Am Erker 34

Axel Hacke: Der kleine Erziehungsberater

Axel Hacke: Der kleine König Dezember

Axel Hacke: Nächte mit Bosch

Axel Hacke: Hackes kleines Tierleben

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Axel Hacke
Kunstmann

 
Axel Hacke

Im Gespräch mit Rudolf Gier

Am Erker Nr. 34, Münster, Herbst 1997

"Ich hatte als Kind die ernsthafte Vorstellung, dass im Radio ein kleines Orchester sitzt und die Musik macht."

Am Erker: Neben Ihrer Reportertätigkeit bei der Süddeutschen Zeitung haben Sie einige Bücher veröffentlicht. Am erfolgreichsten war bislang Der kleine Erziehungsberater. Wie kam es zu diesem Buch?

Axel Hacke: Vor etwa sieben Jahren wurde die Magazinbeilage der Süddeutschen Zeitung ins Leben gerufen. Damals habe ich mit dem Chefredakteur über eine Kolumne nachgedacht. Am Schluss dieses Gespräches habe ich gesagt: "Ich könnte etwas schreiben über den Alltag einer Familie mit mehreren kleinen Kindern." Der Chefredakteur war einverstanden, und ich wollte fünf oder sechs Stücke schreiben. Aber die Sache entwickelte sofort eine unglaubliche Eigendynamik. Von der ersten Folge an gab es außergewöhnlich viele Briefe und Anrufe, ein Leserecho, wie ich es noch nie erlebt hatte. Ich glaube, die Leute haben ihren eigenen Alltag wiedererkennen können, und das hat den Erfolg dieser Kolumne ausgemacht. Er hat mich regelrecht überrollt. Wenn ich vorher gewusst hätte, dass daraus mal ein Buch werden sollte, wäre ich da bestimmt ein bisschen anders herangegangen. Ich hätte fiktive Namen gewählt und mehr verfremdet. So hatte ich manchmal das Gefühl, dass mein Privatleben eins zu eins veröffentlicht wurde.

Am Erker: Im Gegensatz zu früheren Elterngenerationen, die offenbar für alle Fragen und Probleme fertige Konzepte parat hatten, nimmt der Erziehungsberater selten eindeutige Positionen ein. An einer Stelle sagt er: "Wir sind nicht autoritär. Wir sind auch nicht antiautoritär. Wir wurschteln uns so durch." Funktioniert das?

Axel Hacke: Dazu muss ich eines vorausschicken. Der Titel Erziehungsberater ist ironisch gemeint, und jeder Leser merkt sofort: Hier spricht ein zutiefst Ratloser. Insofern ist das mit dem "Durchwurschteln" flapsig dahergesagt, auch wenn es zum Teil meine damalige Haltung wiedergibt; wir hatten und haben ja tatsächlich keine fertigen Konzepte mehr im Kopf. Natürlich geht es in der Praxis nicht allein mit "Durchwurschteln", jedenfalls nicht, wenn die Kinder größer werden. Eines habe ich im Laufe der Jahre gelernt: Kindererziehung ist kaum möglich, wenn man als Erwachsener nicht an seiner eigenen Persönlichkeit arbeitet. Kinder lernen am allermeisten von dem, was die Erwachsenen selber tun. Wer es versäumt, über sich nachzudenken, wird es gegenüber seinen Kindern verdammt schwer haben.

Am Erker: Der Erziehungsberater kann einem zwar nicht viel erklären, aber dafür erzählt er schöne Familiengeschichten. Eine fängt so an: "Am liebsten sitze ich mit Anne auf dem Sofa und lasse mir von ihr die Welt erklären." Dabei erfahren Sie dann, wie Menschen gemacht werden, wie der Schöpfer aus Ton die Köpfe modelliert, ihnen Münder einsetzt, die Zähne weiß anstreicht usw. Lassen Sie sich von solchen Geschichten inspirieren?

