Sven Regener
Am Erker 53, Münster, Mai 2007
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"Die Bundeswehr war der totale Schock"
Sven Regener, 1961 in Bremen geboren, ist Mitbegründer, Texter und Sänger der Band Element of Crime, die mit Alben wie Damals hinterm Mond und Weißes Papier große Popularität erlangte. 2001 erschien sein erster Roman Herr Lehmann, der mit über einer Million verkauften Exemplaren zu einem Bestseller wurde und seinen Autor zum Shooting Star der Literaturszene machte. Für sein Drehbuch zu der sehr erfolgreichen Verfilmung des Romans wurde Regener mit einer "Lola in Gold" beim Deutschen Filmpreis 2004 ausgezeichnet. Sein zweiter Roman Neue Vahr Süd widmet sich einem früheren Abschnitt in der Biografie seines tragikomischen Helden. Regener erzählt vom zwanzigjährigen Frank Lehmann, der Anfang der 80er Jahre seinen Wehrdienst bei den Pionieren im niedersächsischen Dörverden-Barme ableisten muss.
: In Ihrem ersten Roman Herr Lehmann begegnen wir einem kauzigen Typen kurz vor seinem dreißigsten Geburtstag, der in einer Berliner Kneipe Bier zapft. Neue Vahr Süd, Ihr zweites Buch, erzählt von eben jenem Frank Lehmann als Zwanzigjährigem. Was war der Grund, sich einem früheren Abschnitt in der Biografie Ihres Protagonisten zu widmen?
: Herr Lehmann ist mir ja praktisch zugelaufen. Zuerst war da nur eine Geschichte, die "Der Hund" hieß und später das erste Kapitel des Romans werden sollte. Den Text hatte ich für eine Freundin zum dreißigsten Geburtstag geschrieben. Das war 1991. 2000 habe ich dann mit dem Roman angefangen. Da lagen neun Jahre dazwischen, in denen ich Zeit hatte, darüber nachzudenken, was für ein Typ dieser Frank Lehmann eigentlich ist, wo er herkommt und warum er so denkt, wie er denkt. Ich finde es wichtig, dass auch fiktive Figuren eine Geschichte haben.
Damals hatte ich schon geplant, drei Romane über Frank Lehmann zu schreiben. Die ersten beiden sind erschienen, und am dritten sitze ich gerade. Warum ich praktisch hinten angefangen habe, erklärt sich ganz einfach: Das erste Kapitel war ja schon da. Da konnte ich am einfachsten weitermachen. Und, da bin ich ganz ehrlich, ich habe mir mit dieser Geschichte auch die besten Chancen auf dem Buchmarkt ausgerechnet. Denn ich war ja, trotz meiner Karriere als Musiker, ein literarischer Debütant. Einem Verlag Neue Vahr Süd anzubieten, also eine Geschichte über einen, der zur Bundeswehr geht, wäre sicherlich schwieriger gewesen.
Den Kontakt hat übrigens eine Freundin hergestellt, die Beziehungen zur Literaturszene hat. Ich habe mir dann einen Vertrag und einen Vorschuss geben lassen, bevor ich anfing, Herr Lehmann zu schreiben. Das war für mich besser, denn so stand ich unter dem Druck, an dem Roman zu arbeiten, ohne mich von anderen Dingen ablenken zu lassen.
: In der Exposition von Neue Vahr Süd geht es darum, dass Frank Lehmann zur Bundeswehr eingezogen wird, weil er es, wie er auch selber sagt, schlichtweg "verpennt" hat, den Kriegsdienst zu verweigern. Ist diese mangelnde Antriebskraft ein besonderes Kennzeichen dieser Generation der damals Zwanzigjährigen?
