Arno Orzessek
Am Erker 57, Münster, Juni 2009
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"Meine Figuren finden keinen Ort, zu dem sie
Ja sagen"
Arno Orzessek wurde 1966 in Osnabrück geboren und wuchs dort in einer pietistisch geprägten Familie auf. Nach dem 1995 abgeschlossenen Studium der Literaturwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte in Köln arbeitete er als Journalist unter anderem für die Süddeutsche Zeitung sowie für Deutschlandradio Kultur und Deutschlandfunk. Sein erster Roman Schattauers Tochter erschien 2005 zunächst im Verlag Rogner & Bernhard exklusiv für Zweitausendeins und dann 2007 im Steidl Verlag. Im März 2008 folgte der Roman Drei Schritte von der Herrlichkeit, wiederum bei Steidl.
: Debütromane
sind häufig stark autobiografisch geprägt. Ist Eduard
- der junge Mann in Schattauers Tochter, den es aus einem
einfachen Arbeiterhaushalt in eine anspruchsvolle Geistes- und
Genusswelt zieht - ein Selbstporträt des Autors Orzessek?
: In Schattauers Tochter
verteile ich biografische Aspekte auf verschiedene Figuren. Eduard
hat zwar mehr oder weniger meine Lebensdaten, die Falten meines
Bewusstseins aber habe ich Marie Schattauer geschenkt, einer Figur,
die hauptsächlich in den dreißiger Jahren beschrieben
wird in Masuren, einer Gegend, in der ich nicht gewohnt und die
ich erst besucht habe, als der Roman fertig war. Die Sicherheit
dazu hatte ich, da ich mich in einem Bewusstsein, wie ich es Marie
unterstelle, auszukennen glaubte, einem Bewusstsein, das zunächst
mehr durch Pietismus als durch Weiblichkeit gekennzeichnet ist.
Denn das Originellste an meiner Biografie, würde ich jetzt
mit zweiundvierzig Jahren sagen, ist die elementare Erfahrung
des Pietismus, die nahezu allem vorausging. Ich habe mich in Eduard
nicht porträtiert, wenngleich ich ihm ein paar Züge
geliehen und einige meiner Erlebnisse untergejubelt habe, während
ich Maries Leben erfinden musste, mich dabei aber in Bewusstseinslagen
bewegte, von denen ich glaubte, dass sie mir vertraut genug sind,
um daraus Literatur zu machen.
: Pietismus als erste zentrale
Erfahrung - bedeutet das, sich als Kind in der Gemeinde aufgehoben
und geborgen und Gott nah zu fühlen?
Ich habe mich bezeichnender-
und für mich nach wie vor unerklärlicherweise nie zugehörig
gefühlt. Zu meinen ersten Bewusstseinserfahrungen gehört
das Wissen, kein Pietist, also auch kein Kind Gottes zu sein.
Zu den ersten Dingen, an die ich mich recht sicher erinnere, gehört
das Gefühl von Differenz, das Gefühl, am falschen Platz
geboren zu sein. Ich habe mich eigentlich nicht von Gott abgewendet
- um christliche Terminologie zu benutzen - , da ich mich ihm
nie zugehörig fühlte. Was meine Figuren angeht, sieht
es etwas anders aus. Zunächst ist da die entscheidende Erfahrung
einer strikten Grenze, Schwarz und Weiß, Gut und Böse
- die mosaische Unterscheidung. Man wird entweder gerettet oder
fällt der Verdammnis anheim, es gibt sonst keine Option,
zumal im Pietismus nicht. Es geht ums gottgefällige Absolvieren
der Laufbahn durchs irdische Tränental, um dadurch die ewige
Seligkeit zu erringen. Dieses Ziel dominiert alles. Du wirst es
schaffen, oder du wirst es nicht schaffen, du wirst verdammt werden
oder ins Himmlische Jerusalem eingehen.
Das habe ich dort, wo Max in Drei Schritte am Edersee aus
dem Freizeitheim abhaut und zu den beiden Mädchen geht, aufgegriffen.
Max hat ein durchschnittliches pietistisches Kindergewissen und
so etwas wie Sündenbewusstsein, obwohl er keinen echten Glauben
hat. Auch als er sich auf der DDR-Hochzeit von 1977 zum ersten
Mal seine Cousine voller Begehren anguckt, spürt er, dass
das strafbewehrt ist, was er tut. Lust ist strafbewehrt, Begehren
ist strafbewehrt, das alles ist strafbewehrt, der größte
Widerpart bleibt die Sinnlichkeit. Sie ist eine unglaubliche Herausforderung
für Pietisten, und die mangelnde Umgangsfähigkeit damit
ist krass. Und Max erlebt und spürt das. Max sündigt
wissend und kommt in der Szene am Edersee tatsächlich in
den Genuss, die ganze erregende Schuldbewehrtheit zu spüren,
die das Sündigen hat. Eine Stelle dort ist kursiv gedruckt,
O so sanft, süß, sanft! - ein Zitat aus dem
Ulysses, in dem es um ähnliche Probleme geht. Joyce
hat vor allem im Porträt des Künstlers als junger
Mann genau über diese Dinge in einer verwandten, wenn
auch katholischen Welt gesprochen. Und in der Edersee-Szene spiele
ich das ein wenig ein.
Zitieren wir mal: "Über
den Pietisten als jungen Triebmenschen lässt sich sagen,
dass das höchste Begehren [...] ihn packt, solange er
seine Lust noch als Sünde empfindet. Er erlebt absolutes
Begehren (nur), solange er mit jedem Nerv glaubt, dass er bei
Strafe der Verdammnis nicht darf, was er ums Leben gern will.
Es gibt in der Pubertät ein lustvoll-qualvolles Zwischenreich,
in dem die religiöse Zensur noch intakt ist und die phallische
Wollust gleichzeitig das schärfste Niveau erreicht, auch
darum, weil der Pietist als junger Triebmensch nicht weiß,
was ihn wirklich erwartet, so dass er etwas Überwirkliches
erwartet. [...] Der Wunsch lautet: Volles Sündenbewusstsein
bei wildester Freizügigkeit, Quickies mit Gott -, oder wenigstens
Vögeln mit fünfzehnjährigen Saalgängerinnen,
denen Schuldmythen die Schenkel zusammenpressen', wie es Max formulierte"
(S. 321f) - ein wuchtiger, aber auch etwas erratischer Text.