Axel Hacke: Ja, sicher, in dem Fall ist es zum Beispiel so gewesen. Die Geschichte habe ja nicht ich erfunden, sondern die hat mir meine Tochter damals erzählt. Kinder bringen eine ganz andere Art, die Dinge zu sehen, ins Spiel. Sie wissen noch nicht so viel, sind noch nicht zugemauert mit Kenntnissen und müssen sich die Welt auf ihre Weise erklären. Warum geht das Licht an? Warum kommt Musik aus dem Radio? Ich hatte als Kind die ernsthafte Vorstellung, dass im Radio ein kleines Orchester sitzt und die Musik macht. Irgendwann habe ich dann erfahren, dass es Sendestationen und Schallplatten gibt, und damit war diese Vorstellung tot. Bei vielen Erwachsenen geht die kindliche Tugend, sich alles, was einem über den Weg läuft, auf phantasievolle Weise zu erklären, leider verloren. Andere können es sich trotz angesammelter Wissensbestände ein Stück weit bewahren, indem sie sich beispielsweise daran erinnern, wie sie als Kind bestimmte Phänomene gedeutet haben. Ungeachtet dessen ist es immer sehr interessant und aufschlussreich, sich von Kindern Geschichten erzählen zu lassen.

Am Erker: Normalerweise betrachten wir das Erwachsenwerden als einen Prozess der Reifung. In Ihrem Buch Der kleine König Dezember wird diese Ansicht auf den Kopf gestellt. König Dezember ist groß zur Welt gekommen. Er wird immer kleiner und entwickelt sich zu einem Kind, das es faustdick hinter den Ohren hat. Mit seinen bizarren Geschichten und unbefangenen Fragen ist der kleine König dem erwachsenen Ich-Erzähler haushoch überlegen. Wenn man die beiden vergleicht, möchte man fast meinen, Erwachsenwerden bedeutet nicht so sehr Reifung, sondern es geht einher mit Anpassung, Vereinsamung und vielleicht sogar mit Verdummung.

Axel Hacke: Auf jeden Fall bedeutet Erwachsenwerden nicht nur Bereicherung, wie die meisten Leute glauben, sondern dabei ist auch Reduktion im Spiel. Der kleine König Dezember ist sozusagen eine Geschichte über die Wonnen der Regression, über die Vorstellung, wie schön es wäre, wieder ein Kind zu sein. Das Buch betont allerdings diesen einen Aspekt des Lebens. In anderer Hinsicht ist Kindsein aber überhaupt nicht toll. Kinder werden andauernd bevormundet, sie dürfen nicht machen, was sie wollen, und müssen sich an vorgegebene Regeln halten.

Am Erker: König Dezember hat von seinen Vorfahren keine klugen Ratschläge geerbt, sondern Schachteln, in denen Träume aufgehoben sind. Ist das eine Metapher für ein utopisches Modell der Traditionsvermittlung?

Axel Hacke: Das habe ich mir in dieser Form noch gar nicht überlegt, aber es klingt interessant. Vielleicht hängt die Metapher mit meiner persönlichen Entwicklung zusammen. Ich komme aus einer sehr rational denkenden Familie, in der auf Wunschvorstellungen nichts gegeben wurde. Mein Vater war ein nüchterner Verwaltungsmensch, und von meinem Großvater ist mir vor allem eine Redensart in Erinnerung geblieben: "Träume sind Schäume!" Was immer auch passiert sein mochte, wenn ich ihm etwas erzählte, kam gleich die wegwerfende Handbewegung und der blöde Satz. Insofern steckt in der Dezember-Geschichte wohl eine persönliche Sehnsucht. Mir wäre es viel lieber gewesen, wenn meine Eltern und Großeltern mir mehr von dem mitgeteilt hätten, wovon sie wirklich bewegt waren. Leider sind sie den banalen Dingen wie Geld, Wohnen, Essen und diesem ganzen langweiligen Krempel verhaftet geblieben.

Am Erker: Womit haben Sie sich als Kind gerne beschäftigt?