: Ich halte nichts von diesem Generationsbegriff. Frank Lehmann ist schon ein individueller Typ. Ich glaube auch nicht, dass er es einfach nur nicht geschafft hat, seinen Freund zu fragen, wie man das denn so anstellt mit der Kriegsdienstverweigerung. Da steckt mehr dahinter. Erstens war er als abgebrochener Gymnasiast, der dann eine Lehre gemacht hat, sowieso aus diesen Oberschülerkreisen, in denen die Verweigerung die Norm war, herausgefallen. Zum anderen war da vielleicht auch der unterschwellige Wunsch, dass etwas passiert. Man stelle sich vor, Lehmann hätte Zivildienst beim Roten Kreuz gemacht, sein Leben wäre genauso weiter verlaufen wie während seiner Berufsausbildung. Er hätte bei seinen Eltern gewohnt, wäre morgens zur Arbeit gegangen und so weiter. Vielleicht war sein Verbummeln des KDV-Antrags einfach ein Mittel, sich selbst mutwillig, aber unterbewusst aus der Kurve zu tragen.
: Die Beschreibung des Bundeswehralltags nimmt in dem Roman ja einen sehr breiten Raum ein. Es gibt nur wenige literarische Texte, in denen so genau von dem Leben in einer Kaserne erzählt wird. Warum diese sehr detaillierte Darstellung?
: Die Bundeswehr ist ja eine Armee in einem demokratischen Land. Das heißt, ein Wehrpflichtiger befindet sich nach seiner Einberufung in zwei vollkommen unterschiedlichen Leben. Das eine findet in der Kaserne statt und das andere am Wochenende oder nach Dienstschluss. Das ist das Besondere daran, im Unterschied zur Nationalen Volksarmee der DDR zum Beispiel. Da durfte man im ersten halben Jahr überhaupt nicht nach Hause. Ich wurde, glaube ich, an einem Mittwoch eingezogen und stand am Freitagabend schon wieder bei meinen Eltern vor der Haustür. Aber in diesen zwei Tagen waren so unglaubliche Dinge geschehen, dass ich mir vorkam, als ob ich aus einem Raum-Zeit-Kontinuum in ein anderes wechseln würde. Die Schwerkraft, die Atemluft, die Temperatur, alles war anders. Dieser Bewusstseinsbruch ist es, der das Phänomen Bundeswehr so interessant macht. Da muss Lehmann in der Kaserne seine Hemden auf DIN-A4-Format falten und kehrt dann am Wochenende zurück in seine Schweine-WG, wo alles drunter und drüber geht. Dieser Kontrast hat mich interessiert, nicht dass man einfach das Leben in der Armee beschreibt. Für jemanden wie mich, der in liberalen Familienverhältnissen aufgewachsen ist, war die Bundeswehr der totale Schock. Und davon kann man nur erzählen, wenn man auch die ganzen Details berücksichtigt.
: Die Dialoge zwischen Frank Lehmann und seinen Ausbildern bei der Bundeswehr entlarven den Militärjargon stets als hohles Gerede und führen die hehren Reden seiner Vorgesetzten wiederholt ad absurdum.
: Aber das sind eben nicht nur die Vorgesetzten, die so reden, sondern auch die einfachen Soldaten. Das Ganze wirkt ja so wie eine gigantische Laberblase. Und um das halbwegs begreifbar zu machen, muss man eben sehr ins Detail gehen. Darum ist das Buch auch ein solcher Schinken geworden. Als ich angefangen habe zu schreiben, bin ich höchstens von einem Umfang wie bei Herr Lehmann, also um die dreihundert Seiten, ausgegangen. Aber dann wurde Neue Vahr Süd plötzlich doppelt so dick.
: Die Bundeswehr ist ja nicht unbedingt ein sehr häufig vorkommendes literarisches Thema. Liegt das vielleicht daran, dass die meisten jüngeren Schriftsteller doch eher Zivildienst geleistet haben?
: Von vielen weiß man einfach nicht, dass sie bei der Bundeswehr waren, weil es ja allen ein bisschen peinlich ist. Man kann eigentlich davon auch nicht richtig erzählen. Zum Beispiel, wie man sich hat einschüchtern lassen. Und dann erzählt man auch nicht einfach so: Ich war beim Bund. Das passt ins spätere Leben oft gar nicht mehr hinein. Es waren ja Leute bei der Bundeswehr, von denen würde man das nie glauben. Ein Bekannter von mir ist Maler, ein richtiger Freak, von dem habe ich erst recht spät erfahren, dass er dabei war. Oder die Typen, die ich hier im Musikgeschäft kennen lerne. Da hält man es kaum für möglich, dass die mal in Uniform in Reih und Glied gestanden haben.
