neuesten literarischen Streich angesiedelt. Die Möbel des Teufels heißt das verspielte Erzählstück, dessen Untertitel bereits eine charmante Schwindelei darstellt. Denn weder der einarmige Privatermittler Markus Cheng, bekannt aus fünf vorhergehenden Romanen des Autors, noch seine vormalige Sekretärin Frau Wolf, die inzwischen mit ihrem früheren Chef die Rollen getauscht hat, leisten hier nennenswerte Detektivarbeit. Das bleibt Leo Prager überlassen, der nach vierundvierzig Jahren, die er vor allem unter hier kaum zu erläuternden Umständen auf einer Insel im Südpazifik verbracht hat, in seine Heimatstadt Wien zurückkehrt, um den gewaltsamen Tod seiner Schwester aufzuklären, ohne dass dies seine Absicht gewesen wäre. Doch die Umstände ihres Ablebens sind gar zu rätselhaft. Prager selbst ist als Siebzehnjähriger nach einem misslungenen Suizid-Versuch, der ihn zum Zeugen eines Verbrechens hat werden lassen, Hals über Kopf aus Wien verschwunden. Nun ist er zurück und stellt fest, wie alles mit allem zusammenhängt, sodass sich wieder einmal ein wunderbar anspielungsreicher und hochvergnüglicher Roman ergibt. So macht Manierismus Spaß.
Erheblich ernster, aber nicht weniger gelungen variiert Jürgen Heimbachs historischer Kriminalroman Vorboten das Heimkehrer-Motiv. Der Erste Weltkrieg ist seit mehr als einem Jahr vorbei, das Rheinland von den Franzosen besetzt, da taucht im April 1920 nach langer Abwesenheit Wieland Göth wieder in seinem Heimatdorf, dem fiktiven Rombelsheim, auf. Wo er die letzten sieben Jahre verbracht hat, erzählt er nicht jedem. Überhaupt muss er vorsichtig sein, denn nicht jeder heißt ihn willkommen, auch der eigene Bruder nicht. Andere sehen in ihm einen Verbündeten, und das ist genauso gefährlich. In Rombelsheim geben nationalistische Kreise, die mit den putschenden Freikorps in Berlin sympathisieren, den Ton an. Wer anders denkt, muss um sein Leben fürchten. Göth, der Rache im Sinn hat, wirbelt Staub auf, verdrängte Verbrechen kommen ans Tageslicht, es gibt Tote. Als der Heimkehrer das Dorf wieder verlässt, ist nichts mehr wie zuvor. Doch die Geschichte ändert sich nicht. Was es mit dem Romantitel Vorboten auf sich hat, lässt sich auch ohne die Hinweise der poetologisch angelegten Rahmenerzählung unschwer entschlüsseln. Jürgen Heimbach hat schon mit seinen früheren Büchern gezeigt, dass der historische Kriminalroman mehr kann, als vertraute Erzählmuster in einem veränderten Setting neu zu arrangieren. Mit Vorboten ist ihm dies aufs Neue gelungen. |