Axel Hacke: Ich war genötigt, und das macht sich wahrscheinlich noch heute bemerkbar, die Tür hinter mir zuzumachen und mir eine eigene Welt zu konstruieren. Ich hatte eine Modelleisenbahn. Deren technische Aspekte haben mich nicht sonderlich interessiert, sondern ich habe vielmehr mit den kleinen Männchen gespielt. Ich konstruierte alle möglichen Situationen, schuf ein Dorf, ließ dort Wahlveranstaltungen durchführen oder Häuser abbrennen. Damit war ich mehr oder weniger jeden Tag beschäftigt. Daneben habe ich viel gelesen, ich glaube, ich habe einen ganzen Bibliotheksbestand weggeschmökert, was ebenfalls eine Möglichkeit bot, sich zu verkriechen. Ein- bis zweimal die Woche bin ich in die Zweigstelle unserer Stadtbücherei gegangen und habe mir von dort schöne Bücher mitgenommen: Karl May, Enid Blyton, Astrid Lindgren oder Erich Kästner.

Am Erker: Der Erziehungsberater käme nie auf die Idee, seinen Kindern das Lesen zu verbieten. Aber vom Fernsehen hält er nicht viel, oder?

Axel Hacke: Das Fernsehen bietet vordergründige Bilder und wirkt auf die Dauer phantasietötend. Man sieht etwas, und damit ist es auch schon erledigt, man ist schnell zufriedengestellt und hat den Eindruck, die Realität serviert bekommen zu haben. Wenn man ein Buch liest, muss man sich die Bilder selber machen Das klingt vielleicht altmodisch und ist der Zeit hinterher, aber ich finde es ganz normal. Das Fernsehen entpuppt sich zum großen Teil als ein sehr eindimensionales Medium; es klärt wenig auf über tiefere Zusammenhänge und konfrontiert den Zuschauer direkt mit Emotionen. Die Medienwelt wird künftig in einem Ausmaß revolutioniert werden, wie wir uns das wahrscheinlich noch gar nicht vorstellen können. Schon heute haben wir über das Fernsehen die Möglichkeit, an jedem Ereignis sofort teilnehmen zu können. Wenn eine englische Prinzessin stirbt, dann schalten wir den Fernseher ein und werden rund um die Uhr mit Live-Übertragungen versorgt. Jeder von uns hat diese Bilder fest im Kopf verschraubt, und das kann gar nicht folgenlos bleiben für die Vorstellungskraft des Menschen. Die Geschichte mit Diana hat gezeigt, wie groß die Gier der Leute nach Emotionen ist. Auf der einen Seite steht diese Medienentwicklung, auf der anderen Seite und damit zusammenhängend gibt es im zwischenmenschlichen Zusammenleben eine Reduktion der Gefühle und des Miteinanders. Anders kann ich mir das Medienereignis um den Tod Dianas gar nicht erklären. Warum sitzen zig Millionen Menschen vor dem Fernseher und heulen wegen einer Märchengestalt, die sie sich zusammengezimmert haben und die mit der realen Person nichts zu tun hat?
Ich bin wirklich kein großer Freund des Fernsehens. Als die Kinder klein waren, haben wir es ziemlich konsequent ausgeklammert. Und das finde ich nach wie vor richtig. Ein großes Problem war es aber ehrlich gesagt nie, die Kinder hatten genug andere Sachen im Kopf. Außerdem hasse ich jeden Dogmatismus. Wenn ich die Leute reden höre, zum Beispiel bestimmte Eltern von Waldorfschülern, die sagen: "Also, wir haben gar keinen Fernseher." Oder "Bei uns wird überhaupt nicht ferngesehen!" Das finde ich merkwürdig. Das Fernsehen ist Bestandteil unserer Welt geworden, und Kinder müssen sich damit auseinandersetzen können.

Am Erker: Wenn Sie auf Ihre eigene Kindheit zurückblicken und sich demgegenüber ansehen, wie Ihre Kinder heute aufwachsen, welche Unterschiede fallen Ihnen dann auf?