: Sind Sie in voller Absicht zur Bundeswehr gegangen?
: Ja, ich war nicht so jemand wie Frank Lehmann, sondern eher wie der KBW-Mann Achim. Als Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland ging man natürlich zur Bundeswehr, um dort Zersetzungsarbeit zu leisten. Ich wurde dann zum Vertrauensmann gewählt und habe versucht, meine Kameraden politisch zu agitieren. Natürlich hatte das überhaupt keine Chance. Aber das hat man sich als großmäuliger junger K-Gruppler nicht eingestanden. Verweigert habe ich erst, als ich aus dem KBW ausgetreten war.
: Neue Vahr Süd schildert ja einen allgemein wenig thematisierten Abschnitt bundesrepublikanischer Geschichte. Kommunistische Kleinparteien wie eben der schon zitierte KBW spielen eine große Rolle. Heute mögen sich die ehemaligen Mitglieder ja kaum an diese Zeit erinnern.
: Das ist ja wie mit der Bundeswehr. Man kann es sich eigentlich gar nicht mehr vorstellen, dass damals nicht wenige junge Menschen an die proletarische Weltrevolution geglaubt haben. Ich will das gar nicht werten. Interessant ist doch, wie selbstverständlich für einen eher unpolitischen Menschen wie Frank Lehmann die politisch motivierten Handlungen seiner Freunde sind. Da muss einer aus Bremen weg und im Parteiauftrag ins Ruhrgebiet ziehen. Das erscheint Frank als ganz normal.
Man muss sich die K-Gruppen übrigens nicht nur als finstere Sekten vorstellen. Ich war im Alter von fünfzehn bis neunzehn im KBW, und ich habe nicht das Gefühl, meine Jugend ganz und gar einem bizarren Ideal geopfert zu haben. Na ja, jedenfalls glaube ich nicht, dass ich – unter dem Rock’n’Roll-Aspekt – etwas verpasst habe.
: Noch mehr als in Herr Lehmann scheint die Erzählweise in Neue Vahr Süd von Dialogen geprägt zu sein. Hat sich das beim Schreiben so entwickelt?
: Bei Herr Lehmann ist es ja so, dass der Held zu diesem Zeitpunkt schon seit ein paar Jahren ein recht geordnetes Leben führt. Er ist zwar noch um einiges kauziger geworden, aber dafür auch recht gefestigt in seinen Meinungen und in seinem Weltbild. In Neue Vahr Süd entwickelt sich viel mehr. Lehmann befindet sich in einer Umbruchphase. Und da wird eben sehr viel geredet. Wer sich in diesem Alter nicht prügelt, diskutiert eben mehr. Zweikämpfe finden hier auf der verbalen Ebene statt. Mir macht es großen Spaß, Szenen darzustellen, in denen sich meine Figuren dialogische Scharmützel liefern. Auch die Gespräche, die Frank Lehmann mit seinen Eltern führt, geben in dieser Hinsicht viel her.
: Herr Lehmann ist sehr erfolgreich verfilmt worden. Gibt es schon ein Drehbuch auf der Grundlage von Neue Vahr Süd?
: Ein Drehbuch nicht, aber Verhandlungen. Doch das ist alles noch nicht spruchreif. Das Problem ist natürlich der Umfang des Romans. Ein deutscher Spielfilm ist im Schnitt um die hundert Minuten lang, da müsste der Inhalt des Buches ganz schön reduziert werden. Naheliegender wäre ein mehrteiliger Fernsehfilm. Da sind die Verhandlungen aber noch schwieriger.