Viel öfter als
in Schattauers Tochter gibt es in Drei Schritte
diese essayistischen Einsprengsel. Auch Max' Reden sind ja aus
der Realität herausgenommene Ansprachen, die nicht auf schlichten
Realismus abzielen. Was Sie zitierten, wollte ich abstrakt sagen,
anstatt es Max in einem inneren Monolog zu unterstellen. Ich wollte
einen Punkt machen und habe den Erzähler darum sagen lassen:
Betrachten wir das mal theoretisch. Danach steige ich wieder ins
Erzählen ein. Außerdem ist die Stelle schon recht spät
im Buch, und ich fand, ich müsste mit dem Pietismus endlich
fertig werden, sozusagen durch ein gültiges Resümee.
Mein Gefühl sagt mir, dass mein nächstes Buch dieses
Thema allenfalls noch am Rande behandelt.
Nun handelt es sich auch
um einen sehr rhetorischen Textauszug - man könnte ihn von
der Kanzel lesen, von einer antipietistischen Kanzel allerdings.
Ich fürchte, das
meiste, was ich schreibe, kann man von der Kanzel lesen. Einmal
Pietist, immer Pietist - auch das ist in meinen Büchern ja
ausgedrückt, heißt aber natürlich nicht, dass
man die Inhalte teilt. Ich habe mich allerdings dringend im Verdacht,
dass ich bestimmte Formen nie werde abschütteln können.
Und dazu kommt noch ein Gedanke von Max, der in Drei Schritte
sagt, es komme nicht darauf an, ob man dafür oder dagegen
sei. Die Frage sei vielmehr: Welche Gegensätze treiben dich
um oder halten dich gefangen oder machen dich aus? Über diese
Grundkonfiguration kommt er lange nicht hinaus. Ich skizziere
ihn als einen, der vor allem aus dem Gegensatz lebt. Der mit dem
Geld des Vaters an der Straße, auf der die Pietisten nach
Bielefeld zum Betsaal fahren, das frivole Fitnessstudio Master
Koriath aufbaut, einen Laden, in dem der Pietismus die Sitten
nicht bestimmt, gelinde gesagt, und der mit seinen Schicksen rummacht
unter dem Gesetz der Treue, aber eben als Gesetzesbrecher. Überall
ist diese Gegensätzlichkeit, von der Max erst spät begreift,
dass er durch sie bestimmt wird. Die Neigung meiner Figuren und
zumal von Max, aufzustehen und das Wort zu ergreifen, entspricht
natürlich dem Predigergestus. Und den hat Max eindeutig von
seinem Vater, dem Prediger Ernst Koriath. Als der in die Charité
stürmt und - wir schreiben September 2000 - ganz seltsame,
ferne, altertümliche Dinge sagt, sehe ich mich genötigt,
seine Lebensgeschichte einzuspielen, um ein wenig zu erklären,
warum er so ausrastet.
Das Wortzentrierte - 'allein das Wort', wie die Pietisten sagen;
der Logozentrismus, wie es die Geisteswissenschaftler mit oder
ohne Derrida formulieren -, diese Wortbezogenheit als ein formales
Element, das ich von moralischen Inhalten unterscheiden möchte,
kann ich wohl nicht abschütteln. Meine beiden Romane sind
unter diesem Gesichtspunkt negativ besprochen worden. Kritisiert
wurde der ständige Drang, etwas rhetorisch zum Funkeln zu
bringen oder stark zu sagen wenigstens oder jedenfalls sich überhaupt
auf diese Dinge zu konzentrieren und keinen Satz, der sich noch
verbessern lässt, aus dieser Übung zu entlassen, bis
es geschafft ist. Einigen Kritikern gefällt das, ohne dass
sie vielleicht an jeder Stelle zustimmen. Andere aber nervt es.
Die wollen, dass in den Sätzen eine bestimmte, heute gebräuchliche
Normalform kaum je aufgebrochen wird. Das aber erlaube ich mir
praktisch jederzeit. Da ich mir meine Texte stets auch laut vorlese,
gönne ich mir jedes Mal, wenn mir etwas auffällt, die
entsprechende Nachbesserung. Wenn ich einen rhetorischen Einfall
habe, soll er zu seinem Recht kommen. Und immer so weiter. Bei
allen Einfällen.
Auch die pietistische Predigt
ist ja ein rhetorischer Akt ...
... ein rhetorischer
Akt sondergleichen, wenn sie gut gemacht ist. Das versuche ich
an Ernst Koriath zu zeigen. Er stellt sich hin, und die Zuhörer
bekommen eine Gänsehaut - als würde man als musikalischer
Mensch mit, sagen wir, fünfundzwanzig Jahren die Matthäus-Passion
zum ersten Mal hören und sich fragen: Was habe ich eigentlich
bis jetzt gehört? Das ist Musik! Meine Manier hat viel Pathos,
viel rhetorische Wucht und damit immer ein Element des Übertriebenen,
was ich in der Charité-Szene auch karikiere. Das Rhetorische
also prägt mich nach wie vor. Ob das anders wäre, wenn
ich einen anderen Hintergrund hätte? Durch meinen Vater sind
die großen Worte der Luther-Übersetzung des Alten und
Neuen Testaments auf mich gekommen. Sie haben epische Qualität,
die Sätze sitzen - und zwar perfekt! 'Am Anfang schuf Gott
Himmel und Erde' - an diesem Satz gibt es wirklich nicht mehr
viel zu feilen. Was ich sagen will: Es gibt einen Wortstrom, in
dem sich die Pietisten baden, auch in ihren Liedern übrigens,
und ich habe zwar den Wortstrom gewechselt, bade aber immer noch.
Gerade an den besonders geglückten
Stellen greifen Sie gern auf biblische Metaphern und Gleichnisse
zurück, die Sie dem Kontext Ihrer Romane entsprechend umwidmen.
