Enno Stahl
Am Erker Nr. 67, Münster, Juni 2014
"Manches ist in seiner Weltsicht unfreiwillig komisch" - über die Relevanz der deutschen Gegenwartsliteratur
Der 1962 geborene Enno Stahl gehört zu den umtriebigsten und vielseitigsten deutschen Schriftstellern. Während seines Studiums in Köln war er Mitherausgeber der Literaturzeitschrift ZeilenSprung, aus welcher der legendäre KRASH Verlag hervorging, und er organisierte spektakuläre Lesungen sowie Performance-Shows ("Dichter in den Ring"). Seit Mitte der 1980er Jahre veröffentlicht er Prosa, Lyrik, Essays, Glossen, Romane sowie Kritiken, und er ist zudem als Herausgeber und Kurator tätig. Enno Stahl erhielt zahlreiche Preise und Stipendien. Derzeit arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf und lebt in Neuss. Der Essayband Diskurspogo, Stahls letzte Veröffentlichung, gilt als ein wichtiger Beitrag zu der aktuellen Diskussion über die Relevanz der deutschen Gegenwartsliteratur. Eine von Stahls Thesen: Die deutsche Gegenwartsliteratur ist brav und belanglos, da es ihr an kritischer Auseinandersetzung mit der sozialen Realität mangelt.
Du arbeitest als Literaturkritiker und Autor. Kann man beides zugleich mit Leib und Seele sein?
Nein. "Literaturkritik" als dienende Funktion, als Vermittlung von Texten für das Publikum, betrachte ich für mich als eine (neben)berufliche Aktivität. Mit Leib und Seele bin ich Autor. Allerdings sind bestimmte Formen der Kritik, wie ich sie in Diskurspogo anstrebe, sehr nahe an meinem Selbstverständnis als Autor, der soziale Fragen aufgreift und thematisiert. Essays, die aus dieser Motivation heraus entstanden sind, betrachte ich demnach als Bestandteile meiner schriftstellerischen Arbeit. Hier würde ich also gar keine große Diskrepanz zwischen meinen Romanen und der Sachprosa ausmachen. Zudem haben diese Essays eine heuristische Funktion, entwickeln sie doch en passant meine eigene Produktionsästhetik. Die "Theorie" des sozial-realistischen Romans ist zur gleichen Zeit entstanden wie 2 Pac Amaru Hector, das erste Buch, in dem ich bewusst versuchte, eine solche Programmatik umzusetzen.
Der von dir erwähnte, im letzten Jahr veröffentlichte Band Diskurspogo enthält Essays, die sich u. a. sehr kritisch mit dem Zustand der deutschen Gegenwartsliteratur auseinandersetzen. Zu welchem Befund bist du gelangt?
In Diskurspogo geht es einerseits um die Überlegung, wie und unter welcher Maßgabe heute eine sozial relevante, realistische Literatur möglich ist, also um die Formulierung einer Produktionsästhetik. Andererseits strebe ich natürlich auch eine kritische Begutachtung des literarischen Feldes in Deutschland an, und zwar unter eben dieser Fragestellung, wie welthaltig die hiesige Gegenwartsliteratur eigentlich ist. Mein Befund ist allerdings ernüchternd. Viele, von der Kritik hoch gelobte literarische Elaborate, besitzen in meinen Augen kaum mehr Realitätsgehalt als deutsche Vorabendserien. Künstliche Charaktere, die über keinerlei soziale Kennung verfügen. Wir wissen nicht, woher sie kommen, was ihr Hintergrund und was ihre Möglichkeiten sind. Erklügelte Settings und Geschichten, Szenen und Plots, die nichts mit dem wirklichen Leben zu tun haben.
Du vermisst also Bezüge zur heutigen sozialen Realität?
