Wilhelm Genazino
Am Erker 21, Münster, Herbst 1989 - auch als Download im doc-Format zu lesen.
"Die Hälfte der Menschheit besteht aus Sachbearbeitern"
: Ihre Abschaffel-Trilogie
thematisiert die Angestelltenwelt in den siebziger Jahren. Wie
sind Sie auf dieses Sujet gekommen?
: Die Figur des Angestellten
Abschaffel tauchte Mitte der siebziger Jahre auf. Ich wollte gerne
wieder schreiben, nachdem ich lange Zeit als Redakteur gearbeitet
hatte. Ich habe mich gefragt: Wovon weiß ich etwas? Ich
wollte nichts erfinden und dachte, es ist das Beste, wenn ich
das ernst nehme, was um mich herum passiert. Ich habe mir überlegt:
Was machen die Leute, die ihre Arbeit ausführen, die in ihren
Büros sitzen, morgens ankommen und mittags in irgendwelchen merkwürdigen
Kantinen hocken und abends wieder nach Hause gehen? Einiges wusste
ich schon aus eigenen Erfahrungen, weil ich ja selbst in Büros
gearbeitet hatte. Als ich den Plan gefasst hatte, einen Angestelltenroman
zu schreiben, habe ich natürlich bewusster beobachtet und
Material gesammelt. Zunächst schrieb ich viele Probestücke,
wobei sich langsam eine Figur herauskristallisierte. Das Entscheidende
war, dass ich den Stoff nicht irgendwo gesucht habe. Es ist ja
heute gang und gäbe, dass der Autor sich überlegt, was
kann ich denn schreiben, und dann sucht er beispielsweise nach
Stoffen aus dem siebzehnten Jahrhundert. Ich wollte das Hier und Heute,
das sich Aufdrängende. Ich verstand mich als zeitgenössischer
Autor, nicht als ein Stoffhuber, der guckt, ob man aus dem Parfüm
oder der Weltumsegelung irgendein dolles Buch machen kann.
: Der erste Abschaffel-Roman
beginnt mit dem Satz: "Weil seine Lage unabänderlich
war, mußte Abschaffel arbeiten." Damit wird er als abhängig
Beschäftigter eingeführt. Und das ist auch wichtig für
die ganze Geschichte. Aber die Frage des Klassenkampfes scheint
in der Bürowelt kaum eine Rolle zu spielen. Es geht vielmehr um alltäglichere
Probleme wie Argwohn, Misstrauen, Langeweile, Sexualität.
: Es kommt darauf an, nach
welcher Methode man atomisiert. Das Klassenkampfproblem ist nicht
drin, und zugleich ist es doch enthalten. Wie Sie wissen, erledigt
sich für Marx das Mittelschichtproblem von selbst, indem
das Kleinbürgertum zwischen den Klassen zerrieben wird. Aber
das Kleinbürgertum ist die erfolgreichste Klasse in der Geschichte
geworden. Die Art und Weise, wie die Kleinbürger heute herrschen
und zugleich natürlich auch das Opfer ihrer komischen Herrschaft
sind, davon handeln meine Angestelltenromane. Für mich ist
das ein dichtes Gewebe, das man sozusagen schichtenspezifisch
beschreiben kann. Es ist die Schicht des Kleinbürgertums,
wie sie sich im 20. Jahrhundert notwendigerweise entwickeln musste,
vor allem in den Zentren des tertiären Bereiches, etwa in
den großen Städten, die ja Bürostädte sind. Es
gibt hier in Frankfurt einen Vorort, der heißt Bürostadt.
Solche Orte gibt es auch woanders, nur heißen sie dort nicht
so. Hier in Frankfurt ist eben alles ein bisschen krasser. Wenn
Sie auf der Autobahn fahren und die Türme sehen, das sind
lauter Büros.
: Abschaffel verhält sich
nicht wie ein 'typischer Angestellter'. Er guckt zum
Beispiel nie Fernsehen, und er unterhält sich auch nicht
mit seinen Kollegen darüber.