Axel Hacke: Ich finde schon, dass meine Kinder es heute in mancherlei Hinsicht einfacher haben. Ich hatte als Kind sehr oft das Gefühl, von meinen Eltern überhaupt nicht verstanden zu werden. Vermutlich waren sie viel zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Es war ja die Generation, die den Krieg erlebt hatte und davon traumatisiert war. Anstatt das zu thematisieren und sich darüber Klarheit zu verschaffen, hat sie das meiste verdrängt. Demgegenüber versuche ich, mich mit mir selbst und meinen Kindern stärker auseinanderzusetzen und so viel wie möglich den Kontakt zu den Kindern zu suchen. Das ist nicht immer einfach, denn ich bin geschieden, und wir wohnen nicht mehr in der gleichen Stadt. Wer weiß, vielleicht machen wir ganz andere Fehler als unsere Eltern; eine Scheidung stecken Kinder nicht so leicht weg. Aber trotz der Entfernung investiere ich viel Engagement und versuche, dichter mit ihnen zusammen zu sein. Obwohl ich als Kind im selben Haus gewohnt habe wie meine Eltern, lagen oft WeIten zwischen uns.

Am Erker: Können Erwachsene von Kindern lernen?

Axel Hacke: Ich hoffe, dass sie das tun. Andererseits hasse ich dieses Gesülze, wenn man sagt, Kinder bringen Phantasie in mein Leben, haben mir die Augen geöffnet für etwas völlig Anderes, für die tägliche Anarchie. Man liest dazu öfter ein unsägliches Geseire. Natürlich ist insofern etwas dran, als Erwachsene sich in der Welt des Geldverdienens bewegen müssen und dadurch ihren unverstellten Blick verlieren. Männer sind davon wahrscheinlich stärker betroffen als Frauen, weil Männer in der Welt, wie sie nun einmal ist, im höheren Maße mit diesem durchrationalisierten Leben beschäftigt sind. So gesehen kann man sich von Kindern einiges abschauen, was mir aber ehrlich gesagt als ziemlich banale Erkenntnis erscheint.

Am Erker: Sehen Sie sich selber in dem Zwang des Geldverdienenmüssens, oder gibt Ihnen Ihr Beruf genügend Freiräume?

Axel Hacke: Wenn man mehrere Kinder hat und in einer Stadt wie München lebt, steckt man erheblich in diesem Zwang. Aber ich habe das große Glück, einen Beruf ausüben zu können, der mir Spaß macht, in dem ich meine Begabungen umsetzen und mich weiterentwickeln kann. Wenn ich andere in meinem Alter sehe, wenn ich mir deren Tagesabläufe angucke und erkenne, wie hart sie arbeiten müssen und in welchen Hierarchien sie stecken, wenn ich mir diesen Stress vergegenwärtige, dann bin ich für meinen Beruf sehr dankbar.

Am Erker: Das heißt, Sie haben Ihren Traumjob gefunden und wollten schon immer Reporter werden?

Axel Hacke: Ja, irgendwie wollte ich das immer schon, wobei ich keine richtige Vorstellung davon hatte, was das eigentlich ist. Eine Sache hat mich allerdings schon in meiner Jugend angespornt. Mein Vater hat sich früher an jedem Sonntagmorgen im Fernsehen den Aktuellen Frühschoppen angeschaut. Das war für ihn so eine Art Ersatzkirchgang. Ich hatte immer die Vorstellung: Journalisten sind so wie in dieser Sendung, Männer mit starken Meinungen, die sehr engagiert eintreten für ihre Ansichten. Sie tragen einen Anzug mit Krawatte oder Fliege und stecken mittendrin im Weltgeschehen. Ich habe mir gesagt: Das machst du auch. Eines Tages kommst du dann in diese Sendung, und dein Vater wird dich im Fernsehen sehen und dir zuhören. Später habe ich gelernt, dass Journalismus etwas ganz anderes bedeuten kann. Schließlich bin ich bei einer Zeitung gelandet, die einem auf der einen Seite die Möglichkeit gibt, als Reporter zu arbeiten, die aber auch Sparten wie das "Streiflicht" hat, in denen man seine Phantasien ausleben kann. Manchmal macht es mir mehr Spaß, irgendwohin zu fahren und eine Reportage zu verfassen, ein anderes Mal sitze ich lieber in meiner Bude und schreibe Glossen, Geschichten oder ein "Streiflicht".