Ja, denn ein besonderes Manko ist das gänzliche Fehlen der Arbeitswelt. Für die meisten Menschen ist Arbeit (oder die Absenz von Arbeit) das maßgebliche Thema im Leben. In der deutschen Gegenwartsliteratur aber spielt die Art und Weise, wie die Protagonisten ihren Lebensunterhalt verdienen, keine oder zumindest eine sehr nachrangige Rolle. Natürlich dürfte ich, wenn es sich in Diskurspogo (der Name legt das ja nahe) nicht um eine polemisch zugespitzte Argumentation handelte, gar nicht von "der" deutschen Gegenwartsliteratur sprechen, denn die ist nicht über einen Kamm zu scheren, und ich kann ebenso wenig wie jeder andere alles kennen, was in Deutschland erscheint. Doch ich denke, es gibt einen gewissen elaborierten Mainstream, den der Betrieb ins Zentrum seiner Wahrnehmung gestellt hat (und daher auch ich), der genau diese Defizite aufweist. Das sind Bücher, die in der Regel handwerklich gut geschrieben sind, denen aber inhaltlich wie formal jegliche Originalität abgeht. Manches ist für mich geradezu unfreiwillig komisch in seiner Weltsicht.
Es geht schlicht darum, welche Literatur heute einen adäquaten Realitätszugriff aufweist - ein hohes ästhetisches Niveau muss damit verbindlich einhergehen, sonst leistet Literatur in Zeiten diverser Konkurrenzmedien einen solchen gestalterischen Akt gar nicht mehr. Abgesehen davon, dass ich einen echten literarischen Underground aktuell kaum mehr sehe, ist bei den verbliebenen Resten desselben die Höhenkammlinie zumeist eben doch sehr weit entfernt. Was durchaus nicht heißt, dass es sich nicht lohnen könnte, einmal zunehmend die Gefilde abseits des Betriebs in den Blick zu nehmen, einschließlich der neuen Verbreitungswege von Literatur (ebooks, Blogs, eZines). Ich muss aber gestehen, dass ich bislang auch hier nicht wirklich fündig wurde.
Also kein Zurück zum "Werkkreis Literatur der Arbeitswelt"?
Sicher nicht. Der Werkkreis war politisch eine gute Idee, aber die Tätigkeit von Autoren ist eine sehr spezialisierte, die Handwerk und Ausbildung erfordert. Schreibende Arbeiter sind natürlich trotzdem denkbar, es hat sie gegeben, aber wenn sie dann zum hauptberuflichen Autor mutierten, haben sie sich eben auch nicht mehr ihr Leben lang mit Geschichten aus der Arbeitswelt befasst. Inhaltliche Fixierungen in der Literatur sind genauso falsch und schädlich wie das konsequente Aussparen bestimmter Themen.
In diesem Zusammenhang ist die gesellschaftliche Entwicklung in Betracht zu ziehen. Die - literarisch so verpönte - Arbeitswelt ist heute völlig anders geartet als in den sechziger Jahren: Ein Klassenwiderspruch in der tradierten Form ist so nicht mehr gegeben. Nichtsdestotrotz existieren weiterhin Druck und Ausbeutung, nicht nur in den unteren Rängen, sondern bis ganz nach oben.
Der Beruf ist in unseren Tagen zum Problem geworden, die unbefangene Selbstverständlichkeit, mit der man in den siebziger Jahren eine Erwerbstätigkeit ergriff und darin gegebenenfalls jahrzehntelang arbeitete, ist verloren. Überhohe Belastungen, Burn-Out und Angst um den Job sind psychische Kollektiverfahrungen. Vor Winkler, Werber, meinem jüngsten Roman, der sich der krisenhaften Geschichte eines wohlsituierten "Senior Texters" widmete, veröffentlichte ich schon 2008 mit Diese Seelen ein Buch mit ganz ähnlicher Spur.
Deine Figuren wirken bisweilen auffällig fatalistisch.
Ich würde eher sagen: realistisch. Mich interessiert das soziale Gewordensein der Figuren, dem Weg in den Beruf und dem Beruf selbst kommen dabei große Bedeutung zu. Gerade verantwortungsvolle Jobs mit hoher Entgrenzung von Arbeit und Freizeit neigen dazu, Menschen zu entfremden und zu deformieren, wie etwa die TV-Frau Tess in Diese Seelen oder eben Winkler, die 'déformation professionnelle' ist zum Seelenpräger unserer Zeit geworden. Der Fatalismus (hier ist das Wort angebracht) und die Verzweiflung derer, die aus dem System herausgefallen sind, sind die Kehrseite der Medaille in einer Gesellschaft, die unvermindert nach mehr Geschwindigkeit, Erfolg und Profit strebt, als setzte der Planet dem nicht ebenso klare Grenzen wie die menschliche Disposition selbst.