Ein Freund von mir hat ebenfalls eine pietistische Sozialisation
durchlaufen und als Kind und Jugendlicher die Bibel dreimal gelesen
in diesen Bibelstunden, vor denen kein Entkommen war. Das hat
ihn tief geprägt, auch seine Lektüreinteressen, seine
Art, die Dinge wahrzunehmen und sich auszudrücken - er kommt
auch in rein weltlichen Kontexten immer wieder unwillkürlich
auf biblische Metaphern und Gleichnisse zurück. Ich glaube,
dass das auch bei Ihnen so ist, gerade dort, wo es besonders stark
wird. Die Bibel ist also sehr präsent, nicht nur das Predigerpathos.
Natürlich. Zu den
Kulturgütern, die man vom Pietismus vererbt bekommt, gehören
die Musik und die Übersetzung der Bibel "von unserem
Reformator Doktor Martin Luther", wie mein Vater sagen würde.
Bei der Musik begegnen einem wahre Perlen, die Orgelmusik, die
Harmonium-Musik, bisweilen die Musik der Bläserchöre
und gemischten Chöre: Das sind Dinge, die man - auch nachdem
man sich weit entfernt hat und durch viele Abschiede gegangen
ist - als guten Stoff erinnert.
Für mich heißt Rhetorik, dass Geist sinnlich wird,
was ja das Wesen der Rhetorik ist. Das klappt besonders gut, wenn
großartige und unfassbare Zusammenhänge ausgedrückt
werden. 'Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und
Gott war das Wort' - das sind doch ziemlich komplizierte Dinge,
aber die werden mal kurz und knapp und unverbesserlich gesagt
und damit greifbar oder wenigstens rezipierbar. Zu ersinnen, was
damit gemeint ist, hat Bibliotheken gefüllt, aber das ist
eine andere Frage. Die Bewunderung dafür, dass es dieses
Medium gibt - auch die Medialität in dem Augenblick, in dem
die Dinge ausgesprochen werden -, beschäftigt mich in beiden
Büchern. In Schattauers Tochter gibt Gustav Eckstein
nicht umsonst Rhetorikunterricht und liest Kierkegaard, der genau
in diese Reihe der Wortfürchtigen gehört, und ich unterstelle,
dass den jungen Leuten der Schauer über den Rücken läuft,
wenn er ihnen aus Kierkegaards Das Tagebuch des Verführers
vorliest. Eckstein ist bekifft von Kierkegaard, weil der seine
Verführergeschichte tatsächlich unter dem Eindruck des
Evangeliums geschrieben hat.
Übrigens, auch wenn der Pietismus heute den meisten als ein
randständiges Phänomen erscheint: Die internationale
Pietismus-Forschung ist gewaltig, und niemand würde mit Blick
auf die deutsche Kulturgeschichte der letzten vierhundert Jahre
Zweifel daran haben, wie wichtig der Pietismus ist. Er taucht
nur heute im Alltag von neunzig bis fünfundneunzig Prozent
der Leute gar nicht auf - so kommt diese Randständigkeit
zustande.
Als die Tanskis-West in Drei
Schritte die Tanskis-Ost besuchen, sind vernagelte Leute aus
dem freien Westen, die sich in ihrer Wagenburg eingeigelt haben,
zu Gast in einer Diktatur, in der freizügige Verhältnisse,
zumindest auf der Ebene des Dorfs, herrschen - Sie stellen also
die Klischees und Vorurteile in mehrerer Hinsicht auf den Kopf,
und das hat auch komische Züge. Sie nehmen sich das Thema
des Ostens im Westen, des Westens im Osten vor und finden Formulierungen
wie die, Friedrich Tanski stehe "mit der freien Welt nicht
auf du und du"; dann heißt es, die Tanskis-West "lebten
am Kalkhügel von Autosuggestionen"; später ist
von Friedrich Tanskis "dämlichem Westfimmel" die
Rede, davon, er ignoriere "in seiner Verbohrtheit [...],
dass er es im goldenen Westen zu nichts gebracht hat".
Das denkt Christa Tanski
...
... und das sind harte
Worte. Steckt da ein autobiografisches Element dahinter - oder
ein literarisches? Ich denke an Hans Pleschinskis Ostsucht,
wo eine ähnliche Konstellation beschrieben wird. Das Buch
erschien 1993, noch zur Spätzeit der Wendeeuphorie. Der Held
kommt aus einer spießigen Kleinstadt am Rand der Lüneburger
Heide, und es zieht ihn zu den musischen Verwandten im Osten,
in den Bezirk Dresden, auch in eine LPG, wo der Onkel, ein Tierarzt,
einen bürgerlichen Haushalt führt und als Experte respektiert
wird.
Dieses Buch kannte ich
nicht. Ich wusste bei Drei Schritte erst nicht genau, was
ich schreiben wollte. Dann bin ich auf Yvonne und Max gekommen,
die wohl beide nicht ganz typisch sind, sie nicht für eine
Frau aus der DDR, er nicht für einen Wessi. Damit hatte ich
eine Konstellation, die auf eine spezielle Ost-West-Geschichte
hinauslief. Ich habe im Weiteren auf autobiografische Horizonte
zurückgegriffen, von denen ich glaubte, sie zu Literatur
machen zu können. So war mir bald klar, dass auch das zweite
Kapitel, Pauls Kindheit, etwas damit zu tun haben würde,
zumal ich - das ist sozusagen die autobiografische Eizelle, aber
die ist winzig - mehrmals in dieser Zeit, in den siebziger Jahren,
in der DDR gewesen bin. Ich habe auch, was Berührungen durch
Cousinen angeht, erotische Erinnerungen, die mir aber erst spät
wieder eingefallen sind. Alles andere ist völlig unbiografisch.
Als ich die Idee hatte, Paul als intelligenten Elfjährigen
auf DDR-Reise zu schicken, da hatte ich das Gefühl: Das ist
eine Perspektive, aus der du als West-Autor etwas Interessantes
über die DDR erzählen kannst. Eine Perspektive reinen
Bescheidwissens - nach der Parole: so und so war der Sozialismus
- erschien mir nicht attraktiv.