Am Erker: Die "Streiflichter" enthalten oft eine gute Portion Ironie. Wie finden das die Leser?

Axel Hacke: Ironie ist für einige Leute schwer zu verstehen. Manchmal bekommen wir Leserbriefe, die sind das Allerlustigste. In einem "Streiflicht" ging es um den europäischen Butterberg. Mein Text begann mit der absurden Überlegung, dass Butter nicht aus Kuhmilch gewonnen, sondern in der Nähe von Brüssel im Tagebau abgebaut wird. Dazu kamen mehrere Leserbriefe, in denen mich die Leute für bescheuert erklärt haben.

Am Erker: Ist Axel Hacke ein versponnener Schriftsteller? Oder steckt in ihm eher der nüchterne Reporter?

Axel Hacke: Auf der einen Seite bin ich Reporter, wobei mir die Verbindung mit "nüchtern" nicht schlüssig erscheint. Klar, ein Reporter muss mit einer gewissen "Nüchternheit" ans Werk gehen, aber ebenso muss er Phantasie mitbringen. Er muss die Welt, die er sieht und beschreibt, vergleichen können mit dem, wie es sein könnte. Deshalb braucht er einen sehr weiten Horizont. Er soll ja nicht nur wiedergeben, was andere Leute gesagt haben oder was er beobachtet hat - das natürlich vor allem -, aber er muss darüber hinaus die Fähigkeit mitbringen, sich vorzustellen, was jenseits der Realität möglich wäre. Und er muss, wenn er ein guter Reporter sein möchte, als individuelle Person spürbar sein.

Am Erker: Bei den "unwahrscheinlich wahren Geschichten" Ihres ersten Buches Nächte mit Bosch habe ich mich häufig gefragt: Ist das jetzt eine erzählende Reportage oder eine reportagenhafte Erzählung?

Axel Hacke: Dieses Buch bewegt sich auf dem schmalen Grad zwischen Realität und Fiktion. Es ist übrigens auf Anregung meiner Verlegerin Antje Kunstmann entstanden. Sie rief mich vor Jahren an, wir lernten uns kennen, sie wollte, dass ich ein Buch schreibe. Ich sagte. "Gut, aber ich greife auf Sachen zurück, die schon mal in der Süddeutschen gestanden haben, und schreibe ein paar neue hinzu." Daraus ist dann der Band mit den achtzehn Texten geworden. Ich habe mir nicht viele Gedanken theoretischer Art gemacht, sondern einfach Texte ausgesucht, die mir besonders gut gefallen haben. Die Sammlung spiegelt meinen beruflichen Alltag wider, nämlich auf der einen Seite, der Wahrheit nachzuspüren, und auf der anderen Seite, Dinge zu erfinden. Für einen Außenstehenden lässt sich dann tatsächlich nicht mehr so leicht unterscheiden: Was ist erfunden, und was ist wirklich passiert? Die Wirklichkeit ist oft dermaßen absurd, dass man sie buchstäblich nicht erfinden kann. Da gibt es zum Beispiel eine Geschichte über Leute, die kleine Autos sammeln. Mir sind öfter Leser begegnet, die gesagt haben; "Das ist doch alles nicht wahr." Aber diese Geschichte ist nicht in einem einzigen Detail erfunden. Jede Zahl, jede Ortsangabe entspricht haargenau der Realität. Die Wirklichkeit ist nicht selten dermaßen verrückt, dass man es sich einfach gar nicht vorstellen kann. Ich hätte, wenn ich es nicht selbst gesehen hätte, auch nie daran geglaubt, dass es Leute gibt, die viele zehntausend kleine Autos in ihrer Wohnung haben. Gerade wenn man sich mit dem Alltag von Menschen beschäftigt, erfährt man immer wieder "unwahrscheinlich wahre Geschichten". Würde man so eine Geschichte als fiktiven Stoff anbieten, die Verleger würden vermutlich sagen: "Also komm, das ist ja wohl mächtig übertrieben und klingt viel zu ausgedacht."