Im Essay "Literatur in Zeiten der Umverteilung" erkennst du kritisch: "Literatur, ja Kultur allgemein, wird in Deutschland weitgehend von Menschen produziert, vermarktet und rezipiert, die aus wohlsituierten Verhältnissen stammen." Welche Voraussetzungen muss ein Autor mitbringen, um eine Literatur mit einem sozial-realistischen Impetus produzieren zu können. Welche Rolle spielen persönliche Erfahrungen in einem solchen Schreibprozess?
Der Autor oder die Autorin muss diese gesellschaftlichen Verhältnisse kritisch analysieren und darf die eigene Position als Autor oder Autorin in diesem Kontext nicht aussparen. Ich glaube, dass dies eher ein intellektueller Zugang ist, wenngleich persönliche Erfahrungen der Literatur nie schaden.
Oder die Erarbeitung einer Haltung? Im Diskurspogo beziehst du dich auf ein bekanntes Diktum Peter Hacks', demzufolge Literatur nicht die Aufgabe habe, Wirklichkeit abzubilden, als vielmehr, eine Haltung zur Wirklichkeit zu verdeutlichen.
Ja, genau. Und wenn man das richtig liest, versteht man, dass es sich
dabei nicht unbedingt um eine politische Haltung handeln muss. Es geht mir zunächst einmal um eine erkennbare geistige Physiognomie, eine ablesbare Denktradition oder Weltanschauung, mit der man sich auseinandersetzen, an der man sich gegebenenfalls auch reiben kann. Solche Haltungen fehlen in der Gesellschaft zunehmend. Gerade von Autoren, die mit Wörtern arbeiten und deshalb intuitiv an Sprach- und Geistesgeschichte partizipieren, wäre die Ausformulierung einer spezifischen Position zu erwarten. Stattdessen herrscht hier oft große Beliebigkeit, man weiß nicht, wo die Verfasser stehen (auch dies nicht unbedingt politisch verstanden). Das entwertet meines Erachtens die Literatur dieser Autoren, da die Sprache so gleichfalls beliebig wird. Viele, die heute schreiben, scheuen Festlegungen und möchten lieber alles in der Schwebe belassen. Beim Autor aber schlägt sich die Haltung in seiner Sprache nieder, also auch das Fehlen einer Haltung.
Bei welchen Autorinnen und Autoren erkennst du die von dir postulierte Haltung? Oder anders gefragt: In welchen Werken der deutschen Gegenwartsliteratur findet sich die gewünschte "Ausformulierung einer spezifischen Position"?
Bei mir selbst natürlich (lacht). Aber klar gibt es eine Reihe von Autoren und Autorinnen, denen ich das zugestehen würde. Sogar mit Positionen, mit denen ich mich identifizieren kann. Exemplarische Namen habe ich an verschiedenen Stellen bereits genannt: Dietmar Dath, Rainald Goetz, Reinhard Jirgl, Thomas Meinecke, Kathrin Röggla, Erasmus Schöfer, Ingo Schulze, aber auch einige Lyriker wie Ann Cotten, Oswald Egger, Björn Kuhligk, Monika Rinck, Ulf Stolterfoht. Bei manchen dieser Namen stöhnen dann einige Leute und sagen: "Das ist ja nicht schwer, die gut zu finden." Aber mir geht es hier gar nicht darum, Entdeckungen zu präsentieren, sozusagen Kaninchen aus dem Hut, meinen Kandidaten, der allen anderen entgangen ist, das ist die Praxis der üblichen Literaturkritik. Mich interessiert vielmehr eine Beschreibung des Vorhandenen, nach Maßgabe meines Wertungsdispositivs, wer steht mit seiner Literatur ein für eine erkennbare Physiognomie des Denkens, der Kritik und/oder der Utopie. Eine Haltung in diesem Sinne kann man selbstverständlich auch Leuten wie Sybille Lewitscharoff und Martin Mosebach nicht absprechen, das ist ganz sicher nicht meine Haltung, sondern eine, die ich eher bekämpfenswert finde, aber darum geht es gerade: um sichtbare Konturen, mit denen man sich explizit auseinandersetzen kann - im Negativen wie im Positiven.
