Am Erker 89

Carsten Stephan: Gulaschfuturismus

Marc Degens: Verführung der Unschuldigenn

 
Fritz Müller-Zech 89
Die Kolumne
 

Ich blicke ins Nichts. Kein Wunder, denn draußen ist es finster. Die Straßenlampe, deren Schein bislang meinen Hauseingang beleuchtete, scheint ausgefallen zu sein. Es ist natürlich auch möglich, dass die Stadtwerke als Sparmaßnahme nur noch jede zweite Laterne in unserer Wohnsiedlung mit Strom versorgen. Mich stört das nicht. Die Dunkelheit hilft beim Nachdenken. Sollte man zumindest meinen. Aber was nützen solche hilflos romantischen Vorstellungen. Ich blicke ins Nichts und denke an nichts. Wie schön wäre es, wenn nun zumindest die Literatur hülfe. Doch auf das Geschriebene ist kein Verlass mehr. Der hübsche Konjunktiv II steht hier nicht umsonst. Und mehr als Überdruss habe ich heute nicht im Angebot.
Dabei hatte der Abend so gut angefangen. Die Gedichte des begnadeten Reimkünstlers Carsten Stephan, geboren in Dessau, wohnhaft in Frankfurt am Main, hatten mich in eine fast ausgelassene Stimmung versetzt. Laut las ich mir die Moritat vom "Arschgeweihentferner Atze" vor, deklamierte die klassiksatten Verse über den "Wasserschadenprofi Becker" und bewunderte das astrein verleimte Sonett vom "Extrembergsteiger Ruedi Sutter". Komik kommt von Können, möchte man begeistert stabreimen angesichts der Mühelosigkeit, mit der Carsten Stephan expressionistisch gefärbtes Sprachgut und Stasi-Bürokratendeutsch zusammenführt: "Halbe Augenbrauen lallen. / In der Kammer klirrt der Sekt. / Sind die Würfel erst gefallen, / Herrscht auch Ruhe im Objekt." Das heitert auf, und fast möchte ich den vollständig erlogenen ersten Abschnitt dieser Kolumne löschen. Was ich selbstverständlich nicht tun werde. Schließlich kann ich die dort verbreitete dunkle Stimmung für den Abschluss meiner zweiten Buchempfehlung gut gebrauchen.
Vor vielen Jahren erklärte ich an dieser Stelle, keinen Roman mehr lesen zu wollen, in dem junge Menschen aus der Provinz in Berliner Abbruchhäusern selbstgedrehte Zigaretten rauchen. Inzwischen hat sich das Problem erledigt. Die Häuser sind luxussaniert, und ihre Bewohner haben genug geerbt, um sie sich leisten zu können. Das Rauchen haben sie längst aufgegeben. Dafür trinken sie umso mehr. Romantauglich ist dieses Leben allemal. Aber will ich davon lesen? Zumal ich mir die passenden Geschichten auch gut selbst ausdenken könnte. Wenn ich also nun einen mehr als 500 Seiten starken Roman empfehle, der von Begebenheiten in einer studentischen Wohngemeinschaft Mitte der 2010er Jahre handelt, braucht es eine gute Begründung. Aber die ist ganz einfach: Verführung der Unschuldigen von Marc Degens erzählt auf einmalige Weise von einer Erfahrung, die kaum einem künstlerisch ambitionierten jungen Menschen erspart bleibt, nämlich vom Verlust der Illusionen. Das heißt, der Autor lässt seine Hauptprotagonistin und Identifikationsfigur Marthe selbst berichten, was ihr widerfährt, nachdem sie im Herbst 2015 aus einer münsterländischen Kleinstadt nach Essen gezogen ist, um Comic-Kunst zu studieren. Unterkunft findet sie in einer WG mit angeschlossenem Kleinverlag. Fröhlicher Dilettantismus par excellence, der mich natürlich an die frühen Jahre dieser Zeitschrift erinnert. Mit dem Unterschied, dass es nicht um Literatur im herkömmlichen Sinne geht, sondern um grafisches Erzählen, um Comics. Und es spricht für den Roman, dass sogar jemand wie ich, dem der Reiz dieser Kunstform bislang verschlossen geblieben ist, das Tun und Treiben seiner Figuren mit großem Vergnügen beobachtet. Obwohl (oder gerade weil) diese sich, zumindest was die ersten 150 Seiten angeht, vor allem mit den Dingen beschäftigen, die man von Menschen dieses Alters erwartet: Feiern, Drogen, Sex. Viel geredet wird obendrein. Alltag pur also, im Präsens erzählt und seltsamerweise überhaupt nicht langweilig. Dann kommt der Erfolg, allerdings auf unerwartete Weise: Ein Comic-Zeichner im Teenageralter hat sich für sein hochgelobtes Debüt offenbar bei einem Buch aus dem Essener Kleinverlag bedient. Der Plagiatsstreit macht Schlagzeilen. Und plötzlich ist nichts mehr wie vorher. Es wird brutal und geschäftlich. Das verändert auch die Gestalt des Textes, in dem nun fiktive Anwaltsschreiben, Rezensionen und Blog-Einträge auftauchen. Bis auf die Comicfiguren, so die Vorbemerkung des Autors, sei alles erfunden. Von den Figuren bis zu den zitierten Medien. Wer über ein langes Gedächtnis verfügt, wird sich allerdings an einen vergleichbaren Fall erinnern, der 2010 den Literaturbetrieb für einige Zeit beschäftigte, heute aber vergessen ist. Marc Degens' ebenso lehrreichem wie unterhaltsamem Roman wird es hoffentlich anders ergehen. Allein schon seines wunderbaren Titels wegen, der auf ein einflussreiches Buch des deutsch-amerikanischen Psychiaters Fredric Wertham aus dem Jahre 1954 anspielt. Seduction of the Innocent warnte vor dem brandgefährlichen Einfluss von Comics auf Heranwachsende. Drastische Zensurmaßnahmen waren die Folge. Und dass ich als Kind keine Comic-Hefte lesen durfte, vielleicht auch. Was mich geradewegs in die Arme der Literatur trieb. Mit den bekannten Folgen. Aber nun ist es zu spät. Und ich blicke ins Nichts.

 

Carsten Stephan: Gulaschfuturismus. Gedichte. 102 Seiten. Container Press. Walheim 2025. € 12,00.

Marc Degens: Verführung der Unschuldigen. Roman. 549 Seiten. Ventil. Mainz 2025. € 32,00.