Und es gab im Westen ja tatsächlich Leute, die dort standen,
wo Paul und seine Eltern stehen, und es gab definitiv im Osten
Leute, die in einer vergleichsweise freiheitlichen Konstellation
gelebt haben. All das lässt sich in meiner Erzählkonstruktion
rüberbringen, und es ist interessant, weil ich es als West-Autor
erzählen kann - im Gegensatz zu einem Original-Ton über
die DDR, den ich nicht imitieren könnte, weil ich dort nicht
herkomme. Ich war drei- oder viermal in der DDR, als es sie noch
gab, und bin ab 1990 mehrfach in die neuen Bundesländer gereist,
habe aber die Wende - weil ich in Köln lebte - als nicht
so dramatisch wahrgenommen, wie sie uns heute vorkommt. Wir waren
als Kölner Studenten mehr nach Frankreich orientiert. Trotzdem
habe ich dann meine Touren gemacht und in den neuen Ländern
recht früh einiges gesehen, von Sachsen-Anhalt bis Rügen.
Ich habe mich aber erst im Zusammenhang mit Drei Schritte
in der DDR-Historie schlau gemacht, um die Elemente zu fixieren,
aus denen ich meine Geschichte bauen könnte.
Und mit Paul hatten Sie die
Perspektive gefunden?
Genau. Die Verschiebung,
die darin liegt, dass die Leute aus dem Westen aus der Enge kommen
und im Osten Liberalität, Bildung, Freizügigkeit, Spaß,
selbst Konsumismus in bescheidenem Rahmen erleben, ist zum einen
eine rein erzählerische Entscheidung, hat sich aber auch
latent autobiografisch ergeben. Bei meinem ersten DDR-Besuch -
das war die eher gute Zeit, die frühen Honecker-Jahre - ist
es den Leuten dort wahrscheinlich besser gegangen als meinen Eltern,
die Spätaussiedler sind. Mein Vater ist 1962 in den Westen
gekommen, meine Mutter 1958. Sie hatten sich schon vorher versprochen
und haben dann im Westen geheiratet. Solche Masuren wollen dann
schnell ein Häuschen bauen, und da blieb in den ersten zehn,
fünfzehn Jahren kein Pfennig übrig. Dagegen hatte, wer
1945 oder 1949 in der DDR Neubauernhäuser bekommen und später
Anschluss an die LPGs gefunden hat, einen durchschnittlichen DDR-Wohlstand,
der zu diesem Zeitpunkt die größte Solidität erreichte.
Es ist später materiell sicher nicht schlechter geworden
in der DDR, nur der Abstand zum Westen hat sich vergrößert.
Insofern habe ich die Tanskis in der DDR auf ein recht hohes Niveau
gesetzt, das aber noch realistisch sein dürfte. Und was ich
über die armen Tanskis-West schreibe, ist verbürgt.
So kommt eine Verschiebung zustande, die nicht nur Konzept, sondern
auch Beobachtung sozialer Wirklichkeit ist.
In Ihren Romanen sind die
Ich-Erzähler seltsam unscharf gezeichnete, randständige,
nahezu unsichtbare Figuren. Man scheint als Leser an die Stelle
dieser schattenhaften Erzähler zu treten, die nah an der
Geschichte sind, als Zuschauer aber nicht eingreifen. Diese erleichterte
Identifikation mit dem Erzähler ist ziemlich raffiniert,
auch wenn sie vielleicht nicht beabsichtigt war. Ich habe mich
jedenfalls beim Lesen als dieser schemenhafte Dritte gefühlt.
Was hat es mit diesen Figuren auf sich?
Ich wüsste selbst
gern, was ich da gemacht habe. Ich habe banalerweise nach einer
Instanz gesucht, die es mir ermöglichte zu erzählen,
was ich erzählen wollte. Dass ich den Stoff zweimal einem
gebrochenen Ich-Erzähler, der aber fast auktoriales Wissen
hat, untergejubelt habe, hängt einfach damit zusammen, dass
es so funktionierte. Diese Instanz, die von vielen Kritikern verdammt
wurde, an der es aber hoffentlich noch etwas Interessantes zu
entdecken gibt - an dieser komischen Medialität, die da entsteht
-, war zuerst rein pragmatisch: So konnte ich's plötzlich
in die Tastatur tippen. Ich empfinde meinen Erzähler als
eine Art Joker, der mir aus der narrativen Klemme geholfen hat.
Ihre Romane wirken sehr authentisch,
und so sind wir mitunter der Versuchung erlegen, Sie mit Ihren
Figuren zu identifizieren, was vielleicht nicht so sehr gegen
uns als für Ihre Bücher spricht. Dass Sie mit großem
Atem und ganz unweinerlich berührende Geschichten erzählen
- woher nehmen Sie das? Aus diesem Lutherischen "Hier stehe
ich, ich kann nicht anders"? Sie schreiben vielleicht nicht
exhibitionistisch, scheinen aber Schamgrenzen, die andere Autoren
verinnerlicht haben, nicht zu kennen oder doch zu sagen: Die sind
mir egal, da schreibe ich jetzt drüber.
Eigentlich will ich
nicht unmittelbar von mir erzählen. Ich will schon von Problemen
handeln, die mich angehen, aber ich verfüge über keinen
Substanzkern, den ich botschaftsartig in die Welt verbreiten will,
sondern bin ein Anhänger der Vorläufigkeit. Auch Max
findet Vorläufigkeit toll. Warum sich irgendwo festsetzen?
Warum bürgerlich werden? Warum eine Scholle unter die Füße
bekommen? Das sind Fragen, die ihn umtreiben. "Wir hatten
einen Anker in der Einsamkeit", heißt es im ersten
Kapitel von Drei Schritte. Die meisten meiner Figuren sind
und bleiben in Bewegung und haben nicht das Bedürfnis nach
Sesshaftigkeit.
Eduard in Schattauers
Tochter allerdings ...
... ist der Einzige,
dem ich dieses Bedürfnis zubillige. Allerdings kritisiere
ich ihn dann in seiner Behäbigkeit: Dass er eine Kleidergröße
um die andere zunimmt, sich von seiner Freundin aushalten lässt,
mit seiner Doktorarbeit nicht zurande kommt, aber natürlich
von allen in Köln wohlgelitten ist. 'Kölsche Jung'
und so. Das ist parodistisch, während alle anderen ihre Kraft
offenkundig aus der Bewegung schöpfen, und das hängt
mit zwei Motiven zusammen, die ich schon im ersten Buch qua Zitat
in den Text geschleust habe.