Am Erker: In Ihrer bislang letzten Buchveröffentlichung geht es um Tiere. Sind Sie ein Tierfreund? Oder wie ist die Idee entstanden, Hackes Tierleben zu schreiben?

Axel Hacke: Also, ich bin im praktischen Leben kein Tierfreund, besitze kein Haustier und sehne mich auch nicht danach. Aber ich habe in vielen "Streiflichtern" über Tiere geschrieben. Auf dieser Ebene habe ich angefangen, mich dafür zu interessieren, Brehm oder andere Tierbuchautoren zu lesen. Nach und nach hat sich bei mir eine kleine tierkundliche Bibliothek angesammelt. Im SZ-Magazin hatte ich eine Kolumne, die sich mit jeweils einem Tier beschäftigte. Diese Kolumne bildet den Grundstock zu Hackes Tierleben. Das war eine herrliche Spielerei. Wenn man über Tiere schreibt, geht es fast immer um menschliche Belange. Die Sichtweise, mit der wir Tieren begegnen, ist stark davon geprägt. Deshalb stehen in meinem Buch die menschlichen Gefühle im Mittelpunkt. Was interpretiert man in Elefanten, Krokodile, hässliche Hyänen oder in den unscheinbaren Kakerlak hinein? Darüber nachzusinnen und zu schreiben, das hat mir selber sehr viel Spaß gemacht.

Am Erker: Auch in diesen Texten spürt man das Zusammentreffen von journalistischer Recherche und dichterischer Erfindung. Gibt es dafür eine bestimmte Technik, einen Stil?

Axel Hacke: Ich habe für solche Texte schon eine bestimmte Form entwickelt. Da ist eine Menge Routine dabei; es ist ja eine Arbeit, die ich täglich mache. Die Vorgehensweise ist durchaus journalistisch: Ich habe ein Thema, suche mir dazu so viel Material, wie ich finden kann. Und mit dem, was mich interessiert, fange ich an zu jonglieren, versuche, es in eine knappe Form zu bringen und es möglichst flüssig zu gestalten. Leichtigkeit ist dabei mein größtes Ziel, am Ende soll der kurze Text so elegant wie möglich sein. Natürlich soll er Gewicht haben, aber der Leser darf es nicht spüren. Insofern kommt da eine Mischung aus Routine und Experiment zum Tragen, die ich gar nicht richtig auflösen kann.

Am Erker: Würden Sie sich als Grenzgänger bezeichnen?

Axel Hacke: Ich hatte in den letzten Jahren durchaus mal den Impetus, mir zu sagen: "Du hast Erfolg mit den Büchern. Willst du nicht doch den Journalismus drangeben und dich nur noch aufs Bücherschreiben konzentrieren?" Um mir darüber klar zu werden, habe ich eine Pause eingelegt und für ein halbes Jahr unbezahlten Urlaub genommen. In dieser Zeit habe ich gemerkt, dass es etwas völlig Neues für mich ist, nur noch Bücher zu schreiben und dass ich noch einiges dazulernen muss. Ich habe es vorerst auf Eis gelegt. Irgendwie liegt mir dieser Wechsel, den die journalistische Arbeit mir bietet: angeregt zu werden durch die Geschichten, denen ich als Journalist begegne. Der Mensch, der ausschließlich als Schriftsteller arbeitet, der jeden Morgen in sein Arbeitszimmer geht und dort über Jahre mit seinen Figuren zusammenlebt, ich glaube, das ist momentan nicht das Richtige für mich. Vielleicht tut mir die kleine Form ganz gut. Jedenfalls bin ich immer froh, wenn ich morgens etwas angefangen habe und es noch am gleichen Abend fertig geworden ist.