Im Sinne eines Peter Weiss, der einmal gesagt hat "Kultur ist zu wagen", oder Heinrich Bölls und seiner "Ästhetik des Humanen", deren Wiedergewinnung, also wohl Neuausstattung unter den Bedingungen des Neoliberalismus, dir ein Anliegen ist, erkennst du als eigentliche Legitimation von Literatur die Intervention. Muss aber nicht, um die Position von Michael Wildenhain aufzugreifen, die zeitgenössische Literatur hübsches Ornament bleiben, solange es keine politische Bewegung gibt, die die herrschenden Verhältnisse radikal in Frage stellt?
Es mag sein, dass Literatur heute nicht viel mehr ist als Ornament. Aber nichts zu tun, wäre Fatalismus. Es ist im Sinne der eigenen Seelenhygiene, gegen die Umstände zu wirken, auch wenn die Chance gering sein mag, sie tatsächlich zu ändern. Wäre es denn mit einer solchen Einstellung nicht ebenso überflüssig, irgendeine politische Arbeit zu machen? Keine Initiative, freie Gruppe oder NGO hätte demnach eine Existenzberechtigung, weil die kleinen Schritte, die sie vielleicht hier und da erreichen, nicht eingebettet wären in eine umfassende, revolutionäre Bewegung. Wer aber würde das ernsthaft behaupten?
"Schwimmt gegen den Strom und die Zeit. Seid Anarchen und anachronistisch!" Eine vielleicht unvermutete Sekundanz erhält deine Position durch Roman Bucheli von der NZZ. In seinem Artikel "Mehr Seldwyla, weniger Berlin" (16.2.2014) argumentiert er, die Literatur komme - wie der sprichwörtliche Hase - immer zu spät, wenn sie die Jetztzeit erzählerisch einzuholen versuche. "Vergesst die Mitte, und vergesst die gemässigten Zonen des Erzählens, sucht die Ränder auf, wo sie wegbrechen!", lautet sein poetologisches Credo. Die ästhetische Grenzüberschreitung müsse wieder zur Grenzerfahrung werden. Wie siehst du heute das Verhältnis von Zentrum und Rändern?
Wenn ich das jetzt vordergründig topografisch betrachte, also die Alternative zwischen Seldwyla und Berlin, muss ich sagen: Ich selbst wohne ja weit außerhalb des Zentrums, und mit Bedacht. Ich könnte mir vorstellen, dass man das Geschehen von den Rändern aus vielleicht etwas distanzierter, neutraler und auch gelassener betrachten kann. Pauschalisieren sollte man das aber nicht. Eine neue 'Asphaltliteratur'-Debatte erscheint mir komplett unsinnig. Ich denke, man kann im Zentrum genauso wie von den Rändern her den Kollaps des (Werte)Systems beobachten. Für mich persönlich ist der Umweg über die Ränder durchaus ein gangbarer Weg, mein nächster Roman spielt in einem kleinen rheinischen Ort, und genau diese Prozesse der sozialen Divergenzen, der Auflösung und des Auseinanderbrechens werden hier im kleinsten literarischen Kosmos dargestellt. Mein übernächster Roman aber, der in der Rohfassung ebenfalls schon geschrieben ist, spielt in Berlin und behandelt das Thema Gentrifizierung, einfach weil es momentan in der gesamten Welt wohl keine Stadt gibt, in der diese Entwicklung mit einer solchen Dynamik auftritt.
Dein letzter Roman Winkler, Werber erzählt die Geschichte des fünfzigjährigen Jo Winklers, eines sehr erfolgreichen Senior-Texters in einer renommierten Kölner Werbeagentur, der in Zeiten der ökonomischen Krise schließlich beruflich grandios scheitert. Dass ein Werbetexter zum Protagonisten eines Romans wird, ist in der deutschen Literatur selten. Erich Kästners Fabian fällt uns ein, der als promovierter Germanist für eine Zigarettenfirma als Werbetexter tätig ist, bis ihm - eine Folge der Weltwirtschaftskrise - gekündigt wird. Was hat dich an einem Werbetexter interessiert?