Dazu kommt noch der Aspekt, dass ich selbst ein Vetorecht in Bezug auf die Verfilmung meiner Bücher habe. Bei Herr Lehmann ist ja alles gut gegangen, ich bin mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Aber es gibt natürlich auch andere Beispiele, wenn ich an Romanverfilmungen der letzten Jahre, von Stuckrad-Barres Soloalbum bis zu Frank Goosens Liegen lernen, denke. Da wurde sehr viel mehr verändert, umgeschrieben, zurechtgebogen. Es ist also für den Literaten immer ein Risiko.
: Hat Sie der Erfolg Ihres ersten Romans – Herr Lehmann ist über eine Million Mal verkauft worden – eigentlich überrollt?
: Ich bin nun schon so lange in der Kulturindustrie tätig, dass mich überhaupt nichts mehr überrollt, kein Erfolg und kein Misserfolg.
: Und das Image als Shooting Star der neuen deutschen Literatur?
: Interessiert mich überhaupt nicht. Das ist kein Witz. Als Herr Lehmann herauskam, war ich schon ungefähr neunzehn Jahre im Kulturgeschäft und nicht so leicht zu erschüttern. Allerdings, und das hat mich schon erstaunt, regiert gerade im Literaturbetrieb eine ausgeprägte Eitelkeit. Es wunderte mich schon immer, was Schriftsteller so von sich preisgeben. Das ist im Rockgeschäft ganz anders. Mit Musikern wird ja auch mal eine Homestory gemacht, aber man sollte nicht im Ernst glauben, dass Lionel Ritchie oder wer auch immer wirklich in der Villa wohnt, die man in dem Beitrag auf MTV oder der Bravo-Reportage sieht. Solche Häuser werden extra für den Zweck angemietet. Schriftsteller hingegen fotografiert man am liebsten in ihrem Wohn- oder Arbeitszimmer vor der Bücherwand. Oder während sie etwas kochen. Das würde ich nie mitmachen. Ich weigere mich auch, Persönliches in Interviews auszubreiten.
: Aber es gibt ja, wir haben darüber gesprochen, schon autobiografische Bezüge in Ihren Romanen?
: Man kann ja nicht über Sachen schreiben, von denen man nichts versteht. Andererseits glauben manche Leser wirklich, ich sei selbst der Herr Lehmann, weil ich auch aus Bremen komme und irgendwann nach Berlin gegangen bin. Aber ich habe zum Beispiel nie in einer Kneipe gearbeitet. Sicherlich schreibe ich aufgrund meiner eigenen Erfahrungen. Aber eben nicht, um mit meiner Biografie zurande zu kommen, sondern weil ich gerne Geschichten erfinde. Realistische Geschichten zwar, aber immer noch Geschichten. Ich muss mir nichts von der Seele schreiben.
: Haben Sie denn als in der Literaturszene noch unbekannter Autor die Erfahrung gemacht, vor einer Handvoll Zuhörer lesen zu müssen?
: Das ist mir erspart geblieben, wahrscheinlich war ich doch als Musiker schon zu bekannt dafür. Erst wollte ich überhaupt keine Lesungen machen, aber der Verlag bestand darauf. Allerdings lese ich nur die lustigen Kapitel aus den Romanen, weil mir das besser liegt. Und es hat auch funktioniert. Ich lese ein Kapitel, dann ist Pause, dann noch ein Kapitel und eine Zugabe, und das ist es dann. Ich habe auch Signierstunden und ähnliche Veranstaltungen mitgemacht. Aber großen Spaß macht mir das nicht. Zumal ich gar nicht gerne auf Reisen bin.
: Ist das Musikgeschäft unkomplizierter als der Literaturbetrieb?
: Auf jeden Fall. Denn im Musikgeschäft gibt es keine Subventionen. Du trittst auf, die Leute zahlen dafür, und was nach Abzug der Kosten übrig bleibt, kannst du mitnehmen. Und wenn weniger Leute kommen, verdienst du auch weniger. Im Literaturbetrieb geht es ganz anders zu. Da gibt es Preise, Stipendien und so weiter. Das ist auch alles prima. Aber es macht die Sache komplizierter. |