: Das ist eine, wenn auch winzige
lndividuationsmöglichkeit, mit der sich Abschaffel von den
anderen Angestellten absetzen kann. Da ist er anders als diejenigen,
mit denen er arbeiten muss. Das ist ja auch einer der Gründe für
diese dauernde Verspottung, für diese Überheblichkeit
den anderen gegenüber. Abschaffel nimmt Dinge wahr, die seine
Spottlust provozieren. Das bereitet ihm doch das größte
Vergnügen. Er möchte sich unterhalten, und zwar auf
eine abfällige Art.
: Die ja auch komisch ist.
: Natürlich, die ist komisch
für den Leser, weil der Leser die Differenz nicht mitmacht, die
Abschaffel aufbaut. Für den Leser ist Abschaffel einer von
den vielen, von denen er sich abgrenzen will. Und dieses komische
Gehabe, das vollkommen künstlich ist, bricht für den
Leser zusammen. Schließlich ist Abschaffel repräsentativ
für die Bürowelt. Er ist der 'Phänotyp der
Stunde', wenigstens in den hiesigen Bürogesellschaften;
eigentlich sind es ja keine Industriegesellschaften, ich nenne
sie lieber Bürogesellschaften. Die Kliniken sind voll von
diesen Typen, was kein Zufall ist. Es ist ja dort kein Förster,
der an einem Hexenschuss leidet, oder ein Pilot, der ein merkwürdiges
Furunkel hat, oder ein Schornsteinfeger, sondern es sind andere
Angestellte, Bank- und Versicherungskaufleute, Stenotypistinnen
und Sachbearbeiter. Dieses ominöse Wort "Sachbearbeiter"!
Die Hälfte der Menschheit besteht aus Sachbearbeitern!
: In dem Zusammenhang fallen
mir auch die Geschichten ein, die sich Abschaffel ausdenkt. Macht
er das, um sich von seiner Umwelt abzugrenzen, um sich zu orientieren?
: Grundsätzlich muss ich
dazu sagen, dass ich die Romanfigur kaum besser kenne als Sie.
Das ist auch für mich eine Romanfigur. Ich muss genauso kombinieren
oder nach Stellen suchen, die entweder das eine oder das andere
belegen können. Spontan fällt mir jetzt dazu ein, wie
Abschaffel davon erzählt, dass er als Kind die Frage seiner
Mutter, wie es denn gewesen wäre, was er so erlebt hat, nicht
beantworten kann. Er kann überhaupt nicht sagen, was er erlebt
hat, und muss etwas erfinden. Das ist die Erfahrungslosigkeit
im Benjaminschen Sinn. Weil Abschaffe! nicht weiß, was
ihm wirklich zugestoßen ist, erfindet er Geschichten. Und
das, was er wirklich erlebt hat, ist zu wenig repräsentativ
und mit zu viel Scham behaftet. Es ist nach den herrschenden Normen
wenig attraktiv, und er geniert sich.
: In Ihrem neuen Roman Der
Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz haben Sie sich vom
Sujet der Arbeitswelt verabschiedet. Wie kam es dazu?
: Nach dem Roman Fremde
Kämpfe fühlte ich ein gewisses Unbehagen am realistischen
Roman, der ja bekanntermaßen in einer Krise steckt, aus
der er wahrscheinlich nicht mehr herausfinden wird. Aber diese
Erfahrung musste ich wie jeder Schreibende selber machen. Und
wenn man diese Schwierigkeiten ernst nimmt, dann muss man nach
anderen Formen suchen, man muss überhaupt die gesamte Organisation
eines Buches ändern. Ich war lange ratlos und wusste nicht,
wie ich weitermachen konnte. Aber dann hat sich der neue Roman
ohne meine besondere Beförderung so langsam von selbst ergeben.