Das Interessante an der Figur des Werbetexters Winkler lag für mich in zwei Aspekten begründet: Einerseits ist er ein Protagonist des neuen Wirtschaftsstils, weil er ihn als Werbetexter erklären muss. Um ihn effektiv erklären zu können, hat er die marktradikale Ideologie vollends verinnerlicht, obwohl er qua links orientierter Vergangenheit mit ihren Widersprüchen nur zu vertraut ist. Diese überspielt er mit Zynismus, das ist eine Haltung, die heute meines Erachtens sehr viele Leute kultivieren, man könnte das postmoderne Apathie nennen, eine Form von Scheinironie, hinter der am Ende ein aggressiver Sozialdarwinismus lauert. Andererseits gab es einen taktischen Grund dafür, ausgerechnet einen Werbetexter zu wählen: Er hat mit Worten zu tun. Dadurch ist er mir näher als etwa ein Broker, der diese Ideologie natürlich ebenso treffend verkörpern würde. Angesichts der Erzählweise des Buches war das von entscheidender Bedeutung, der innere Monolog eines Börsenmaklers wäre für mich schwerer zu konstruieren gewesen, und er müsste sicherlich auch mit sehr vielen Zahlen und Rechenoperationen hantieren, die für Leser eines solchen stream of consciousness nicht gar so attraktiv wären.
In Winkler, Werber entkleidest du die Rheinfahrt, das deutsche Topos schlechthin, jeglicher Romantik und zeigst sie bloßgestellt als Betriebsausflug, garniert von Rentnerausflügen und Kegeltouren. Naheliegend sind die Bezüge zu Heinrich Heine, die sowohl direkt benannt (Lied von der Loreley), als auch indirekt anklingen, etwa Heines Fragment Der Rabbi von Bacherach in der von dir erwähnten Schlagzeile einer Zeitung "Wer tötete den kleinen Werner? War es der Türke?" Welche Bedeutung haben Heine und sein Werk für dich?
Wie bei Heines Reisen geht es bei dieser Rheinfahrt nicht um Impressionismus, sondern um die deutsche Geschichte und Aktualität insgesamt. Ansonsten muss ich gestehen, dass Heine, der ja bekanntlich kein fiktionaler Prosaautor und Romancier war (der Rabbi von Bacherach ist eine fragmentarische Ausnahme), auf mich keinen großen Einfluss hatte, und das, obwohl ich im Heinrich-Heine-Institut, einem Zentrum der internationalen Heineforschung, arbeite. Einen Vorbildcharakter hat Heine für mich natürlich als Person, als streitbarer, politischer Schriftsteller und Journalist. Seine unglaubliche Sprachmodernität bewundere ich. Für die aktuelle Debatte kann man von ihm lernen, dass es für Autoren durchaus unabdingbar ist, sich gesellschaftlich einzumischen. Er selber beklagt ja in der Vorrede zum Salon, dass er sich zu sehr dazu gezwungen sehe, sein Werk auf die Zeitumstände abzustellen, dass er lieber schöne, leichte, romantische Gedichte schriebe, diesem Bedürfnis aufgrund der politischen Lage aber nicht nachgeben dürfe. Davon könnten sich heute viele Schriftsteller eine Scheibe abschneiden. Auch lernt man von ihm, dass es in politischen Dingen nicht um die viel beschworene Kollegen-Solidarität gehen kann à la 'über Kollegen darf man nichts Schlechtes sagen'. Wenn jemand seine Rolle als Autor nutzt, um (schlechte) Politik zu machen, in Reden oder in literarischen Texten, etwa Juli Zeh, Ernst-Wilhelm Händler oder Nora Bossong, erst recht die erwähnten Lewitscharoff und Mosebach, dann muss man ihn oder sie auch kompromisslos politisch angreifen.