Welches Gedicht nämlich liest Eduard im zweiten Kapitel,
als er von Eckstein in die höheren Kategorien des Geistes
eingeführt wird? "Die Krähen schrein / und ziehen
schwirren Flugs zur Stadt: / Bald wird es schnein - / Wohl dem,
der jetzt noch Heimat hat." Das ist Nietzsche, "Vereinsamt".
"Nun stehst du bleich, / zur Winter-Wanderschaft verflucht"
- das ist fast unerträglich pathetisch, es ist damit aber
etwas gemeint, was vielleicht sogar noch mehr für andere
Figuren, vielleicht am meisten für Marie Schattauer gilt.
"Zur Winter-Wanderschaft verflucht", heißt übersetzt,
dass diese Figuren keinen Ort finden, zu dem sie Ja sagen. Das
scheint keinem zu gelingen. Und wenn es Paul und Yvonne in Drei
Schritte doch gelingt, bekommt das seltsame Züge, denn
die beiden steigen in ein neoliberales Kollwitz-Platz-Leben um,
das etwas Schräges hat.
Und das zweite Zitat?
... stammt aus Clausewitz'
Vom Kriege. Als in Osnabrück die Nachricht eintrifft,
Hermann Eckstein sei auf dem Feldzug gegen die Sowjetunion verschollen,
macht sein Vater sich Gedanken darüber, wohin der Krieg führen
wird und welche Chancen noch auf einen deutschen Sieg bestehen.
Dann folgt das Zitat: "Die meisten Angriffe führen nur
bis zu einem Punkt, wo die Kräfte noch eben hinreichen, sich
in der Verteidigung zu halten und den Frieden abzuwarten. Jenseits
dieses Punktes liegt der Umschwung, der Rückschlag; die Gewalt
eines solchen Rückschlags ist gewöhnlich viel größer,
als die Kraft des Stoßes war. Dies nennen wir den Kulminationspunkt
des Krieges."
Dieses Bild ist ein Grundmuster, das man vom Krieg abstrahieren
kann: eine Bewegung, die stark beginnt, dann schwächer wird
und nur bis zu einem gewissen Punkt führt, dabei aber die
Entfaltungskraft restlos verbraucht und deshalb beim Einwirken
der Gegenkraft zurückgerissen wird. Die Angreifer werden
zurückgeworfen und landen an einem Ort, wo sie sich nicht
auskennen. Diese Bewegung kann man auf die mentale Verfassung
und biografischen Bedingungen vieler meiner Leute übertragen,
denn auch sie haben anfangs fast unendliche Kraft. Gerade Eduard.
Er wirft mit Nietzsche-Zitaten um sich, rückt den Frauen
auf den Pelz, macht Gustav Eckstein im Unterricht an. Natürlich,
er hat auch niederschmetternde Erlebnisse wie beim Kurstreffen,
wo man ihm sagt: 'Tja, mit drei Wochen Lektüre ist man doch
noch nicht ganz oben angelangt'. Aber er ist unterwegs zur "Spitze
der menschlichen Pyramide", wie es heißt. Und Eduards
Kulminationspunkt ist in Köln erreicht. Als er dort ankommt
und die Universität sieht, kann er noch mitspielen - das
kann er wirklich, er, das kleine Arbeiterkind -, und er erobert
tatsächlich Esther Naumann, die einiges für sich hat,
unter anderem das Haus der Eltern in Rodenkirchen und den tollen
Job beim WDR. Danach aber kugelt er wieder von der Spitze der
menschlichen Pyramide. Das geht vielen meiner Figuren so.
Gibt es dazu vielleicht eine
autobiografische Entsprechung?
Auch ich habe eine Absetzbewegung
gemacht. Ich habe lange für die SZ geschrieben, was ich nicht
mehr tue, weil es ruinös ist, gegen Zeilengeld Feuilletons
zu verfassen, habe für die FAZ, das Deutschlandradio, den
Deutschlandfunk gearbeitet. Dafür, dass es bei uns zuhause
keine weltlichen Bücher gab, habe ich eine recht passable
Karriere gemacht. Die habe ich dann unter- oder abgebrochen, indem
ich Schattauers Tochter geschrieben hab. Anschließend
habe ich einen zweiten Roman zu Papier gebracht, der noch weniger
verkauft wurde und als schwieriger, komplexer gilt. Darüber
ging die weitere journalistische Karriere flöten. Doch das
sind vielleicht Äußerlichkeiten. Es gibt aber etwas
Bewusstseinsmäßiges, das auch mit einem Kulminationspunkt
zu tun hat, wenn ich mir überlege, was ich aus meiner Biografie
als möglichen Lebensentwurf ausradiert habe. Ich habe nie
mit einer Frau zusammengewohnt, habe keine Kinder und auch kein
Begehren, mich zu reproduzieren. Ich habe in der bürgerlichen
Welt recht viele Freunde, fühle mich jedoch nicht veranlasst,
ihnen nachzustreben, und stelle fest, dass ich eigentlich jederzeit
das Nietzsche-Gedicht aufsagen könnte - "zur Winter-Wanderschaft
verflucht" - und gelegentlich nihilistische Gedanken verspüre.
Nun, in einem anderen Sinne, als die FDP es definiert, bin ich
ein liberaler Mensch, lebe hier im angeblich wüsten Neukölln
ganz vergnügt, bin nicht auf den xenophoben Prenzlauer Berg
gezogen. Das sind immerhin ein paar Werte, die ich angeben kann,
aber wenn ich jetzt gucke, wo ich hergekommen bin, was dort galt
und wie strikt es dort galt, kann ich eigentlich nicht sagen,
ich hätte ein alternatives Werteset entwickelt.
Ich habe festgestellt, dass der ganze Prozess recht unkontrolliert
abgelaufen ist, betrachte das aber nicht tränenden Auges,
sondern eher mit kalt erregter Vernunft: Das alles ist weg! Mit
dreißig hat man mir noch gesagt, das gehe vorüber,
ich bekäme schon noch, frei nach Hegel, mein Haus und mein
Weib. Heute glauben die Leute das nicht mehr, weil auch ich es
nicht mehr glaube, nicht im Geringsten. Das begreife ich als Konsequenz
einer Bewegung, die, was moralische Wertigkeiten angeht, ihren
Kulminationspunkt erreichte, während ich mich erfolgreich
gegen Herkunftszwänge gewehrt habe, die mich festhalten und
nicht loslassen wollten.