Ich habe angefangen, kurze Stücke zu schreiben, wobei ich
zunächst gar nicht wusste, was das zu bedeuten hatte. Nach
einiger Zeit merkte ich, dass sich da etwas Neues anbahnte. Ich
nahm die Sache wieder sehr ernst, und dann war es eigentlich schon
geschehen. In dem Roman Fremde Kämpfe deutet sich
diese Umorientierung ja schon an. Dieser Roman steht zwar noch
in der Tradition der Abschaffel-Trilogie. Aber es gibt
schon pointillistische, stimmungsmalerische Teile, wie zum Beispiel
diese Szene, wo Peschek im Park sitzt, Gastarbeiter mit ihren
Radios beobachtet oder ein Flugzeug am Himmel, solche Passagen
könnte man auch in das neue Buch übernehmen. Es beunruhigt
einen, wenn ein Buch stilistisch in zwei Hälften auseinanderfällt,
wenn man das, was war, und das, was kommen wird, nicht richtig
miteinander verschmelzen kann, wenn man als Autor nicht weiß,
was da eigentlich passiert.
: Der Titel Der Fleck, die
Jacke, die Zimmer, der Schmerz ist im Vergleich zu Ihren anderen
Romantiteln nicht gerade prägnant und nur schwer im Kopf
zu behalten.
: Dass der Titel nicht reingeht
wie ein Lungenzug, sondern dass man ihn genauer anschauen muss,
ist mir sehr sympathisch. Mit einer solchen vergewissernden Tätigkeit
ist man eigentlich schon im Roman drin und nimmt die Haltung des
Protagonisten W. ein. Vergewisserung, Aneignung, Anteilnahme,
das sind Dinge, die bereits mit dem Titel angedeutet werden. Ich
wollte auf keinen Fall so einen harmonisierenden, verdichtenden,
typischen Romantitel haben. Ich wollte einen Titel, der vom Leser
die Bewegung des Romans fordert.
: Der Verlag hatte keine werbestrategischen
Einwände gegen den untypischen Titel?
: Nein, so etwas muss ein Verlag
akzeptieren. Ein Verlag ist ja keine Hosenknopffabrik. Und mir
ist von vornherein klar, dass das Buch nie auf einer Bestsellerliste
auftauchen wird. Das Buch ist eher ein Plädoyer für das Verschwiegene,
für das Verborgene, und wenn ein solches Buch in einer Bestsellerliste
auftauchen würde, das wäre geradezu grotesk.
: Hat das Buch nicht eine kulturpessimistische
Tendenz? Ich denke an die Stelle, wo sich Straßenlärm mit
der Musik einer futuristischen Oper mischt und W. keinen Unterschied
feststellen kann.
: Ich denke nicht, dass die
Figur kulturpessimistisch eingestellt ist. Die Stelle, die Sie
anführen, meint etwas ganz anderes. Der ganze Bereich der
Populärkultur ist überhaupt nicht mehr verdichtet, abstrahiert
nicht von seinem Material, er ist häufig noch gar keine Kunst
geworden. Das geht heutzutage oft viel zu schnell. Opern und Ballette
und Ähnliches werden in einem riesigen Tempo aus dem Erdboden gestampft
und auf Kulturfesten ausgebreitet. Es gibt ja eine Inflation von
Kulturfestivals. Was dort dargeboten wird, ist oft noch nicht
ausgereifte Kunst. Es wird schnell produziert, schnell dargeboten
und ebenso schnell wieder vergessen. Ich meine, dass die Kunst
zu sehr an die Gesellschaftsmaschine angeschlossen ist und dass
sie daran möglicherweise krepiert. Sie wird von den Leuten,
die dauernd in die Opern und Festspiele rennen, als Kompensationsmittel
gebraucht.
: Im Gegenzug zum "kulturellen
Rummel" versuchen W. und Gesa, die Kunst zu reprivatisieren.
Entsteht durch die Reprivatisierung nicht auch eine Reauratisierung
der Kunst - nach dem Motto: Ich schaue mir keine Reproduktionen,
sondern nur Originale an? Steckt nicht auch ein bisschen Arroganz
in so einer Haltung?