Winkler, Werber steht - das scheint unbestritten - in der Tradition einer aufklärerischen, realistischen Literatur. Erzählt wird die über dreihundert Seiten lange Geschichte Jo Winklers, du hast es angesprochen, ausschließlich aus seiner eigenen Perspektive in Form eines inneren Monologs. Das stellt eine Herausforderung für den Leser dar. Darf Literatur, um an das Konzept des 'prodesse et delectare' anzuknüpfen, neben ihrer aufklärerischen Funktion auch unterhalten?
Bedeutet diese Frage, dass Winkler, Werber nicht zu erfreuen vermag? Mainstream-Leser haben mit dem inneren Monolog sicher ihre Schwierigkeiten. Das haben sie aber mit allen ästhetisch anspruchsvollen Texten. Ich war im Gegenteil recht überrascht (weil ich tatsächlich so etwas erwartet hätte), dass viele Leser die Lektüre ausdrücklich als ziemlich unterhaltsam oder gar lustig bezeichnet haben. Und das ist tatsächlich eigenartig bei einem Bewusstseinsstrom! Literatur ist grundsätzlich eine Gratwanderung. Wenn sie sich allzu formsprengend und sprachzerstörend geriert, speziell als Roman, ist es oft schwer, ästhetische und gesellschaftskritische Anliegen zu vermitteln, oder eben nur an absolute Literaturspezialisten. Dennoch ist das meiner Ansicht nach eine akzeptable Methode, also eine Literatur zu schreiben, für die man früher den Begriff 'Avantgarde' verwandte. Ich persönlich präferiere, wenn ein Roman seine kommunikativen und künstlerischen Absichten über eine Geschichte transportiert. Die Geschichte und die Protagonisten machen den Kern dessen aus, was man verhandelt. Konzentriert man sich allerdings nur auf diesen Bereich und steckt womöglich in Plot und Personal auch gar nichts Hintergründiges, ist man schon wieder mitten in der Mainstream-Falle, also im mediokren Fahrwasser der Beliebigkeit.
Deine Empfehlung?
Es kommt darauf an, zwischen den Erfordernissen einer Dramaturgie oder gar Spannungskurve und einer ästhetischen, formalen und sprachlichen Ambition zu manövrieren. All die konventionell durcherzählten Romane, sprachlich zwar oft hochwertig, aber inhaltlich ohne Biss, formal auf der Höhe des neunzehnten Jahrhunderts, als hätte es die historische Avantgarde nicht gegeben, langweilen mich sehr. Sie bevölkern die deutsche Gegenwartsliteratur, und mitunter ist auch gerade die so genannte Weltliteratur (die aktuelle, nicht die historisch kanonisierte) davon geprägt, jedes Jahr überspült die neue Welle der Produktion die des Vorjahrs. Winkler, Werber war der Versuch, zügig, lesbar und mitunter witzig zu schreiben (daran hatte ich unglaublich arbeiten müssen!), aber zugleich über die Form des inneren Monologs, der hier anders als bei Joyce nicht nur eine müßige halbe Stunde vorm Einschlafen darstellt, sondern eine Geschichte tragen soll, einen formal innovativen Roman zu schaffen.
Woran arbeitest du zurzeit?
Als Nächstes ist ein Roman mit dem Arbeitstitel "Spätkirmes" geplant, in dem es um den prekären Mittelstand geht. Ich erwähnte ihn bereits oben, ebenso wie den Berliner Gentrifizierungs-Roman "Sredzki Ecke Rykestraße". Beide sind übrigens Teil eines Zyklus, der das Zeitalter der Dynamisierung des Kapitalismus abbilden soll, den ich "Die Turbo-Jahre" nenne - die Romane Peewee rocks (1997), 2PAC AMARU HECTOR (2004) und Winkler, Werber (2012) waren dessen erste drei Teile, wobei sie alle als eigenständige Romane für sich stehen. Außerdem arbeite ich an einem weiteren Essayband, Arbeitstitel hier "Discodiskurse", der die kritische Arbeit von Diskurspogo in historischer und zeitgenössischer Perspektive fortsetzt.
Ein ambitioniertes Programm! Vielen Dank für das Gespräch. |