Diesem Feind sind Sie glücklich
entkommen ...
Ja, glücklich oder
nicht, und ich liebe nunmehr die Vorläufigkeit. Ich habe
in meinem Leben noch keinen Chef gehabt, ich habe keinen strukturierten
Alltag. Natürlich bin ich pünktlich, wenn ich Sachen
verabrede. Ich verdiene mein Geld beim Radio, und dort geht keiner
davon aus, dass ich je einen Auftrag vergeige, weil ich immer
sehr solide arbeite - nur eben absolut punktuell. Ich verabrede
etwas am Telefon, und dann bin ich im Sender und gleich wieder
weg. Wenn ich morgens um dreizehn Uhr am Kiosk vorbeigehe, um
mir eine Zeitung zu kaufen und mich ins Café zu setzen,
kann es sein, dass ich das Bett noch nicht lange verlassen habe.
Vielleicht habe ich aber schon fünf Stunden im Bett gelesen,
um ein Buch zu besprechen, oder seit drei Uhr morgens am Schreibtisch
gesessen - mein Tagesablauf ist also völlig ungeordnet, und
ich kann mir auch künftig nichts anderes vorstellen. So gibt
es viele Elemente, die sich aufzählen ließen. Der Kulminationspunkt
ist überschritten, die Gegenbewegung läuft irgendwohin,
das Leben zerstreut sich irgendwie in der Weite.
Vorläufigkeit kann indessen viel Energie geben. Zu wissen,
dass man nichts genau weiß - insbesondere, was die eigenen
Verhältnisse anlangt -, ist für Leute, die nach Sicherheit
streben, natürlich furchtbar. Hätte ich aber nach Sicherheit
gestrebt, hätte ich Drei Schritte nicht geschrieben.
Mein Lektor hat mich damals mit einem Kredit unterstützen
müssen, weil ich pleite war, das Buch aber schon im Katalog
stand. Ich war überhaupt noch nicht fertig damit und musste
achtzehn Stunden täglich rackern, um es zu Ende zu schreiben.
Ich bin sehr verwundert, dass das funktioniert hat. Ich habe diesen
Roman in meiner größten intellektuellen, finanziellen,
sozialen, geistigen, mentalen Depression beendet - und nur abgefedert
durch einen Privatkredit. Ich habe mich in recht hohem Alter darauf
eingelassen, dass der Gerichtsvollzieher auftaucht. Und mir war
klar, dass er kommt - bei Schattauers Tochter kam er tatsächlich
-, zumal ich die Post nicht mehr geöffnet habe. Beim Schreiben
von Drei Schritte waren meine Verhältnisse irgendwann
so bescheiden, dass es das Schönste war, durch den Bildschirm
in die Welt zu steigen, in der man selbst Gott und Schöpfer
ist - wenn man im Rücken nur verbrannte Erde hat, ist das
herrlich. Wenn aber eigentlich alles am Laufen ist, ist der Übertritt
schwieriger. Gegenwärtig arbeite ich recht viel beim Radio,
weil ich keine Lust habe, mich gleich wieder auf die finanzielle
Depression des Künstlers einzulassen.
Für den Kulminationspunkt
muss man nicht auf Clausewitz zurückgreifen - der steckt
auch im Alten und Neuen Testament, die Gegenstoßkraft, die
Wandlung vom Saulus zum Paulus ...
Ja, bestimmt. Einen
anderen Umschlagpunkt erlebt Max in Drei Schritte mit Marle,
als er noch unter den Pietisten lebt. Marle ist die Frau, die
aus der Welt zu ihm kommt und nach ihm fragt, und er denkt: Wenn
sie das tut, könnten auch alle anderen Frauen nach mir fragen.
Es ist, als würde er in Koffein gebadet oder mit Drogen abgefüllt,
die ihn stark machen. Natürlich wird das eine traurige Geschichte,
weil Marle für ihn nur Emanzipationsvehikel ist, aber das
ist der Augenblick, in dem er plötzlich die Anerkennung bekommt,
nach der er sich sehnt: die Anerkennung der Welt. Die ganzen Gärungen,
während er in der Schule ein verklemmter pietistischer Outsider
ist, seine gesamten Hoffnungen haben plötzlich einen Anker
in der Welt. Dass das unmittelbar zur Zerstörung der Beziehung
führt, das ist der Preis für den Sprung.
Auch Eduard in Schattauers Tochter erfährt durch Gustav
Eckstein maximale Beschleunigung. Bei ihm und bei Max ist die
Emanzipation nicht aus ihnen selbst geboren. Zwar nimmt Eduard
sich vor, an die Spitze der menschlichen Pyramide zu steigen,
aber wie kommt er da rauf? Wesentlich durch Eckstein. Und von
Max heißt es, es habe ihm nicht freigestanden, ein ausgeglichener
Mensch mit überschaubaren, verständlichen, konventionellen
Zielen zu werden. Denn sein weiterer Weg begann mit einem eklatanten
Bruch, Paulus-Saulus. Ich dachte dabei an Kierkegaard, an den
Sprung in den Glauben oder - wie hier - den Sprung aus dem Glauben.
Man kann sich verstandesmäßig nicht zu diesen Dingen
stellen, sondern muss springen, und Springen ist die Fortbewegungsart
meiner Figuren, insbesondere von Max. In bestimmten Augenblicken
wandelt sich alles durch das Auftauchen eines Menschen, einer
Inspiration - durch Eckstein zum Beispiel, der den Leuten Philosophie,
Rhetorik, Sexualität, Erotik einflößt. Dann wandeln
sich die Verhältnisse abrupt und sehr viel schneller als
vielleicht in Goethes Wahlverwandtschaften oder einem Roman
von Fontane, wo das Erodieren bestimmter Verhältnisse in
winzigen Elementen beschrieben wird. Meine Leute sind anders drauf.
Sprung ist ihre Fortbewegung.