: Eine Reauratisierung ist
natürlich nicht mehr möglich. Aber die Wahrnehmung der
Unmöglichkeit oder der Versuch, das Scheitern durchzuspielen,
ist eine moderne Art, etwas von dem Verlorenen wiederaufleben
zu lassen. Was ist daran arrogant, wenn man auf einer bestimmten
Erfahrung besteht, die, wenn sie unmöglich gemacht wird,
eine Enttäuschung oder Schmerz verursacht? Ich denke nicht,
dass das Subjekt nur deswegen etwas vergessen soll, weil es praktisch
oder aus organisatorischen Gründen zur Zeit gerade nicht
möglich ist. Das wäre der Sieg der falschen Vernunft,
dass man sich die eigenen inneren Erfahrungen vom Munde abspart,
nur weil sie sozusagen nicht mehr zugänglich sind. Das halte
ich allerdings für eine Folge der längst eingetretenen Beherrschung
der subjektiven Erfahrungen durch die instrumentelle Vernunft.
Wir trauen uns ja kaum noch zu subjektiven Erfahrungen, weil wir
nicht gegen Mehrheiten sein wollen.
: W. behauptet in Bezug auf
Kafka, Schreiben allein genüge nicht, man müsse vielmehr
auch Künstler sein. Wie entfaltet man denn ein Selbstbewusstsein
als Künstler?
: Kafka konnte nicht Künstler
oder Schriftsteller sein, weil er versäumt hat, offensiv
seine Künstlerschaft zu leben, anstatt immer in der Defensive,
in der Schuldverstrickung seinem Vater oder wem auch immer gegenüber
stecken zu bleiben. W. und seine Freundin versuchen, wenn auch
in der Verborgenheit und in größter Schutzbedürftigkeit,
die künstlerische Perspektive sozusagen als wirklich und
offensiv auf die Welt zu bringen, anstatt sich zu verstecken oder
durch selbstauferlegte Beschränkungen das Leben schwer zu
machen. Sie versuchen, die Künstlerschaft als eine praktische,
offensive Lebensmöglichkeit durchzusetzen. Darin besteht
ja das Appellative des Romans. Mir fällt dazu zum Beispiel
die Geschichte mit dem Kind ein, das seinen Eltern gefallen möchte.
Wenn das Kind nicht irgendwann aufhört damit, wenn es immer
und ewig seinen Eltern gefallen will, besteht die Gefahr des Kafka-Syndroms:
dass man nicht offensiv die Welt erobern kann mit seinen eigenen
Wahrnehmungen, mit seinen eigenen Kombinationen und Erfindungen,
wenn man sich ständig dem Zwang der Legitimation aussetzt.
: Sie meinen also, dass es
den autonomen Künstler geben kann?
: Ich denke, ja. Es genügt,
wenn der Künster den Anspruch vor sich selber hat, wenn er
diesen Anspruch ernst nimmt und lebt. Das muss von der Gesellschaft
nicht legitimiert werden. Das ist vielleicht ein entscheidender
Punkt, der für viele noch immer mit der Figur des Künstlers
verbunden ist: das zwanghafte Bedürfnis nach gesellschaftlicher
Anerkennung. Ich mache darauf aufmerksam, dass der Künstler
schon immer ein Einzelgänger war und dass er erst nach langer
Einzelgängerei irgendwann mal von der Gesellschaft entdeckt
wird. Das ist immer noch früh genug. Heute haben sich durch
die Vernetzung von Kunst und Gesellschaft die Verhältnisse
fast gedreht. Ein junger Künstler denkt heute zuerst ans
Publikum. Das ist total verkehrt. Bei Celan heißt es: "Geh
mit der Kunst in deine eigenste Enge." Dort passiert's.
Dort muss es lange passieren, ehe der Künstler auf eine Form
gestoßen ist, auf etwas, das ihm eigen ist, was er herüberbringen
kann. Er muss es aushalten, ohne Rechtfertigung zu sein als Künstler.
Er muss ertragen, dass er nicht weiß, für wen die Werke
letztlich da sind, und dass er nicht weiß, woraus er schöpft.
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