Am Erker 37

F. K. Waechter: Mein 1. Glas Bier (1998)

F. K. Waechter: Der rote Wolf (1998)

F. K. Waechter: Da bin ich (1997)

F. K. Waechter: Wahrscheinlich guckt wieder kein Schwein (1978)

Andreas Verstappen am Grabe Spitzwegs

'Waechters Erzählungen'

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F. K. Waechter
Diogenes

 
Friedrich Karl Waechter

Im Gespräch mit Andreas Verstappen

Am Erker Nr. 37, Münster, Juni 1999

"Auf den Igel lass ich nichts kommen."

Am Erker: Deine letzten Bücher hatten recht autobiografische Züge.

F. K. Waechter: Die Kinderbücher?

Am Erker: Ist der Rote Wolf ein Kinderbuch?

F. K. Waechter: Wenn's Bilder hat und wenig Text, dann ist das die Form des Kinderbuchs, da kann man nichts machen. Also, ja, es hat Autobiografisches. Es gab sogar eine erste Fassung, die noch wesentlich autobiografischer war. Das meiste davon habe ich wieder ausgemerzt. Am Anfang gab es in der Geschichte zum Beispiel noch drei Kinder - ich habe zwei Geschwister. Es gab den Vater, der im Osten gefallen ist, allerdings eher in Südrussland, wo, anders als in der Geschichte, die Wölfe gar nicht vorbeiziehen. Die erste Fassung spielte auch noch in der Gegend von Dnjepropetrowsk. Die reale Flucht ist mit dem Schiff erfolgt und nicht mit dem Planwagen. Also, die biografischen Dinge können beim Erzählen stimulieren, aber bei Bedarf auch gnadenlos über Bord geworfen werden, so dass man das Ganze nicht als einen ernsthaften autobiografischen Versuch ansehen kann.

Am Erker: Und der Hund, gab es den wirklich?

F. K. Waechter: Nein, Tiere sind bei mir fast immer verfremdete Menschen. Der Grundeinfall für die ganze Geschichte war, dass ein kleiner Schoßhund von großen Wölfen großgezogen wird, was einfach witziger ist als die klassische Geschichte, in der ein Mensch von Wölfen großgezogen wird.
Der Bussard in Mein 1. Glas Bier ist das erste meiner Tiere, das kein Mensch ist. Das ist nämlich ein Bussard. Es wäre unsinnig zu behaupten, dieser Bussard sei irgendwie mein Onkel. Es ist so was wie das schlechte Gewissen, so oft und so lange Tiere vermenschlicht zu haben, dass ich dem Bussard in seinem fremdartigen Tiersein zu seinem Recht verhalf. Die ursprüngliche Bussardgeschichte, der Cartoon "Über der Trauergemeinde kreiste ein Bussard", ist ja uralt, und das Buch ist ein Sekundeneinfall: im Feld einen kaum wahrnehmbaren Bussard zu entdecken, und dann schlagartig die Assoziation zu haben sowohl an den Cartoon als auch an meinen Mitschüler Dieter Borges, der in der Quarta gestorben ist. In dieser Sekunde im Auto schrie ich nach Papier, und meine Freundin Nole hielt nicht sofort, und es gab Krach, bis der Wagen endlich zum Halten kam.
Das erste der drei letzten Bücher, Da bin ich, hat eigentlich wenig davon. Es gab einen Schlüsseleinfall, ausgelöst durch eine Greuelgeschichte aus dem Jugoslawienkrieg. Von den Kindern, die dort umkommen, hin zu Katzen, die gegen die Wand geworfen werden, weil es zu viele sind, so wie ich es in der Kindheit erlebt habe. Rudimente von Autobiografischem gibt es also auch da, vielleicht wird man die bei allem, was ich gemacht habe, finden können.

Am Erker: Wozu also dienen Tiere in deinen Geschichten?