Sie neigen zu grellen Effekten
- Maries schauerromantisches Dasein unterm Dach ist dafür
ein Beispiel. Vieles davon kann einem auch in Reißern begegnen,
überhaupt in Genreliteratur. Das wiederum mag mit Ihrer Bibelsozialisation
zu tun haben. Die Bibel ist ja voll krasser Geschichten, die farbig
erzählt werden, es gibt handfeste erotische Szenen, es geht
brutal zu, es geht um Verrat und alle möglichen Abgründe
des Menschen. Und das bekommt, wer wie Sie als Kind mit Bibelstunden
traktiert wurde, in früher Jugend vermittelt. Das prägt
möglicherweise auch.
Wobei es bezeichnend
ist, wie stark sogar diese Elemente im Pietismus dem Diktat der
Sublimation unterliegen. Wenn ein Prediger einen Text aus dem
Alten Testament auslegen muss, wird alles in Frömmigkeitsrhetorik
übersetzt, bei der man nicht mehr so genau spürt, dass
es eigentlich um knackig-wüste Geschichten geht. So hab ich
es jedenfalls erlebt. Selbst das notorische Blut Jesu, das eigentlich
die Zentralmetapher der Pietisten ist, ist keine ernst zu nehmende
Flüssigkeit mehr - es sei denn, es trifft auf einen fantasiebegabten
Knaben wie Gustav Eckstein, der in den Fünfzigern mit Marie
nach Bad Oeynhausen zu den Pietisten fährt und zwei Predigertypen
unterscheidet: Psycholämmer und Blutsonntagsprediger. Ansonsten
haben diese Leute alles flach gepredigt und letztlich literarisch
verharmlost. Man denke auch an die Lieder!
Diese Leute haben an keiner Stelle bemerkt, dass viele pietistische
Lieder von recht obszönen Sexualhandlungen mit dem Lamm Gottes
berichten. Aber es ist unmöglich, das zu kommunizieren oder
auch nur die Andeutung eines Erkennens dieses Subtexts hervorzurufen.
Weil es um Jesus geht und das mit Körperlichkeit nichts zu
tun haben darf, ist es dort so, als gäbe es diese Dimension
nicht. Obwohl man manche Strophe eins zu eins unter einen schrägen
Porno legen könnte.
Ich weiß nicht verlässlich, ob es bei diesen Menschen
im Hintergrund nicht doch Platz für Sinnlichkeit gibt, aber
im Grunde glaube ich, dass sie rein sind. Sie haben sich so gepökelt
mit ihrer Heilslehre, dass da einfach nichts Falsches geblieben
ist. Da ist kein rohes Fleisch mehr. Das Abgründige und Doppeldeutige
teilt sich ihnen nicht mit - ist aber stets vorhanden, wenn man
ein Ohr dafür hat.
So geht es mir bis heute, wenn ich familiär unterwegs bin
und bestimmte Lieder gesungen werden. Dann denke ich: Mensch,
was öffnen sich hier für aufregende Horizonte, und wie
sehr besteht ihr darauf, dass das nur eine flache Anweisung zur
Buße ist! Aber es gibt immer auch Leute wie Ernst Koriath,
die den Frömmigkeitston so überziehen, dass ein heiliges
Heulen zu hören ist.
Sie haben einmal gesagt,
dass Sie siebentausend Stunden an Schattauers Tochter geschrieben
haben, sieben Jahre lang ...
Währenddessen habe
ich allerdings als Journalist gearbeitet. Deshalb hat es so lange
gedauert. Und weil ich zwar von Anfang an journalistisch schreiben
konnte, Prosa aber erst lernen musste. Ich habe jahrelang nur
daran gefummelt, etwas hinzukriegen, was mir auch am nächsten
Morgen, in der nächsten Woche und vielleicht noch einen Monat
später halbwegs plausibel zu sein schien. Die jetzige Form
meiner Texte entwickelte sich erst, als ich dem selbstverliebten
ästhetischen Silbenzirkus, den ich auf dem Blatt hatte, Daten
und Fakten injizierte und mir ganz einfache Fragen stellte: Wo
und wann spielt das genau? Wie heißt die Stadt, die Straße?
Was war sonst noch los? Da brach plötzlich vieles, was ich
geschrieben hatte, zusammen, wurde zugleich aber zugänglich
für neue Ebenen, für die vielen Fakten, die ich ausbreite,
so dass meine Romane historisch an vielen Stellen belastbar sind.
Hermann Ecksteins Geschichte in Russland beispielsweise ist authentisch,
ich kenne den Mann, der dort mit dem Fallschirm im Partisanengebiet
gelandet ist. Auch die Recherche habe ich allerdings, noch im
Vorfeld von Schattauers Tochter, zu weit getrieben und
irgendwann festgestellt, dass ich nur noch Prosafußnoten
zu Sachbüchern oder Quellen schrieb, nur noch bebilderte,
was ich als so genannte Realgeschichte ausgeforscht hatte. Und
das konnte es natürlich nicht sein. Ich schöpfe also
aus beiden Quellen, aus dem ästhetischen Umgang mit dem Imaginären
und aus der Härte der Recherche.
So sehr ich mich allerdings bemühe und so viele Fakten ich
in meinen Büchern unterbringe: Mir gelingt das Repräsentative
nicht. Andererseits: Will ich das eigentlich? Sind diese Kaskaden
von Fakten in meinen Büchern Ausdruck des Begehrens, so etwas
Repräsentatives zu schaffen, wie viele amerikanische Autoren
es können? "Er spricht wie du, mit amerikanischer Stimme,
und in seinen Augen liegt ein halbwegs hoffnungsfroher Schimmer"
- so beginnt Don DeLillos Unterwelt, wo er einen Jungen
beschreibt, der ins Baseballstadion unterwegs ist, und auf den
ersten neunzig Seiten die fünfziger Jahre wunderbar zeigt.
Ich schicke meine beiden Cousins zum dritten Cousin in die Charité,
und sie gucken auf den Reichstag, das Brandenburger Tor, auf Berlin
Mitte, auf das, was seit der Wende immer vor den Fernsehkameras
ist, und doch habe ich das Gefühl - vielleicht finden meine
Romane auch deshalb nur begrenzten Beifall -, dass es immer eine
Verschiebung weg vom Repräsentativen gibt. Wodurch meine
Bücher, positiv gesagt, literarisch interessant werden könnten,
weil man sich fragt, wie das gemacht ist. So oder so, ganz freiwillig
ist die Verschiebung nicht.