F. K. Waechter: Die Welt des Tieres ist halt viel einfacher, überschaubarer und taugt als Übersetzung für den viel komplizierteren Menschen. Es ist eine eher abstrakte Figur, wie etwa auch ein Clown. Der eignet sich für viele Geschichten, weil er keinen Vater, keine Mutter, keine Sozialisation hat und weil er emotional auf Situationen reagiert. Beim Tier ist es ähnlich, es hat zwar Vater und Mutter, aber die spielen nicht diese Rolle.
Im Buch Wir können noch viel zusammen machen hätte ich über die Freundschaft zwischen einem reichen deutschen, einem armen deutschen und einem türkischen Kind schreiben können, aber das wäre ein ganzer Roman geworden, in dem man die kulturellen und gesellschaftlichen Hintergründe minutiös hätte wiedergeben müssen. Indem man aber ein kleines Schwein, einen Fisch und einen Vogel wählt, kann man die ganze Geschichte mit wenigen Worten erzählen.

Am Erker: Im Kinderbuch gibt es ja schon immer Tiere. Du giltst als derjenige, der als Erster die gängigen Tierklischees gegen den Strich gebürstet hat.

F. K. Waechter: Es macht einfach Vergnügen, eine Eule doof und ein Schwein klug darzustellen. Als das erste Mal Menschen als Schweine dargestellt wurden, war wohl auch das Vergnügen an der Sache der Hauptgrund. Nach und nach hat das zu den Fabeln geführt vom klugen Fuchs und vom machtgierigen Löwen. Schon bei Pu, der Bär lagen die Dinge anders. Da ist der Bär, das Spielzeug von Christopher Robin, nicht dumm, nicht täppisch, sondern sehr feinfühlig. Es kann sein, dass der auch Pate gestanden hat bei meinen Tierexperimenten. Als ich diese Themen in den Siebzigern aufgriff, lag es nahe, das Verschnarchte und Altfränkische an den Fabeln über den Haufen zu werfen. "Der Fuchs, der ist in großer Not, gleich machen ihn die Gänse tot" - die Überlegenheit, die man gemeinhin von ihm kennt, hält sich nicht bei mir.

Am Erker: Über das Schaf heißt es bei Brehm: "Das Schaf bekundet eine geistige Beschränktheit, wie sie sonst bei keinem Haustier vorkommt. Es begreift und lernt nichts, weiß sich deshalb auch allein nicht zu helfen ... Seine Furchtsamkeit ist lächerlich, seine Feigheit erbärmlich". Das ist ein harsches Urteil.

F. K. Waechter: Zur Zeit Goethes gab es Engländer, die dieser sehr bewunderte, weil sie Schafe malen konnten wie niemand sonst auf der Welt. Goethe lässt sich darüber aus, dass der englische Maler das Wesen des Schafes so wunderbar getroffen hat, geprägt vom tiefen Mitgefühl mit dem Wesen des Schafes in dem Sinne, dass nicht die Dummheit aus ihm herausspricht, sondern ganz andere Dinge. Das Schaf rettet sich vor Feinden durch herdenweises Zusammenstehen. Ängstliches Zusammenstehen ist für den Menschen immer negativ. Wenn Wölfe im Alter das Rudel verlassen und einsam umherstreifen, wird das erklärt als die Summe von Erfahrungen und Enttäuschungen, was den Wolf noch klüger und reifer und verbitterter erscheinen lässt. Das Funktionieren in der Herde wird geringer geachtet, deshalb gelten Herdentiere als dumm. Pfiffigkeit wird man dem Schaf wohl nie unterstellen, im Gegensatz zum Spatz etwa.
Wenn man Brotkrümel hinstreut und Tauben und Spatzen beobachtet, ist man ganz schnell auf Seiten der Spatzen, und im Nu sind die Tauben als Federratten gebrandmarkt. Man könnte ja zum Beispiel deren größere Würde hervorheben, aber man sieht nur diese dummen kleinen Schritte auf die Brotbrocken zu und sieht - schwuppdiwupp -, wie der Spatz schneller da ist, und schon ist das Urteil fertig. Wenn der Spatz aber taubengroß wäre und die Taube spatzengroß, würde man die Spatzen verjagen, weil die schneller sind als die sympathischen kleinen Täubchen.

Am Erker: Du hast dich auch häufiger mit Hühnern beschäftigt.

F. K. Waechter: Ich war mal befreundet mit Hanne und bin dann über Hanne zu Henne zu Huhn gekommen ... nein, ich war liiert mit ihr und befreundet immer noch, und zu jedem Anlass kriegt sie 'ne Hühnerzeichnung. Also sie ist das Huhn. Nein, es macht einfach ein großes Vergnügen, Hühner zu vermenschlichen, weil dort die Wirkung noch größer ist als bei einem dem Menschen näherstehenden Tierwesen. Ich persönlich glaube, dass das Huhn - und hier begebe ich mich wieder auf Glatteis - noch dümmer ist als das Schaf. Ich habe da eine Szene vor Augen, in der der halbe Hühnerstall abgebrannt war und die Hühner immer noch hin- und herrasten und rauswollten, obwohl es Riesenlücken gab. Es dauerte ewig, die Tiere da rauszuscheuchen.

Am Erker: Hast du selbst früher viel mit Tieren zu tun gehabt?

F. K. Waechter: Ja, ich habe die frühe Kindheit in einer Kleinstadt und das siebte bis dreizehnte Lebensjahr auf dem Dorf verbracht. Ich erinnere mich etwa an den Terrier, den meine Tante Lilo, wenn sie zu Besuch war, mitbrachte. Es gab auch mal die Situation, dass die Sau vom Bauern ihre eigenen Ferkel fraß. Ich habe mir ausgedacht, dass ich da ein Lieblingsferkel hatte und es vor der Sau retten konnte. Aus Dankbarkeit blieb es dann ein kleines Ferkel, aber entwickelte ungeheure Fertigkeiten, ging mit mir in die Schule und war bald der beste Schüler. Ich habe meinen Geschwistern vor dem Einschlafen dann immer Ferkelgeschichten erzählt. Klaus hieß das Ferkel, weil ich, als die Sau die Ferkel fraß, schrie: "Die Sau frisst die Ferkel!" Und Frau Dobke, eine Flüchtlingsfrau, die auch bei unserem Bauern lebte, schrie: "Klau's dir doch!" Und seitdem hieß das Ferkel Klaus Dirdoch. In einer Geschichte saß ich mit Klaus in der hintersten Kirchenbank, wo der Klingelbeutel am Schluss hinkam. Klaus schlüpfte hinein, dass nur noch Schnauze und Beine rausguckten, und als der Küster den Klingelbeutel an sich nahm, glaubte er, der Leibhaftige sei dort eingekehrt, weil der Klingelbeutel Beine bekam und raus ins Freie wetzte. Klaus und ich hatten dann hundertsechzig Mark, die wir verfraßen.
Es gab noch eine andere Geschichte, in der Sams, das Dorf, in dem ich lebte, gegen Müssen fünfzig zu dreizehn im Fußball zurücklag. Es passierte öfter, dass der Ball auf den Rübenacker geschossen wurde und zurückgeholt werden musste. Dann habe ich statt des Balles Klaus eingeworfen, und Klaus wetzte immer bei Müssen ins Tor, was keinem auffiel.

Am Erker: Was hat es denn mit Teddybären und anderen Stofftieren auf sich?

F. K. Waechter: Kuscheltiere haben oft die Funktion von Kameraden. Ich glaube nicht, dass Kinder, die Schmusetierchen besitzen, von den Charakteristika, die Menschen den Tieren gegeben haben, etwas übernehmen, sondern ihnen Eigenschaften geben, die woanders herkommen: Aus seinen Bedürfnissen heraus hat das Kind Spaß, dieses Tier zu schurigeln, egal ob es ein Bär, ein Löwe oder ein Hase ist. Häschen Hase etwa war der Kumpel von meinem Sohn, und ich glaube, dass der Erwachsene viel zu wenig mitbekommt von der Beziehung, die etwa Philip zu Häschen Hase hatte.

Am Erker: Du hast drei Söhne. Zeichnen die auch?