Bei Ihren Schauplätzen
zielen Sie ja längst nicht immer darauf ab, dass viele Leser
sie kennen. Ihre Romane sind oft an eher unberühmten Orten
angesiedelt. Osnabrück ist zwar der Inbegriff von Durchschnittlichkeit
...
... laut Umfrage
mit den glücklichsten Menschen Deutschlands, ha! - und einer
ganz passablen Innenstadt ...
... aber kein Ort, an
dem man unbedingt einen Roman ansiedelt, so wenig wie in Vöhl-Asel
am Edersee, wo immerhin eine Episode spielt. Und doch sind mir
diese Schauplätze vertraut.
Das empfinden seltsamerweise
viele so. Ich habe Anrufe von Leuten bekommen, die behaupteten,
von Schattauers Tochter alles zu kennen, und das auch belegen
konnten, von Leuten also, die vor zehn Jahren eine Mischung aus
meinem Leben und dem meiner Figuren gelebt haben. Die kannten
jede Straße, die wussten alles, auch in Masuren! Es ist
erstaunlich, dass gerade diese Leute dann auch Leser sind und
diese Bücher in die Hand kriegen. Die wurden schließlich
nur ein paar tausend Mal verkauft, es gibt also nur eine sehr
begrenzte Anzahl von Lesern. Und die müssen dann auch noch
die Kraft aufbringen, sich beim Autor zu melden für ein Gespräch,
aus dem nicht mehr als eine Beglückung von fünf oder
zehn Minuten hervorgeht. Das ist mir dankenswerterweise einige
Male passiert - so häufig, dass ich selbst erstaunt bin.
Im Übrigen steht das im Widerspruch zum Fehlen des Repräsentativen.
Keine Ahnung, was der letzte Nenner ist.
Auch der Name Schattauer
ist historisch verbürgt - Protestanten dieses Namens wurden
ihres Glaubens wegen 1731 aus dem Erzbistum Salzburg ausgewiesen
und in Masuren angesiedelt.
Den Namen Schattauer fand ich sofort wunderbar.
Auch wegen der schönen, von Walter Benjamin so geliebten
Vokale A und U, diesen dunklen, samtigen Vokalen - Pfauenauge
ist so ein Benjaminsches Wort. Und wegen des Schattens im Namen.
Später kam der Name in den Titel, weil ich andere Titel,
vor allem 'Falterasche', nicht durchsetzen konnte, obwohl
'Falterasche' der Grund ist, warum es dieses Buch gibt.
Um das kurz zu erläutern ... Wenn man zum ersten Mal sieht,
dass man - egal wie stümperhaft - eine oder zwei Seiten schreiben
kann, begreift man, dass dies den entscheidenden Unterschied macht.
Denn der Rest ist Arbeit, ist Transpiration. So wie ich nie komponieren
könnte, können andere keine Geschichte erzählen.
Das ist eine elementare Erkenntnis. Die erste jemals niedergeschriebene
Szene von Schattauers Tochter spielte übrigens vor
der Stadt, und ursprünglich traf Eduard nicht Esther, sondern
Eckstein. Der junge Rennradfahrer hat eine Panne und trifft einen
älteren Herrn - das hatte ich geschrieben, und das hingekriegt
zu haben, hat mich in Begeisterungsräusche versetzt, die
völlig unangemessen, aber umso stärker waren.
In dieser Stimmung habe ich auf dem Bett gelegen, Erinnerung,
sprich von Nabokov gelesen, bin darüber eingeschlafen,
von Hundegebell und Taubengurren aufgewacht und war in einer Stimmung,
bei der ernsthaft die Frage war, ob ich nach der Seite der Realität
aufgewacht war oder nach der des Imaginären. Und da kam mir
Falterasche in den Sinn. Damals glaubte ich noch, Nachtfalter
seien so schön wie andere Schmetterlinge, obwohl es recht
hässliche Tiere sind. Ich sah also den schönsten nächtlichen
Schmetterling vor mir, der über eine Kerze fliegt und verbrennt.
Die grauen Rückstände - das ist dann Falterasche. Und
das fand ich so maßlos großartig, dass ich dachte:
Wenn du diesen Begriff gefunden hast, kannst du auch ein Buch
dazu schreiben! Ich habe immer versucht, 'Falterasche'
in Schattauers Tochter unterzubringen, um der Ursprungsidee
wenigstens ein Denkmal zu setzen. Aber das hat nicht geklappt.
Es gab keine passende Stelle.
: Falterasche ist ein tief
melancholisches Wort ...
: ... und ich setze
seine Melancholie in Begriffe um, etwa wenn Eckstein in New York
auf der Brooklyn Bridge die Trauer des Abschieds in der Fülle
der Gegenwart empfindet. Es ist die Stunde, in der das natürliche
Licht sinkt und (weil es Millionen Lichter in Süd-Manhattan
gibt) das helle Kunstlicht auratisch sichtbar wird. Ich glaube,
er unterstellt, dass seine Frau es so gesagt hat - die Trauer
des Abschieds in der Fülle der Gegenwart -, und das ist für
mich gewissermaßen die erste begriffliche Auslegung von
Falterasche.
Nach meinem Empfinden greift dieser Ton über beide Bücher.
In der Fülle klingt eine bestimmte Wehmut mit. Es gibt vielleicht
in Drei Schritte am Anfang, als Max so protzig aufgebaut
wird, Momente, in denen dieses Wehmut-Element kaum da ist. Aber
wenn er auf der polnischen Seite am Oder-Deich sitzt, an Marle
denkt, Johnny Cash im Ohr hat und der Fluss fließt - einer
der vielen Flüsse, die durch meine Romane fließen -,
da habe ich das Gefühl, dass ich wieder bei meinem Grundton
bin. Und das Bild für diesen Grundton war eben ursprünglich
Falterasche. Ich war recht früh sicher, dass es bei aller
Fröhlichkeit und Lebenssucht, die sich in meinen Texten finden,
immer den Riss, den Bruch geben würde, dieses Dividiert-durch-eine-Dunkelheit.
Und das fand ich auch am Namen Schattauer so schön. Dividiert
durch eine Dunkelheit. |