F. K. Waechter: Nur Philip. Philip hat irgendwann zu seinem Bruder Robert gesagt, komm doch auch nach Mainz, da ist es astrein ... In Mainz hat er seine Grafikerausbildung, Kommunikationsdesign heißt das ja heute, gemacht, und Robert, sein älterer Bruder, ging dann auch nach Mainz, hat sich aber mehr auf Computergeschichten geworfen. Dabei kann er aber eigentlich genauso gut zeichnen, ich hab die beiden immer gleich begabt gefunden. Moritz nicht ganz so, der war vielleicht auch nur ängstlich. Es ist ja schwer zu sagen, wer ist jetzt begabt und wer hat in frühen Jahren Streicheleinheiten fürs Malen eingefahren und bildet sich weiterhin ein, das gut zu können. Das ist die Vermutung bei mir selbst, dass es da Tanten gab, die sagten "Oh, toll!"
Heute sah ich in der Zeitung beim Aufschlagen einen Goethe, von Philip gezeichnet, sofort zu erkennen ... das sind vergnügte und stolze Momente. Dann habe ich auf Philip eingeteufelt, er soll nicht immer Texte von Hausfrauen illustrieren, so chauvinistisch habe ich mich ausgedrückt, also Texte, die er von den Verlagen zugeschickt bekommt. Es macht viel mehr Spaß, eigene Texte zu illustrieren, weil man dann entscheiden kann, was drück' ich mit Mitteln des Wortes und was mit Mitteln des Bildes aus. Ich selbst habe auch Geschichten von anderen Leuten illustriert, aber nie sehr gerne. Mir wurde es nach der fünften Zeichnung zur Last, jetzt den Stil noch weitere zehn Zeichnungen durchzuziehen und sich sklavisch daran zu halten, was der Text sagt. Beim Theater ist 'Illustration' ein Schimpfwort. Das sagt ja schon der Text, das darf man nicht illustrieren, außer als Witz, indem man es doppelt. Ein Illustrator hat davon aber noch nie etwas gehört, er sieht sich als dienend, und das ist eigentlich nicht schön. Besser kann man gemeinsam Dinge entwickeln. Mit Schauspielern kommt man beim Proben auf Geschichten. Robert Gernhardt, Fritz Weigle und ich haben zum Beispiel viele Dinge zusammen entwickelt.

Am Erker: Tiere und Theater, das ist nicht leicht - man bringt einen Bären wohl leichter im Cartoon unter als auf der Bühne.

F. K. Waechter: Es hat aber etliches Tiergut in meinem dramatischen Schaffen. Vor allem natürlich bei den Märchengeschichten, etwa den Bremer Stadtmusikanten. Es gibt ganz verschiedene Methoden, dies auf die Bühne zu bringen. Etwa dass eine Figur über dem Hals Tier ist und darunter Mensch. Oder es gibt Menschen, die nur das Wesen des Hahnes oder des Esels rüberbringen, das ist eine Inszenierungsfrage. Es gibt dann eben einen Erzähler, der behauptet, das ist ein Esel, das ist eine Katze, und dann spielen sie Esel und Katze, aber reden wie Menschen. In den Märchen sind Tiere eben auch immer Menschen.

Am Erker: Zeichnest du deine Tiere eigentlich nach der Natur?

F. K. Waechter: Da gibt es keine feste Regel. Manchmal ist es komischer, sich von der Natur weit und dreist zu entfernen, und manchmal ist es reizvoll, dicht dranzubleiben. In dem Cartoon "Den Löwen, der mich später fraß, nannte ich Sigmund, weil er wie Freud aussah", ist es natürlich witzig, den so naturalistisch wie möglich zu malen.
Im Moment sitze ich gerade an so was wie einem Opus magnum, in dem ich meine siebenhundert liebsten Cartoons versammle. Ich zeichne einen Großteil neu, was man ja eigentlich nicht machen darf, weil man ja alles historisch sehen muss. Aber es ist so, dass ich einige ältere Einfälle okay finde, aber die Ausführung nicht. Meistens ist es die Form einer Zeichnung, die mir irgendwie zu pingelig ist, oder auch umgekehrt verschenkt erscheint, und ich sie liebevoller und größer haben möchte. Meine Bücher laufen alle aus, und irgendwann gibt es dann nur noch das eine Buch. Ich weiß aber noch nicht, wie es heißen soll.

Am Erker: Hättest du noch eine Haustier-Empfehlung?

F. K. Waechter: Es ist schon ein Unterschied, ob ein Hund oder eine Katze den Raum betritt. Der Hund ist der beste Freund des Menschen, viel mehr als etwa das Erdferkel. Noch größer wäre freilich der Unterschied zwischen Löwe und Maulwurf. Wie würdest du dich da entscheiden? Wenn beide manierlich sind und treu? Keinen Scheiß bau'n? Na, beim Maulwurf kannst du deinen Garten vergessen ... der Maulwurf weist ja ständig auf seine Betriebsamkeit hin. Der Igel ist da bescheidener. Auf den Igel lass ich nichts kommen. Und er ist leicht zu zeichnen - den kriegt jeder hin.